Kommentar zur türkischen Invasion: Ein Krieg gegen Demokratie und Pluralismus

Nr. 42 –

Mit der Invasion in Nordsyrien bedroht das türkische Regime ein Projekt, das der Region hätte Frieden bringen können.

Nach ihren Toren gegen die albanische und die französische Auswahl posierten die Spieler der türkischen Fussballnationalmannschaft salutierend für die FotografInnen – ein martialischer Gruss an die «Operation Friedensquelle» ihres Landes in Nordsyrien. Der Jubel veranschaulicht die Kriegseuphorie, in der die Türkei dieser Tage taumelt. Erdogan hat das Land mit seiner autoritären Politik in einen antidemokratischen Ausnahmezustand geführt; die Militäroffensive ist die konsequente Weiterführung einer Politik, die nicht an diplomatischen Lösungen mit den KurdInnen interessiert ist. So hatte das Regime in den vergangenen Jahren kurdische BürgermeisterInnen des Amtes enthoben, Landstriche und Städte mit kurdischer Bevölkerungsmehrheit in militärische Sonderzonen verwandelt und Schlüsselfiguren der linken Oppositionspartei HDP weggesperrt.

Dabei hatte sich diese vom bewaffneten Kampf distanziert und für eine demokratische Lösung des Konflikts ausgesprochen. Erdogan aber unterstellte der HDP, verlängerter Arm der in der Türkei verbotenen PKK zu sein, und brach den Friedensprozess ab. Der Bruch erfolgte kurz nach den Wahlen 2015, bei denen die HDP mit achtzig Mandaten ins Parlament gezogen war – und damit die absolute parlamentarische Mehrheit von Erdogans AKP verunmöglichte.

Durch die Offensive in Nordsyrien nimmt er nun auch die restliche Öffentlichkeit in die Mangel; sie ist auch als Machtdemonstration nach innen zu verstehen. Die Botschaft lautet: Entweder ihr seid für oder gegen mich. Auch gegenüber der eigenen Gefolgschaft inszeniert sich Erdogan als starker Mann, der durchgreift. Dass er den Grossmächten die Stirn zu bieten scheint, ist nicht nur massenpsychologischer Balsam für die Seele National-Religiöser, sondern wird auch als Zeichen dafür gesehen, dass die Türkei wieder eine Grösse in der Weltpolitik ist, mit der man rechnen muss. An diese Erzählung knüpft auch Erdogans Drohung an, 3,6 Millionen Flüchtlinge in Richtung Europa passieren zu lassen: Er tut dies nicht, weil ihm die Solidaritätsbekundungen der europäischen Regierungen gegenüber den KurdInnen Sorgen bereiten oder er gar eine Intervention befürchten müsste. Sondern weil er weiss: Diese Rhetorik trifft einen Nerv in der zerrissenen türkischen Gesellschaft und verschafft seiner Agenda Zustimmung.

So zynisch der Name «Operation Friedensquelle» ist, so verlogen sind die Versuche der Regierung in Ankara, den Einmarsch zu legitimieren. Der sogenannte Islamische Staat (IS) war von den kurdischen KämpferInnen der YPG so weit zurückgedrängt worden, dass er – zumindest vor dieser Offensive – keine ernst zu nehmende Bedrohung mehr darstellte. Die geplante Umsiedlung der meist arabischstämmigen Flüchtlinge aus der Türkei nach Nordsyrien hingegen könnte neue Spannungen mit den dort lebenden kurdischen, armenischen, aramäisch-assyrischen, turkmenischen und tschetschenischen Bevölkerungsgruppen erzeugen – oder auch deren Umsiedlung bedeuten. Erneute Konflikte sind vorprogrammiert.

Mit der Offensive destabilisiert die Türkei einen der wenigen funktionierenden Teile Syriens willentlich. Rojava, die autonome Demokratische Föderation Nord- und Ostsyrien, ist ein multiethnisches und pluralistisches Gebilde, das sowohl die Religionsfreiheit von rund 4,6 Millionen Menschen als auch die Gleichberechtigung der Geschlechter sicherstellen will. Mit seiner föderativen Rätestruktur ist es der Versuch, alle Religionsgemeinschaften und ethnischen Gruppen Nordsyriens in einen tiefgreifenden Demokratisierungsprozess einzubinden, was im «Gesellschaftsvertrag der Demokratischen Föderation Nord- und Ostsyriens» – de facto eine Verfassung – verschriftlicht wurde.

In diesem Gesellschaftsvertrag wird die Region auf ein demokratisches, föderales und konsensbasiertes Regierungssystem verpflichtet, das die ethnisch-religiöse Koexistenz seiner Bevölkerung garantieren soll und alle Menschenrechtsverträge akzeptiert. Er ist damit eine der demokratischsten Verfassungen der Region. Zudem haben sich die regionalen Autoritäten international als zuverlässige Partner erwiesen, mit deren Hilfe womöglich ganz Syrien langfristig hätte befriedet werden können. Mit seiner «Operation Friedensquelle» will Erdogan vor allem eins: diese Quelle des Friedens versiegen lassen.