Donbass: Hinter dem Gifttümpel stehen die Scharfschützen

Nr. 47 –

Vor fünf Jahren wurde im Osten der Ukraine hart gekämpft. Heute gibt es nur noch selten Scharmützel, aber grosse ökologische Probleme. Eine Reise durch das erstarrte Konfliktgebiet, in dem Bergwerke absaufen.

Früher hat man die Gase aus dem grössten Koksofen Europas bei Donezk industriell genutzt. Doch die Fabrik, die das kann, steht jenseits der Kontaktlinie – und so wird es verbrannt. Foto: Kostiantyn Chernichkin (OSZE)

Ein kleiner Fleck Steppe hat zwischen den endlosen Feldern überlebt. Es ist eine alte Landschaft mit Gras, Gestrüpp und verblühten Kräutern. Die UkrainerInnen nennen das kleine Naturreservat «Landschaftspark». Der Himmel ist azurblau, der Wind eisig kalt.

Man sagt uns, wir sollten die sandigen Wege nicht verlassen. Könnte noch Minen geben, auch wenn eigentlich geräumt wurde. Einige Schritte weiter öffnet sich der Blick über ein Tal. Ein kleiner Fluss mäandert durch vergilbtes Schilf. Wir gehen an Schützengräben vorbei. Zerrissene Plastikplanen flattern im Wind. Die Soldaten hatten damit die Schützengräben abgedeckt, als sie 2014 vom Hügel auf die Angreifer im Tal schossen.

Geflutete Kohleminen

Die Soldaten sind weg. Es ist friedlich und still. Am Horizont erheben sich im Dunst grosse Gebäude. Ein Bergwerk, sagt Dima Averin, unser ukrainischer Begleiter. Es stehe drüben und sei geflutet. Bei der Frage, was «Drüben» bedeutet, wird es heikel. Die Sprache ist verräterischer, wenn man sich im Krieg befindet. Man sollte nicht die falschen Wörter gebrauchen. Vom kleinen Steppenreservat sieht man die «Kontaktlinie» – «Front» sagt man nicht. Keiner weiss genau, wie sie verläuft. Die drüben würden sagen, die Mine stehe in der «Volksrepublik Donezk und Lugansk». Auf dieser Seite wird nur «vom nicht kontrollierten Gebiet» gesprochen und von «Separatisten» oder «Terroristen».

Die OrganisatorInnen der Reise würden sie aber nie «Terroristen» nennen. Sie arbeiten für die OSZE, die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Sie versucht seit fünf Jahren, den brüchigen Waffenstillstand zu hüten. 13 000 Menschen sind in diesem Krieg schon gestorben. In den letzten Wochen hat sich die Lage aber entspannt. Es gibt kaum mehr Scharmützel, beide Seiten haben schwere Kriegsgeräte abgezogen.

Die OSZE hat ein Dutzend hauptsächlich ukrainische JournalistInnen eingeladen, um sie über die ökologischen Probleme im Konfliktgebiet zu informieren.

Die Donezker Region, der sogenannte Donbass, lebte vom Bergbau und der Schwerindustrie. Dima Averin kennt sich darin aus. Er wohnte früher in der Stadt Donezk. Wir hatten uns vor über zehn Jahren das erste Mal getroffen. Ein junger Mann, Computerspezialist, still, klug, ständig mit einer Zigarette im Mund. Er hatte für die lokale Umweltbehörde gearbeitet und uns Besuche in Minen und Stahlwerken organisiert. Averin raucht immer noch viel, ist aber ein bisschen runder und gesprächiger geworden. Er erzählt, als vor fünf Jahren die ersten Granaten aufs Nachbarhaus gefallen seien, habe seine Frau entschieden, dass sie wegmüssten. Ihr Kind war noch klein. Seither war Averin nie mehr in Donezk. Seine Eltern leben immer noch dort.

Vom Hügel, auf dem wir stehen, sind es vielleicht dreissig Kilometer Luftlinie bis zur Stadt. Er würde verhaftet, wenn er hinginge, sagt Averin. Heute wohnt die dreiköpfige Familie in Kiew in einer Einzimmerwohnung. Und er berät die OSZE in Umweltfragen.

Der Krieg fand mitten zwischen Hochöfen, Chemiefabriken und Bergwerken statt. Die meisten Kohleminen liegen heute drüben. Weil dort Personal und Know-how fehlen, ist der Grossteil seit fünf Jahren stillgelegt. Von 75 Bergwerken stünden bereits mehr als die Hälfte unter Wasser, sagt Averin, da die Pumpen nicht mehr funktionierten. Das steigende Wasser treibt Gas aus den Schächten aus. Das Gas kann sich in den Kellern der Häuser ansammeln und explodieren, wenn man eine Lampe anzündet. Fliesst das Wasser aus den Minen, verseucht es Bäche und Felder. Auch kommt es zu Gebietsabsenkungen, weil Schächte einstürzen. Das kann dramatische Folgen haben, wenn darüber Chemikalien oder Absetzbecken mit giftigen Schlämmen lagern.

Auf dieser Seite der Kontaktlinie weiss niemand genau, was los ist. Nicht einmal die OSZE-Leute können rüber, um die maroden Anlagen zu inspizieren. Sie haben aber alle verfügbaren Daten zusammengetragen und daraus Grafiken erstellt. Am eindrücklichsten ist jene, die die «ökologischen Risiken» abbildet. Die Skala geht von Weiss – «sehr niedrig» – bis Orangerot – «sehr hoch». Eine Fläche, die sich nierenförmig von Donezk hundert Kilometer nach Norden erstreckt, ist leuchtend orangerot. Was tun? Averin sagt: «Der Krieg muss aufhören. Vorher kann man da nicht viel machen.»

Unsere Gruppe fährt weiter. An einem Checkpoint stehen ein halbes Dutzend Soldaten mit schusssicheren Westen, Helmen und Maschinengewehren im Anschlag. Einer blickt kurz in die Dokumente und winkt uns durch. Die breite Strasse führt direkt nach Donezk. Kurz nach dem Checkpoint biegen wir in eine kleine Strasse ein und halten vor einem grauen Hügel mit Kohleabraum. Der Regen hat tiefe Furchen ausgewaschen. Am Fuss des Hügels liegt ein schwarz schimmernder Teich.

Technik und Geld fehlen

Die Kontaktlinie verläuft gleich hinter dem Hügel. Der Tümpel ist gefüllt mit säurehaltigem Wasser und Schlämmen. Kein Tier kann darin leben oder schwimmen. Es ist eine Altlast aus der Zeit, als die Ukraine noch zur Sowjetunion gehörte.

Die Technik und das Geld fehlten, um den Tümpel zu sanieren, sagt Ira Nikolaewa. Es gibt noch mehr solche giftigen Teiche im Niemandsland entlang der Kontaktlinie. Nikolaewa hat sie im Auftrag der OSZE inspiziert. Sie erzählt von einem Teich, der direkt an der Kontaktlinie liegt. Auf der anderen Seite, nur einen Steinwurf entfernt, stand ein Scharfschütze. Er beobachtete, wie sie eine Probe nahm. Sie hatte weiche Knie.

«Er war von der OSZE informiert. Er wusste, dass wir kommen», sagt Nikolaewa. Aber sie war sich nicht sicher, ob er vielleicht nicht doch schiesst. Die ukrainischen Soldaten hätten direkt auf dem Damm des künstlichen Teiches gestanden: «Ich weiss nicht, ob ihnen bewusst war, wie gefährlich es wäre, wenn sie ins Wasser fallen würden.»

Dieser Gifttümpel stammt von einer Fabrik, die unweit der Kontaktlinie einen Zusatzstoff für Asphalt herstellt. Der Stoff wird auf die Arabische Halbinsel exportiert. Man setzt ihn dem Asphalt bei, damit die Strassen bei den hohen Temperaturen nicht zu weich werden. In der Ukraine werde der Stoff nicht verwendet, sagt Nikolaewa.

Brennende Gase

Der Tross fährt weiter zur Kokerei. Mit einem betriebseigenen Bus werden die JournalistInnen durchs Kombinat chauffiert. Bei einigen grossen Tanks hält der Bus. Ein Ingenieur erzählt, wie vor fünf Jahren auf dem Gelände gekämpft wurde. Er zeigt die Einschusslöcher. Die Tanks mit dem brennbaren Benzol hatten sie zuvor geleert, sonst wäre es zu einem Inferno gekommen.

Eine Kokerei macht aus minderwertiger Kohle hochwertigen Koks. Dieser Koksofen hier ist der grösste Europas und ein riesiger Organismus, der nie stillsteht. Auch während des Krieges nicht. Die Angestellten schliefen hier, weil sie wegen der Kämpfe nicht nach Hause konnten.

Im Ofen werden die Gase aus der Kohle ausgetrieben. Früher hat man die Gase aufgefangen und industriell genutzt. Doch die Fabrik, die das kann, steht jenseits der Kontaktlinie. Das Gas wird nun verbrannt. Es sieht schön aus, wie es in der Dämmerung lodert. Gut ist es nicht.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR hat Rinat Achmetow das Kombinat übernommen. Er gilt als der reichste Mann der Ukraine. Durch den Krieg hat er mehrere Fabriken verloren, doch verfügt er laut «Forbes» immer noch über ein Vermögen von sechs Milliarden Dollar. Der kleine Drecktümpel, den wir besucht haben, gehört zu seinem Imperium. Achmetow hat ihn zwar geerbt, doch in Friedenszeiten wäre es durchaus möglich gewesen, ihn zu sanieren.

Die Ukraine hat aber immer noch kein Gesetz, das Firmen verpflichtet, Altlasten zu entsorgen. Dem Staat selber fehlt das Geld. Der Tümpel steht für die ganze Region: Die ökologischen Probleme waren schon vor dem Krieg gross, der Krieg hat sie nur verschärft. Und sie sind wie Landminen – sie bedrohen die Menschen, auch wenn nicht mehr geschossen wird.