Theater und Migration: Wer darf mitspielen?

Nr. 46 –

Die Schweiz ist eine Migrationsgesellschaft. Doch wie spiegelt sich diese Realität im Kulturbetrieb, speziell im Theater? Begegnungen mit drei Theaterfrauen, die sich schon lange mit diesen Fragen beschäftigen.

  • «Die Strukturen sind veraltet»: Kapinga Grab (links), hier im Probelokal in Aarau, erfuhr als gelernte Schauspielerin aus Kinshasa, wie gross die Hürden im hiesigen Kulturbetrieb sein können.
  • Schon früh politisiert: Die Basler Theatermacherin Anina Jendreyko.
  • «Kein Laientheater, sondern Theater mit Expertinnen»: Claudia Flütsch (links) beim Aufwärmen im Maxim. Vorne: Die Schauspielerin Isabelle Menke.
  • Wie weit bilden Theaterensembles die Gesellschaft ab? Kapinga Grab inmitten ihrer Gruppe.
  • Von der Arbeit als Schlosser direkt auf die Bühne: Ahmet Oeztas in Aktion.
  • Tschechow im Maxim: Auf Spanisch, Schweizerdeutsch und Russisch.
  • Mehr als ein Theater: Das Maxim versteht sich als Community.
  • «Ich möchte allen in der Stadt die Teilnahme am lokalen Kulturschaffen ermöglichen»: Anina Jendreyko.

Industriequartier Aarau, an einem regnerischen Dienstagabend. Die Lichter der Handwerksbetriebe und Autohäuser sind aus, nur ein Fitnesscenter ist noch beleuchtet. Und daneben: der Proberaum von Kapinga Grab. Die Theatermacherin ist müde, denn sie ist schon den ganzen Tag hier. Und dennoch wird sie die SchauspielerInnen ihrer Gruppe, die nach und nach eintrudeln, mit einem strahlenden Gesicht begrüssen.

Ahmet Oeztas trifft als Erster ein, mit einer Take-away-Essenstüte in der Hand. Er kommt, durchnässt vom prasselnden Regen, direkt von seiner Arbeit als Schlosser. Während er am kleinen Ecktisch sitzt, treffen immer mehr SchauspielerInnen ein. Alle scheinen sie froh, dem garstigen Wetter entgangen zu sein. Und alle begrüssen sie sich mit einem Lachen. Jetzt betritt auch Anaïs Keller den Raum – und wird, sobald sie die Kostüme auspackt, zum Mittelpunkt. «Alte Sachen von zu Hause», sagt sie.

Neue Stadt, neue Sprache

Die SchauspielerInnen stellen sich im Kreis auf und beginnen, sich aufzuwärmen. Auch Kapinga Grab reiht sich ein. Die Schauspielerin und Theaterpädagogin kam im Jahr 2010 aus der Demokratischen Republik Kongo in die Schweiz. Bereits in Kinshasa arbeitete sie als Schauspielerin. Dann wollte sie ihr Studium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) fortführen und einen Master in Theaterpädagogik anhängen – und musste zuerst einmal einen Rückschlag erdulden. Denn statt gleich mit dem Masterstudiengang zu beginnen, hätte sie zuerst nochmals den Schauspiel-Bachelor durchlaufen müssen, «weil ich unter anderem keine Papiere hatte, die meinen Abschluss in Kinshasa bestätigten». Grab machte in Zürich auch eine kurze Pflegeausbildung beim Roten Kreuz. Und so stand sie vor der Entscheidung: ein Pflegestudium beginnen – oder weiterhin professionell Theater machen? Viel habe für das Pflegestudium gesprochen, der Einstieg wäre leichter gewesen, sagt sie. Dann aber, nachdem ihr eine Berufskollegin den Studiengang Theaterpädagogik empfohlen hatte, entschied sie sich doch fürs Theater – und bewarb sich für den Bachelorstudiengang Theaterpädagogik.

Neue Stadt, neues Umfeld, neue Hochschule: «Am Anfang war das schwierig», sagt Kapinga Grab, die zu diesem Zeitpunkt Mutter von zwei kleinen Kindern war. «Die grösste Hürde war die Sprache.» Als sie in die Schweiz kam, sprach sie kein Wort Deutsch. Doch wer an der ZHdK studieren will, muss zuerst ein Zulassungsverfahren für die Aufnahmeprüfung bestehen. «Man muss eine konzeptuelle Idee entwickeln sowie eine eigene Szene schreiben und spielen», erzählt Grab. Und das alles in deutscher Sprache – bis auf eine Rolle, die sie auf Französisch vorspielen konnte.

Sie bestand die Prüfung – und neun Jahre später schreibt sie an ihrer Masterarbeit. Eine Frage, die sie dabei umtreibt: Warum wirken die Strukturen der Schweizer Bildungslandschaft im kulturellen Bereich derart ausgrenzend? Für Grab ist klar geworden: «Die Strukturen sind veraltet.» Es dürfe doch nicht sein, dass man davon abgehalten werde, seinen erlernten Beruf auszuüben oder an einer Hochschule zu vertiefen, nur weil man nicht perfekt Deutsch spreche, sagt sie. Und fragt sich, ob die zuständigen Personen beim Erstellen einer Aufnahmeprüfung für ein Theaterstudium überhaupt daran dächten, dass sich die hiesige Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten verändert hat.

Allmähliche Öffnung der Stadttheater

In der Kulturwissenschaft hat sich in den letzten Jahren der Begriff «Interkultur» etabliert. Der deutsch-griechische Journalist und Migrationsforscher Mark Terkessidis etwa benutzt ihn als Abgrenzung zur moralisch aufgeladenen «Integration». Interkultur in diesem Sinn bedeutet eine möglichst grosse Barrierefreiheit von Kultur- und Bildungsinstitutionen für MigrantInnen.

Wie steht es diesbezüglich in der Schweiz? Die Autorin und Regisseurin Sabine Harbeke, die an der ZHdK das Bachelorstudium Theaterregie leitet, versteht sich selbst als politische Künstlerin. Zum interkulturellen Stand an ihrer Hochschule meint sie, dass bereits heute sehr unterschiedliche Menschen an der ZHdK studieren würden. «Klar, ich wünschte mir auch, dass die Studierenden noch durchmischter wären.» People of Color zum Beispiel seien untervertreten. «Und auch die sprachlichen Barrieren müssen abgebaut werden.» Gleichzeitig stelle sie fest, dass die heutigen StudentInnen ein höheres politisches Bewusstsein hätten als jene vor zehn Jahren. Das werde auch von Dozierenden gefördert. Als Beispiel nennt sie den Workshop «Attempts on crisis», den sie im letzten Semester mit dem syrischen Theatermacher Mudar al-Haggi und dem Schweizer Regisseur Erik Altorfer anbot – und dazu Theaterschaffende aus Syrien für gemeinsame Proben einlud. Die Frage, um die es dabei gegangen sei: Wie geht man im Theater mit Geschichten von Krieg und Flucht um?

Auch Kapinga Grab beobachtet «ein langsames Umdenken in solchen Fragen». Überhaupt zeichnet sich in der Schweizer Theaterlandschaft eine Öffnung in diese Richtung ab. Grosse Häuser wie das Schauspielhaus Zürich setzen seit neuem auf diverse Ensembles: verschiedene Hautfarben, verschiedene Geschlechter, verschiedene kulturelle Hintergründe. Jonas Knecht, Schauspieldirektor am Theater St. Gallen, bestätigt die Tendenz: «Jedes Stadttheater will heutzutage eine möglichst grosse Diversität in seinem Ensemble. Das ist sicher wichtig, aber wenn es zum reinen Quotendenken wird, finde ich das nicht gut.» Knecht betont aber, dass auch Diversitäten wie etwa unterschiedliche Altersgruppen wichtig seien. Schliesslich müsse ein Stadttheater möglichst angemessen die Gesellschaft repräsentieren, aus der es entspringe.

Die Gesellschaft repräsentieren? Sie habe einige Male das Schauspielhaus Zürich besucht, erzählt Kapinga Grab. «Und oft habe ich mich bei Szenen ausgegrenzt und verletzt gefühlt, bei denen ein grosser Teil des Publikums lachte.» Sie spricht von Szenen, in denen es um den Umgang mit Spenden für Armutsbetroffene gegangen sei: «Dass man dabei – ohne zu differenzieren – unvermittelt den ganzen Kontinent Afrika nennt, wenn man über Armut spricht, hat mich verletzt», sagt sie. Es mache sie wütend, wenn RegisseurInnen und SchauspielerInnen sich und ihre Methoden nicht hinterfragten.

Das Gegenteil von Folklore

Szenenwechsel. Im Maxim-Theater am Zürcher Limmatplatz wird an diesem Donnerstagabend Anton Tschechows «Drei Schwestern» geprobt. Mascha und Irina lästern nach einem langen Arbeitstag über ihren Bruder Andrej. «Professor wollte er werden», sagen sie, «und was ist er jetzt?» Sie lachen, Andrej ist in ihren Augen ein Versager, der den ganzen Tag Geige spielt. Und wie das so ist, wenn zwei über einen Dritten lästern, ist es zuerst einmal ruhig, sobald dieser den Raum betritt. Doch der Andrej vom Zürcher Limmatplatz sieht anders aus, als man sich Tschechows Original vorstellt: Er trägt Wanderschuhe, enge Jeans, ein T-Shirt, das ihm zu lang ist, und an den Unterarmen Tattoos. «Schön, schön», sagt Andrej zu seinen Schwestern, «lasst uns ehrlich sein: Was habt ihr gegen mich?» Natürlich, das ist nicht mehr der Originaltext – jetzt wird improvisiert.

Die SchauspielerInnen, die sich einmal in der Woche treffen, haben sehr unterschiedliche Hintergründe, sie kommen unter anderem aus Russland, Spanien und der Schweiz. David Bellot Gonzalez zum Beispiel, der eben den Andrej spielte, entfloh der Arbeitslosigkeit in Spanien, lebte in Zürich zunächst auf der Strasse und arbeitet nun auf dem Bau. Ana Delgado, ebenfalls aus Spanien, hat schon an einer dortigen Uni Theater gespielt. Und Isabelle Menke, die Schauspielerin, die das Training leitet, kommt aus Deutschland.

Auch Claudia Flütsch ist bei der Probe dabei. Die gelernte Bühnenbildnerin ist eine der GründerInnen des Maxim-Theaters, das 2006 im Langstrassenquartier entstand. «Wir wollten von Anfang an auch ein Quartiertheater sein», sagt Flütsch und erzählt vom engen Austausch mit benachbarten Imbissbuden und Coiffeurläden. Es sei ihnen vor allem darum gegangen, Menschen mit Theater in Berührung zu bringen, die sonst keinen Zugang dazu gehabt hätten. «Im Langstrassenviertel leben auf engem Raum sehr viele Menschen unterschiedlicher Herkunft.» Deshalb hätten sie sich von vornherein das Ziel gesetzt, ein interkulturelles Theater aufzubauen, sagt Flütsch – und relativiert sofort: «Transkulturell» sei eigentlich die passendere Bezeichnung. «Alle Spielenden bringen ihren eigenen kulturellen Hintergrund mit. Doch daraus soll keine Folklore werden, sondern eine Vermischung der künstlerischen Ausdrucksweisen.» Zentral sei, dass die Beteiligten ihre Lebenswelt teilten. Ein Gedanke übrigens, der inzwischen auch in etablierten Häusern angekommen ist: Die beiden neuen Intendanten des Zürcher Schauspielhauses, Nicolas Stemann und Benjamin von Blomberg, forderten vor der neuen Saison ihr internationales RegisseurInnenkollektiv auf, sich eine Bleibe in Zürich zu suchen.

21 Uhr. Auch zwei Stunden später ist noch immer keine Müdigkeit in den Gesichtern zu sehen. Man spielt erneut die Szene aus den «Drei Schwestern». Apathisch sitzen die beiden Schwestern auf ihren Stühlen und blicken auf den Boden. Andrej beginnt wieder zu sprechen: «Was habt ihr eigentlich gegen mich, gegen meine Frau?» Gonzalez fällt aus seiner Rolle. «Dieses verdammte Deutsch», flucht er, «es ist unglaublich schwierig, in einer Fremdsprache Theater zu spielen.» Die KollegInnen, die die Szene beobachten, geben ihm recht. Doch Menke lässt nicht locker: «Lasst uns etwas versuchen», sagt sie.

Manchmal gibt es im Theater Momente der Magie, in denen es einfach passt: Menke fordert die drei Spielenden auf, dieselbe Szene nochmals zu spielen – jetzt aber in ihren Muttersprachen. Und so sprechen die Schwestern Schweizerdeutsch und Russisch und Andrej Spanisch. Rein verbal verstehen sie sich nicht – doch die Szene wirkt so lebhaft wie nie. Auf einmal ist da mehr Spannung, mehr Dramatik, mehr Humor.

Spricht man bei Stadttheatern von Mehrspartenhäusern, meint man die Aufteilung in Tanz, Oper und Schauspiel. Auch das Maxim sei ein Mehrspartenhaus, sagt Flütsch – in einem etwas anderen Sinn: «Wir sind nicht nur eine Bühne, wir wollen auch ein Ort sein, wo eine Community zu Hause ist.» Man biete deshalb bewusst auch andere Sparten an, Deutschkurse etwa – oder eben Theaterarbeit mit LaiInnen.

Flütsch spricht ungern von «LaiInnen». «Wir machen nicht Laientheater, sondern Theater mit Expertinnen und Experten. Wir sagen nicht: ‹Lernt die Texte auswendig und spielt das Stück.›» Vielmehr gehe es darum, gemeinsam Stoffe zu erarbeiten. Die SchauspielerInnen würden aufgefordert, selbst zu recherchieren – und in den Improvisationen ihre eigenen Erfahrungen, Meinungen und Erkenntnisse einzubringen.

In den Stücken des Maxim fliesst daher viel Persönliches ein. Menschen, die in die Schweiz gekommen sind, erzählen über Realitäten, die vielen im Publikum fremd sind. Geschichten von Gewalt, Krieg oder Flucht zum Beispiel. Eine Art lebensgeschichtliches Dokumentartheater also. Nutzt man diese Menschen aus, indem man sie auf der Bühne ihre Geschichten darstellen lässt? «In unseren bisherigen Produktionen standen die Spielenden meist hinter einer fiktiven Figur», sagt Flütsch. Das sei eine Form von Verfremdung, die die Einzelnen und ihre Geschichten schütze. Aber letztlich sei es kaum möglich, eine Figur zu kreieren, die nur aus Erfundenem bestehe.

Flütsch erklärt das am Beispiel der Produktion «Who the Hell is Heidi?», in der sechs Frauen aus ihrem Leben erzählten. In diesem Stück habe eine 65-Jährige zum ersten Mal vor anderen ausgesprochen, dass sie lesbisch sei. «Solche Momente sind aber die Ausnahme, du kannst die Leute nicht ständig so erzählen lassen», sagt Flütsch. Und betont noch einmal, wie wichtig bei solchen Produktionen ein sensibler Umgang sei.

Theater für alle in der Stadt

Basel im Sommer 2019. Anina Jendreyko, Leiterin der Basler Produktionsgruppe Volksbühne, kommt mit dem Velo angefahren. «Bei meiner Arbeit geht es mir vor allem darum, allen Menschen, die in der Stadt leben, die Teilnahme am lokalen Kulturschaffen zu ermöglichen», sagt sie in einem Café beim Basler Bahnhof. Und: «Ich mache mit meiner Gruppe bewusst politisches Theater.» Sie sei sich aber auch darüber im Klaren, dass diese Arbeit die Gefahr berge, strukturelle Ungleichheiten zu reproduzieren. Deshalb übt sie Kritik an Aufführungen, die sich damit schmückten, migrantische Inhalte zu verhandeln – um schliesslich «einfach Geflüchtete auf die Bühne zu stellen». Theater dürfe nie zum reinen Konsum von Kriegsgeschichten werden. So versuche sie in ihren Stücken, komplexe Figuren zu schaffen. «Biografische Elemente fliessen zwar mit ein, doch die Spielenden stellen nicht sich selbst dar, sondern entwickeln Charaktere.» Diese Abstraktion gehöre zur Kunstform Theater und sei ein Schutz der SchauspielerInnen, erklärt Jendreyko.

Die Theatermacherin erzählt, wie sie in ihrer Kindheit und Jugend in Deutschland politisiert wurde: «Meine Eltern haben als Kinder den Zweiten Weltkrieg miterlebt. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte des Faschismus und die Entwicklung eines antifaschistischen Bewusstseins gehörten zum Familienleben.» Daraus habe sie eine antikapitalistische und antikoloniale Haltung entwickelt; der Internationalismus sei bis heute ein wichtiger Bestandteil ihrer politischen Einstellung. Mit diesem Hintergrund arbeitete Jendreyko 1990 bis 1997 auch in den kurdischen Gebieten des Nordirak und in der Türkei und ab 2000 in Griechenland, wo sie verschiedene Theaterprojekte initiierte.

2006 kehrte sie nach Basel zurück und wollte ihre transkulturelle Theaterarbeit fortsetzen. Um einen Eindruck von der sozialen und kulturellen Zusammensetzung der städtischen Bevölkerung zu bekommen, besuchte sie Schulen – und war «geschockt, wie schlecht viele migrantische Kinder gefördert wurden». Worauf sie im selben Jahr das Theaterprojekt «fremd?!» gründete und damit begann, mit SchülerInnen Stücke zu erarbeiten. Das Projekt sollte in Quartieren wie dem Klybeck oder dem Gundeli stattfinden, in denen eine stark durchmischte, durch Migration veränderte Gesellschaft schon längst Tatsache war.

Dabei entstanden Ansätze, die bis heute zentral für Jendreykos Schaffen sind. Es war ihr wichtig, die soziale Realität mit all ihren Diversitäten auf die Bühne zu bringen. «Wir wollten die Vielfalt an gelebten Kulturen, die in einem städtischen Quartier anzutreffen ist, im Theater abbilden.» Jeder Mensch habe verschiedene Identitäten in sich, «Kultur ist immer eine Mischform», betont sie. Das solle auf der Bühne gezeigt werden. Ihr gehe es immer auch darum, ein Publikum anzusprechen, das sich im Stadttheater beinahe nicht wiederfinden könne, «weil dort seine Geschichten kaum verhandelt werden».

Die Kinder, die am Projekt «fremd?!» teilnahmen, wurden von professionellen Theaterschaffenden begleitet. Auch das sollte massgebend für Jendreykos weitere Arbeiten sein: eine Zusammenarbeit zwischen LaiInnen und Profis. Aus diesem Selbstverständnis kristallisierte sich 2012 die freie Produktionsgruppe Volksbühne heraus. 2014 kam das erste Stück zur Aufführung: «Selam Habibi», eine Adaption von Shakespeares «Romeo und Julia». Jendreyko arbeitete dabei mit Jugendlichen und Erwachsenen, LaiInnen wie Profis, mit Menschen aus der Schweiz und anderen Ländern. Und warum gerade «Romeo und Julia», ein Klassiker des westlichen Bildungskanons? «Wenn jemand aus einem anderen Kontext kommt, gestaltet er seine Figur mit seinem eigenen Hintergrund, und das interessiert mich», antwortet Jendreyko.

Nach Aufführungen in Basel, Berlin und Chur reisten Jendreyko und ihr Ensemble in die Autonome Region Kurdistan im nördlichen Teil des Irak, um das Stück in einem Flüchtlingscamp in der Stadt Dohuk aufzuführen, wo Jendreyko auch Workshops anbot. Wollte sie den Menschen dort mit ihrer Arbeit helfen? «Ich hinterfrage das sehr kritisch, dieses Helfenwollen», sagt die Regisseurin, «denn es sind die ökonomischen und politischen Verhältnisse auf dieser Welt, die die Menschen in die Flucht treiben. Und da haben wir in der Schweiz mit unserem Konsumverhalten unmittelbaren Einfluss darauf. Überhaupt bin ich überzeugt davon, dass man Menschen nicht ‹helfen› kann – sondern nur mit ihnen zusammenarbeiten.»

Kapinga Grabs Stück «Zitig läse – Stopp!» hat im Dezember 2019 im Theater Tuchlaube in Aarau Premiere.

Maxim Theater, Ausstellungsstrasse 100, Zürich. Spielplan und Kursangebote siehe www.maximtheater.ch.

Produktionsgruppe Volksbühne Basel. Spielplan und alles Weitere: www.volksbuehne-basel.ch.

Kulturpolitik : Wie steht es um die Förderung der interkulturellen Theaterarbeit?

Ob in Aarau, Zürich oder Basel, in der freien Szene oder an Stadttheatern: Die Frage, welche Teile der Bevölkerung überhaupt auf der Bühne und auch im Publikum vertreten sind, treibt immer mehr Theaterschaffende um. Das lässt sich einerseits als Öffnung des Kunstbegriffs deuten; andererseits führt es dazu, dass kleine Spielstätten ihre Alleinstellungsmerkmale verlieren.

Im Zürcher Maxim-Theater hätten sie schon seit Jahren mit MigrantInnen gearbeitet, sagt Claudia Flütsch. Nur sei man selten von der Stadt unterstützt worden. Immerhin: 2017 erhielt das Maxim den Anerkennungsbeitrag «Kulturelle Teilhabe» des Kantons. Doch nun, da auch Häuser wie das Schauspielhaus Zürich oder das Theater Neumarkt einen Akzent auf Interkultur setzten, würden kleine Theater wie das Maxim noch mehr in den Schatten gestellt, sagt Flütsch.

Daniel Imboden ist zuständig für die Theaterförderung der Stadt Zürich. «Es ist leider das Schicksal von kleineren, freien Produktionsstätten, dass dort verhandelte Formate und Themen von den grossen Häusern übernommen werden», sagt er. Doch man versuche, gerade kleine Produktionsstätten auch über längere Zeit zu unterstützen. Bislang allerdings fehlt dem Maxim eine dauerhafte Subvention. Flütsch sieht einen Grund dafür darin, dass das Theater aufgrund seiner integrativen Ausrichtung zuweilen mehr als soziale Initiative verstanden werde, sodass manche Projekte zwischen Sozial- und Kulturamt hin- und hergeschoben würden. So wurden dem Maxim 2016 von der Stadtzürcher Integrationsförderung 40 000 Franken überwiesen. 2018 bekam das Theater auch für seine Produktion «Antigone» 40 000 Franken – dieses Mal jedoch von der Kulturförderung. Imboden sagt: «Entscheidend ist für uns der künstlerische Wert.» Das Maxim habe dieselben Chancen auf Fördergelder wie andere Gruppen. Man würde Theatern, die explizit migrantische Themen verhandeln, keinen Gefallen tun, «wenn man einen speziellen Topf mit Fördergeldern einrichten würde». Das führe zur Stigmatisierung dieser Art des Theaterschaffens, sagt Imboden.

Auch Anina Jendreyko von der Volksbühne Basel kritisiert das aktuelle Fördermodell ihrer Stadt. «Wir mussten bei jedem neuen Projekt wieder bei null beginnen», sagt sie. Projektfördereingaben würden die Hälfte ihrer Arbeitszeit beanspruchen. «Manchmal ist es schwierig, jedes Jahr Projekte einzugeben – und dann ist es auch schwierig, jedes Jahr zu produzieren.» Es würde sich eine ganz andere Dynamik entwickeln, wenn man kontinuierlicher arbeiten könnte. Sonja Kuhn, Koleiterin in der Abteilung Kultur der Stadt Basel, betont, wie wertvoll Projekte wie jene der Volksbühne seien: «Gerade in Basel, wo 35 Prozent der Bevölkerung einen migrantischen Hintergrund haben, ist es wichtig, alle Bevölkerungsgruppen an der Kultur teilhaben zu lassen.» Im Rahmen des neuen Kulturleitbilds erarbeite man nun Strategien, wie auch die Kulturinstitutionen partizipativer gestaltet werden könnten.

Valerio Meuli