Erwachet!: Moral der Verweigerer

Nr. 46 –

Michelle Steinbeck über einen Prozess in Italien

Vor über hundert Jahren hielt ein Gerichtsfall Italien in Atem. 1900 wurde die 21-jährige Isolina schwanger von einem Leutnant. Dieser wollte das Kind nicht, so wurde die junge Frau in einer Osteria auf den Tisch gelegt, wo sie in Folge einer «Abtreibung durch Gabeln» starb. Gefunden wurde ihre Leiche Tage später – sauber zerstückelt in einem Militärsack im Fluss treibend. Im Gerichtsprozess, der in den achtziger Jahren von der Schriftstellerin Dacia Maraini dokumentarisch aufgearbeitet wurde, wird klar, dass mehrere Soldaten und wohl auch Mediziner an Isolinas Tod beteiligt waren. Verurteilt wurde niemand.

Zurzeit beschäftigt ein neues Strafverfahren das Land – es könnte wegweisend sein für seine Abtreibungspolitik. Seit 1978 ist Abtreiben in Italien legal. Allerdings ist es den ÄrztInnen überlassen, ob sie dieses Recht wahrnehmen oder Abtreibungen verweigern wollen. Heute sind zwei Drittel aller GynäkologInnen im Land sogenannte Verweigerer, in Sizilien sind es gar neunzig Prozent. In den letzten Jahren ist die Zahl dank des Rechtsrutsches gestiegen; die Lega ist aktiv daran, Abtreibungsrechte zu schwächen. ÄrztInnen, die nicht verweigern, werden unter Druck gesetzt, ausserdem hätten sie kaum Karrierechancen – sie würden quasi nur noch Abtreibungen vornehmen können. So entstehen je nach Region lange Wartelisten; Frauen, die es sich leisten können, gehen für Abtreibungen ins Ausland, andere lassen gefährliche illegale Eingriffe vornehmen.

Nun sitzen sieben Ärzte in Catania wegen fahrlässiger Tötung auf der Anklagebank. Als Verweigerer haben sie 2016 eine Frau mit schwerer Schwangerschaftsvergiftung sterben lassen, statt die wahrscheinlich lebensrettende Abtreibung durchzuführen. Das Krankenhaus streitet alles ab. «Dass wir Verweigerer sind, tut nichts zur Sache», sagt Chefarzt Paolo Scollo. Ein hohes Tier: Er ist Präsident der italienischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe – und selbst ein Verweigerer.

Normalerweise würden sie in solch einem Fall einen externen Arzt rufen, sagt Scollo aus, aber dazu wäre hier keine Zeit gewesen. Die anklagenden Eltern der Frau beharren aber darauf, dass der medizinische Bericht gefälscht sei. Sie hätten in einem anonymen Brief Dokumente mit Testresultaten ihrer Tochter erhalten, die beweisen, dass die Infektion schon zwei Tage vor ihrem Tod so fortgeschritten war, dass dringend hätte gehandelt werden sollen. Dieses Dokument ist aus der offiziellen Akte verschwunden.

Chefarzt Scollo rät den Eltern, in aller Privatheit zu trauern und aufzuhören, den Fall an die Öffentlichkeit zu zerren. Interessanterweise wird er in Italien tatsächlich erst besprochen, seit in der «Financial Times» ein Artikel erschienen ist, der den Fall als «Symbol» der Schwierigkeiten sieht, die Frauen, die abtreiben wollen, heute in Italien haben.

Bei allen Unterschieden gibt es Parallelen zum Fall von Isolina. Beides sind Geschichten von schwangeren Frauen, über deren Körper gewaltsam gegen ihren Willen verfügt wurde. Sie sind gestorben unter den Händen einflussreicher Männer mit Deutungshoheit – gegen die medial gekämpft wird. Im aktuellen Fall ist noch offen, ob es eine Verurteilung der Ärzte geben wird. Die Angeklagten müssen sich keine Sorgen machen: In sämtlichen ähnlichen Fällen der letzten Jahre (es sind einige!) wurden alle MedizinerInnen freigesprochen.

Michelle Steinbeck ist Autorin und kehrt immer wieder nach Italien zurück.