Visions du Réel: Die Utopie im Teebeutel

Nr. 15 –

Nach dem Kampf ist vor dem Krampf: Bei der 50. Ausgabe der Visions du Réel in Nyon träumen neue Dokumentarfilme von alten Revolten – und suchen die Hoffnung in allen Aromen.

Blinkender Dekobaum in der Wellnesslounge: «Passion» ist dort am stärksten, wo er den globalen Kapitalismus als surreale Geisterbahn zeigt. Still: Look Now

Wer laut genug reklamiert, wird manchmal mit einem Upgrade belohnt, so läuft das offenbar auch im Festivalbetrieb. Wenn jemand es irgendwo nicht ins Programm schafft, wird das in der Regel tunlichst verschwiegen. Nicht so beim neuen Film von Christian Labhart: Die Absage von den Solothurner Filmtagen wurde mit einer Protestnote aus der Branche quittiert, etwas medialer Aufruhr mit unschönen Schlagzeilen inbegriffen.

Statt an der Werkschau des hiesigen Schaffens lief «Passion» jetzt, etwas prestigeträchtiger, an den Visions du Réel in Nyon, als einziger Schweizer Film im internationalen Wettbewerb. Und ja, in Solothurn wäre er besser aufgehoben gewesen. Labhart wagt sich hier an eine persönlich gefärbte Bilanz seiner Generation: Was ist übrig von den Utopien von 1968? Vignetten aus unserer hyperkapitalistischen Gegenwart lädt er mit Texten von so disparaten Gewährsleuten wie Franz Kafka, Ulrike Meinhof oder Slavoj Žižek auf; dazwischen rekapituliert der Regisseur sehr summarisch seine Biografie von den Globus-Krawallen bis zur Frage, ob er nun auch ein Spiesser geworden sei. Und wenn der Film nicht weiterweiss, sehen wir Philippe Herreweghe bei Proben zur Matthäus-Passion.

Die Ratlosigkeit angesichts des Zustands der Welt, so könnte man sagen, schlägt hier auch auf die Form durch. Und auf dem schmalen Grat zwischen dem Persönlichen und der Selbstbezogenheit kippt «Passion» allzu oft auf die falsche Seite. «Unsere Ideale sind nicht so leicht umzusetzen», heisst es über den Versuch, im Kollektiv einen Bauernhof zu bewirtschaften. Aber warum? Wir erfahren es nicht, weil Labhart sich lieber dem Weltgeschehen entlanghangelt, statt irgendwo tiefer zu gehen. Ironischerweise entwickelt sein Film mehr Kraft im Unpersönlichen: in den manchmal gespenstischen, oft absurden Impressionen, in denen die Kameramänner Pio Corradi und Simon Guy Fässler unsere Zeit verdichten. Vom blinkenden Dekobaum in einer Wellnesslounge bis zur Skihalle in Dubai zeigt sich der globale Kapitalismus als surreale Geisterbahn.

Nach dem Triumph

«Zwischen Resignation und Revolte», so heisst Labharts Film im Untertitel. Wer sich da eine dritte Kraft zwischen diesen beiden Polen wünschte, fand diese im Schweizer Wettbewerb, in Laura Coppens’ Film «Taste of Hope». Und die Hoffnung schmeckt hier nach: Tee, in allen möglichen Aromen.

1336: Stolz prangt diese Zahl auf den Teeschachteln, sie erinnert an einen erfolgreichen Arbeitskampf. 2010 hatte der niederländische Konzern Unilever angekündigt, eine Teefabrik in der Nähe von Marseille zu schliessen, um die Produktion nach Polen auszulagern. Das Personal wehrte sich, besetzte die Fabrik. 1336 Tage hielten die Leute durch und liessen sich auch nicht mit Geld abspeisen. Sie wollten keine Abfindungen, sondern ihre Arbeit behalten.

Der Widerstand machte landesweit Schlagzeilen, es gibt auch schon den einen oder anderen Dokumentarfilm über den Kampf des Fabrikpersonals, das den Betrieb schliesslich als Kooperative weiterführen konnte. Laura Coppens aber wollte wissen, was nach dem Triumph passiert, dann, wenn das mediale Interesse wieder abgeklungen ist: am Fliessband, in den Büros, aber auch in den Vollversammlungen im Sitzungszimmer «Castro».

«Taste of Hope» ist ein Film über die Tücken der Selbstverwaltung und die Widersprüche einer genossenschaftlich organisierten Fabrik, die sich auf dem Markt der Grossverteiler mit ihren Produkten dann doch gegen internationale Konkurrenz behaupten muss. Wie kommt ein solcher Organismus voran, wenn es kein Kader mehr gibt? Nur schon das Marketing: Sollen sie jemanden von extern damit betrauen, oder können sie das auch selber? Der Kampf um die Fabrik war zwar national bekannt, aber ihre Produkte sind es nicht. Sollen sie also die Zahl «1336» etwas kleiner auf die Schachteln drucken, oder würden sie damit ihre Geschichte verraten?

Molenbeek von unten

Wie ein Film für eine sentimentale Schlussszene unfreiwillig seine politische Haltung verkauft, das konnte man in Nyon zum Auftakt des Festivals erleben, im Eröffnungsfilm «Gods of Molenbeek». Reetta Huhtanen will darin jenes Stadtquartier in Brüssel rehabilitieren, das nach den Anschlägen im März 2016 mancherorts zur Brutstätte islamistischen Terrors stilisiert wurde. Huhtanen zeigt Molenbeek buchstäblich von unten, nämlich aus der Perspektive zweier kleiner Buben: Aatos, der Neffe der finnischen Regisseurin, und sein muslimischer Freund Amin.

Vor dem Hintergrund der Anschläge frisiert der Film die beiden Buben zu herzigen Posterboys eines multikulturellen Miteinanders. Manchmal streiten sie um ihre Götter, manchmal um ein Trottinett. Und überhaupt wäre ja alles viel einfacher, wenn wir den interreligiösen Dialog so unbeschwert führen würden wie diese Kinder, für die ausrangierte Götter wie Hermes oder Poseidon vor allem ein schöner Anlass sind, sich zu verkleiden.

Am Ende zieht Aatos dann doch weg, in die Heimat seiner Mutter. Das ergibt zwar ein ergreifendes Schlussbild, wenn die beiden Spielgefährten unter Tränen voneinander getrennt werden. Aber was transportiert der Film hier? Die kulturelle Vielfalt, die er predigte, mündet in eine soziale Separierung: Der Muslimjunge bleibt in Molenbeek, der andere wird in Finnland auf die Steinerschule gehen.

«Passion» läuft ab 18. April 2019 im Kino. Podium zum Film: Freitag, 12. April 2019, 20 Uhr, Volkshaus, Zürich. Mit Tamara Funiciello, Jonas Kampus, Gian Trepp und Regisseur Christian Labhart.