«weg»: Eltern in der Pubertät

Nr. 29 –

Wenn man auf der Suche nach der verschwundenen Tochter zuerst die eigene Midlife-Krise findet: Willkommen im furios erzählten Universum von Doris Knecht.

«Bring mich heim!, bring mich ins Hotel!, ich halte das nicht aus!» Der Roadtrip durch Vietnam als Kulisse für die Lebenskrise zweier Menschen Anfang fünfzig. Foto: David R. Frazier, Alamy

«Wie man auf einem Moped fahren kann: …» Manchmal ist sie gleich mit dem Auftakt wieder da, die Beziehung, die man früher zu einer Autorin aufgebaut hat. In unserem Fall war es eine biografische, denn als Doris Knecht in ihrer Kolumne mit dem Kugel- und dem Würfelmimi schwanger ging, wölbte sich auch mein Bauch. Jetzt, mehr als sechzehn Jahre später, lösen die ersten Sätze von «weg» ein Flashback in den vergangenen Sommer aus, als mir Menschen in den verschiedensten Stapelformationen auf Mofas um die Ohren brausten. In Ho-Chi-Minh-Stadt in Vietnam.

Dahin ist auch Lotte abgehauen. Aber das erfahren Heidi und Georg, ihre Eltern, die schon längst getrennt und in andern Beziehungen leben, erst auf Seite 100. Davor ist Lotte erst mal einfach verschwunden. Und Heidi und Georg machen sich Sorgen um ihre 23-jährige Tochter. Was im Fall von Heidi sozusagen ein wiederaufflammender Dauerzustand ist – denn ihr Kind machte nicht einfach eine «Extrempubertät» durch, mit dem Kiffen kam auch die Psychose. Jahrelang sang Heidi «jeden aufkeimenden Zweifel mit ihrem Alles-wird-gut-man-muss-es-nur-wollen-Schlaflied in ein dumpfes Koma, aus dem es nun wieder aufgewacht ist». Georg hingegen hasst dieses Gefühl, hatte er doch stets «ein Vertrauen in die Zuverlässigkeit der Unstetheit, das Heidi nicht nur fehlte: Sie verstand, könnte man sagen, die Frage nicht einmal.»

Reine Nervensache

Jetzt also zwingt sie das Verschwinden ihrer Tochter – gezeugt bei einem Mofaausflug übrigens – auf eine gemeinsame Spurensuche nach Südostasien. Und damit aus ihren je eigenen Familienleben, in denen sich beide längst neu eingenistet haben. Während Heidi mit der kleinen Lotte aus Wien zurück nach Rebenborn ins Kleinstadtidyll ihrer Kindheit zog und sich dort mit Martin und dem gemeinsamen Sohn im Einfamilienhäuschen einen sicheren Hafen schuf, hat Georg den Landgasthof seiner Eltern im Waldviertel übernommen, den er zusammen mit seiner Frau Lea und den Söhnen führt. Und ja, auch Georgs Mutter lebt noch dort, die mit ihrem «Signature-Leiden» – sie schläft schlecht – eine «passiv-aggressive Mitleidsmasche» ausspielt, mit der sie bei Georg zuverlässig «diesen Nerv, der bei allen anderen unempfindlich bleibt, immer wieder erwischt, mit dem Mutterskalpell».

Diesen Nerv triggert auch Heidi zuverlässig gleich als Erstes, als sie sich im Hotel in Ho-Chi-Minh-Stadt treffen: «Du rauchst immer noch?» – «Schon die Frage. Genau das mag er an ihr nicht. Sie ist wie seine Mutter. Das kann ja toll werden. Und er reagiert auf sie genau wie auf seine Mutter: ‹Ich rauche immer noch, ja.› Er könnte sofort mit ihr streiten. Er möchte sofort mit ihr streiten.»

Nicht zum letzten Mal. Wenig später steht Heidi fünfzehn Minuten lang mit über Mund und Nase gepresstem Taschentuch vor Angst paralysiert ob der dahinbrausenden Flut an Motorrädern am Strassenrand. Und als Georg es endlich geschafft hat, sie auf die andere Seite zu manövrieren, starrt sie ihn an, «mit weit aufgerissenen, angstvollen Kinderaugen: Ich kriege keine Luft, ich kann nicht atmen, ich kriege keine Luft! Oh fuck, dachte Georg. Und Heidi röchelte, halb erstickt, im Kameliendamenmodus, quasi bereit, sofort abzunippeln: Bring mich heim!, bring mich ins Hotel!, ich halte das nicht aus! Ich auch nicht, dachte Georg, Herrgott, ich auch nicht.»

Rasant, witzig, unsentimental

Spätestens an dieser Stelle ahnt man: Dass Doris Knecht die beiden auf einen Roadtrip quer durch Vietnam und Kambodscha schickt, dient nur als Vorwand, als Kulisse sozusagen, vor der sich die Lebenskrise zweier Menschen Anfang fünfzig entfaltet. Rasant erzählt, witzig, unsentimental. In ihrer Figurenzeichnung läuft Knecht zu Hochform auf – sie wagt viel, überzeichnet, typisiert und verfällt doch nie dem Stereotyp oder Klischee.

Denn Nebenfiguren wie Georgs Mutter oder Heidis Mann Martin – aber auch die verschwundene Tochter – dienen letztlich vor allem dazu, der Verfasstheit der beiden ProtagonistInnen weitere Facetten hinzuzufügen. Martin, der Exjournalist, der seinen Arbeitslosenfrust in sich hineinfrisst (was Heidi sich erst als «knubbelig und knuffig und kuschelig» schönredet) und plötzlich, mit dem PR-Job bei der Pharma, zu laufen beginnt, immer in- und extensiver, bis er sich im wahrsten Sinne des Wortes verdünnisiert. Heidi hingegen klammert sich an die Überzeugung, dass es «vielleicht ein bisschen Beziehungsarbeit brauchen» wird – «aber sie werden ein Paar im besten Alter sein, neu eingestellt, attraktiv, harmonisch».

Letztlich schickt Knecht vor allem Heidi, die stets «dünn und niedlich bleiben» wollte und ihre Niedlichkeit mit zunehmendem Alter als «Alleinstellungsmerkmal» kultiviert hat, nicht nur auf die Suche nach ihrer Tochter, sondern auch auf die Suche nach sich selbst. Was dabei herauskommt, sei natürlich nicht verraten – nur so viel: «Wie man auf einem Motorrad fährt: Kommt darauf an, wo man geboren wurde, wie man lebt und wer man ist.»

Doris Knecht: weg. Roman. Rowohlt Verlag. Berlin 2019. 304 Seiten. 34 Franken