Literatur: Zum Teufel mit den gefiederten Schablonen!

Nr. 36 –

Raus aus dem Reservat: Mit seinem furiosen Debütroman «Dort dort» entsorgt Tommy Orange das gesamte Arsenal der Indianerklischees.

«Wir haben die traurige, bezwungene Indianersilhouette vor Augen, die Köpfe, die Tempeltreppen hinunterrollen, Kevin Costner, der uns rettet, John Waynes Revolver, der uns niederstreckt, einen Italiener namens Iron Eyes Cody, der uns in Filmen spielt.» So schreibt Tommy Orange im Prolog zu seinem Roman «Dort dort». Auf dem Buchcover prangen unzählige Blutstropfen und eine blutrote Feder, denn Orange erzählt eine blutige Geschichte: «Von der obersten Spitze Kanadas und Alaskas bis hinab zum äussersten Ende Südamerikas wurden Indianer entfernt und auf ein gefiedertes Bild reduziert» – definiert von allen anderen und «als Volk nach wie vor verleumdet».

«Wir», das sind hier «Native Americans», «American Indians», «Native American Indians» oder «so indianische Indianer», dass sie entweder jeden Tag daran denken oder niemals. «Wir», das sind «Vollblut, Halbblut, Viertel, Achtel, Sechzehntel, Zweiunddreissigstel. Mathematisch nicht darstellbar. Ein unerheblicher Rest.» Auch Tommy Orange gehört diesem Wir an: Aufgewachsen ist der Autor in der kalifornischen Stadt Oakland, als Sohn einer weissen Mutter und eines Cheyenne-Arapaho-Vaters.

Gegen die Isolation

Als Jugendlicher war er mehr an Rollhockey als an Literatur interessiert. Durch einen Job als Verkäufer in einem Antiquariat wurde er zum leidenschaftlichen Leser. Er habe alle Klassiker gelesen ausser den amerikanischen, sagte Orange gegenüber dem Newsportal «BuzzFeed». Bücher bekannter zeitgenössischen Native Writers wie Sherman Alexie, die stets vom Leben im Reservat erzählen, verschmähte er. Sie seien Teil eines bestimmten Kanons: «Diese Bücher machten, dass ich mich isoliert fühlte, und gaben mir das Gefühl, deren Weg sei die einzige Möglichkeit, über Indianer zu schreiben.»

Er fand einen anderen. Nach einem Storytellingkurs am Institute of American Indian Arts in Santa Fe schrieb er den Roman fertig, den er schon lange zuvor begonnen hatte. Und als das Buch letztes Jahr in den USA erschien, wurde es sofort zum Bestseller. Von einer neuen Welle der «Native Literature» war die Rede, zu deren prominentesten VertreterInnen neben Orange Terese Marie Mailhot und Billy-Ray Belcourt gezählt werden. Neu an ihrer Literatur ist die Verankerung im urbanen Milieu, was auch die soziale Realität widerspiegelt: Sieben von zehn Native Americans leben mittlerweile in Städten. Neu sind auch die komplexen Figuren mit vielschichtigen Identitäten und Zugehörigkeiten.

Zwölf solche Figuren lässt Orange in «Dort dort» abwechselnd zu Wort kommen. Alle bereiten sie sich für einen «Powwow» in Oakland, vor – ein Treffen, bei dem Native People aus dem ganzen Land anreisen, um sich gemeinsam zu erinnern, zu plaudern, zu essen, zu trinken und zu tanzen. Da ist Blue, die Leiterin des Powwow-Komitees, die als Adoptivkind weisser Eltern in der Oberschicht aufgewachsen ist und immer wieder «rassistische Beleidigungen aus den Fünfzigern» mit nach Hause brachte. Da ist der Filmemacher Dene Oxende, der für ein Filmprojekt Geschichten von Native People sammelt. Da ist Tony Loneman, ein junger Drogendealer, dessen Gesicht seit seiner Geburt entstellt ist, weil seine Mutter alkoholkrank war, und der es auf die Powwow-Kasse abgesehen hat. Da ist Jacquie Red Feather, die als Teenager mit ihrer Mutter und ihrer Halbschwester bei der Besetzung der Insel Alcatraz durch Native Americans dabei war und dort von einem Jungen vergewaltigt wurde. Und da ist ihre Halbschwester Opal Viola Victoria Bears Shield, die Jacquies Enkel adoptiert hat, nachdem sich deren Tochter den goldenen Schuss gegeben hatte.

Schliesslich ist da noch der Trommelspieler Thomas Frank, Mutter weiss, Vater Cheyenne-Arapaho: «Du stammst von einem Volk ab, das nahm und nahm und nahm. Und von einem Volk, das genommen wurde. Du warst beides und keins», sagt Thomas, ein literarisches Alter Ego des Autors, zu sich selbst. Dieses Figurenkabinett dreht Tommy Orange nun immer schneller, und in schonungslos direkter und poetischer Sprache lässt er das Ganze auf eine Katastrophe hinauslaufen, die er schon zu Beginn angekündigt hat: «Die verirrten Kugeln und Konsequenzen schlagen auch heute noch in unsere arglosen Körper ein.»

Jubeln für die Cowboys

Sein Buch sei so vielstimmig, weil er aus einer stimmlosen Community komme, sagt Orange. Nun hat er selber seine Stimme gegen das schablonenhafte Bild des «Indianers» erhoben, das nichts mit der Realität dieser Menschen zu tun hat: «Der Abklatsch eines Abklatsches eines Bildes eines Indianers in einem Schulbuch.»

Erschaffen wurde dieses Bild in Tausenden von Hollywoodfilmen, von weissen Autoren und weissen Regisseuren, zudem hauptsächlich gespielt von Weissen. Neil Diamond hat das schon in seinem Dokumentarfilm «Reel Injun» (2009) gezeigt: «Als Kind jubelten wir an den von der Kirche organisierten Filmabenden jeweils für die Cowboys und realisierten nicht, dass wir selber die Indianer waren», erinnert er sich am Anfang des Films. Diamond wuchs in einem abgelegenen Reservat im Norden von Kanada auf, niemand trägt dort Federn oder reitet auf Pferden: «Doch wegen all dieser Filme glauben viele Menschen noch heute, dass wir das alle machen.»

Wie hartnäckig sich dieses Klischee bis heute in den Köpfen der Menschen hält, sieht man auch bei uns, wenn etwa die Migros auf ihrer Famigros-Website Tipps für die «perfekte Indianerparty» gibt: «Kleine Indianer ganz gross: Apachen und Sioux treten an zu Regentanz und zur Büffeljagd im Wilden Westen.» Um dieses Bild endgültig zu zerstören, braucht es Stimmen wie jene von Tommy Orange – gerade jetzt, da in den USA ein Präsident an der Macht ist, der Präsident Andrew Jackson (1767–1845) als sein grosses Vorbild nennt. Dieser hatte seinen Anhängern versprochen, die «Indianer» zu enteignen, und peitschte das Gesetz zur «Beseitigung der Indianer» durch den Kongress. Aber auch in den Medien wird der Mythos von den «mutigen Entdeckern» noch heute fröhlich weiter reproduziert, oft ohne deren Massaker auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

«Was haben wir denn ausser Reservatsgeschichten und den beschissenen Versionen aus den alten Geschichtsbüchern?», fragt sich der Filmemacher Dene Oxende in «Dort dort». Jetzt zum Beispiel diesen Roman: Wütend und selbstbewusst jagt Orange mit seinem Buch die vermeintliche «Indianer-Literatur» und die bekannten «Indianer-Verfilmungen» zum Teufel. Und holt sich so die Macht über die Erzählungen der Native Americans zurück.

Lesung: Zürich, Kaufleuten, Dienstag, 10. September 2019, 20 Uhr (auf Englisch).

Tommy Orange: Dort dort. Aus dem Englischen von Hannes Meyer. Hanser Berlin. München 2019. 34 Franken. 288 Seiten