Krise im Nahen Osten: Iran im Vorteil

Nr. 2 –

Was immer das Ziel des US-Angriffs gegen den iranischen Militärchef Kassem Soleimani war – politischen Nutzen daraus ziehen die Mullahs. Und den Volksaufständen im Nahen Osten droht ein abruptes Ende.

Seit dem Mord am iranischen Generalmajor Kassem Soleimani hat der Iran das Recht, militärische Ziele der USA anzugreifen: Demonstration in Teheran am 3. Januar, dem Tag des US-Anschlags. Foto: Maryam Rahmanian, Alamy

Nun hat der Iran reagiert. In der Nacht auf Mittwoch beschossen die iranischen Revolutionsgarden zwei US-Stützpunkte im Irak mit rund zwanzig Raketen. Faktisch hatte der befürchtete Krieg bereits am 3. Januar begonnen, mit dem Mord am iranischen Generalmajor Kassem Soleimani und vier weiteren Offizieren der iranischen Revolutionsgarden. Das Kriegsvölkerrecht lässt keinen Zweifel: Mit diesem Angriff haben die USA einen bewaffneten Konflikt ausgelöst. Wenn US-Präsident Donald Trump am Tag nach dem Anschlag behauptet hat, man habe agiert, um einen Krieg zu verhindern, und nicht, um einen Krieg zu beginnen, ist das also barer Unsinn. Der Iran hatte und hat das Recht, militärische US-Ziele anzugreifen.

Selbst der Irak könnte sich problemlos auf die Regeln eines bewaffneten Konflikts berufen, denn das Attentat geschah in der Hauptstadt Bagdad, in grober Verletzung der irakischen Souveränität. Und mit den iranischen Offizieren starben auch fünf Iraker, allesamt Mitglieder der «Volksmobilisierungseinheiten» Al-Haschd al-Schaabi. Die grossmehrheitlich schiitischen Haschd-Milizen wurden 2014 gegründet, nach einem Aufruf des Grossajatollahs Ali al-Sistani zum Kampf gegen den Islamischen Staat (IS). Manche Haschd-Milizen haben zwar bis heute den Charakter bewaffneter Gruppen beibehalten, die grossen Brigaden aber haben Auftreten und Gehabe einer staatlichen Armee angenommen. Formal jedenfalls wurden die Haschd bald Teil der irakischen Armee, und sie werden auch durch die Regierung besoldet – die US-Raketen haben am 3. Januar somit also auch ranghohe irakische Militärs getötet. Mit Dschamal Dschafar Ibrahim, genannt Abu Mahdi al-Muhandis, wurde gar der starke Mann der Dachstruktur der Haschd getötet. Muhandis fungierte als Verbindungsmann zu Kassem Soleimani und den iranischen Revolutionsgarden, und bei den Haschd als Ganzes ging nichts gegen seinen Willen.

Befeuerter Nationalismus

Immerhin: Noch hat sich der Krieg zwischen den USA und dem Iran nicht ausgeweitet. Offizielle iranische Stellen bis hin zum Obersten Nationalen Sicherheitsrat hatten zuerst nur verbal auf den Tod Soleimanis reagiert. In Variationen sagten sie alle ungefähr das Gleiche: Der Iran wird sich rächen und dabei Form, Ort und Zeitpunkt selber bestimmen. Den Raketenangriff auf die US-Stützpunkte im Irak bezeichnete der iranische Aussenminister Dschawad Zarif auf Twitter nun als «verhältnismässige Reaktion der Selbstverteidigung»; Iran wolle keine weitere Eskalation. Und auch die ersten offiziellen Reaktionen aus den USA lassen hoffen, dass die grosse militärische Eskalation bis auf Weiteres ausbleibt. Umso mehr arbeitet die iranische Führung daran, möglichst grosse strategische Vorteile und politischen Profit aus der US-Aggression zu ziehen, und zwar in der ganzen Region.

Dank des Angriffs auf Soleimani hat sich die Position des iranischen Regimes über Nacht entschieden verbessert. Denn in den letzten Monaten war es gehörig unter Druck geraten. Vorab die Proteste und Aufstände im Irak und im Libanon wurden für den Iran gefährlich. In beiden Ländern fordern überkonfessionelle Massenbewegungen politische Reformen, wirtschaftliche Perspektiven und funktionierende staatliche Dienstleistungen – die Verbündeten des Iran stehen auf der Seite der Mächtigen und verteidigen die abgewirtschafteten und korrupten Strukturen, zum Teil mit massiver Gewalt. Im Irak richtete sich der Aufstand auch ganz direkt gegen den iranischen Einfluss im Land, Protestierende griffen gar zwei iranische Konsulate in den schiitischen Städten Kerbala und Nadschaf an. Und schliesslich kam es im November im Iran selber zu landesweiten Protesten gegen die miserable Wirtschaftslage als Folge der Misswirtschaft und der US-Sanktionen. Zwar wurden diese Proteste gewaltsam niedergeschlagen, wobei nach Angaben der Nachrichtenagentur Reuters schätzungsweise 1500 Menschen getötet wurden. Dennoch haben sie das herrschende theokratische System erschüttert und bedroht.

Nun haben sich im Iran die Reihen praktisch zwangsläufig geschlossen. An den gewaltigen Trauerfeiern, die für Soleimani organisiert wurden, nahmen Millionen IranerInnen teil. Das marode Mullahregime profitiert dabei wie schon oft vom ausgeprägten iranischen Nationalismus. Ausgerechnet Donald Trump befeuert diesen Nationalismus weiter – denn er drohte in einem Tweet, «für den Iran und die iranische Kultur bedeutsame Orte» anzugreifen (was überdies ein mutmassliches Kriegsverbrechen wäre).

Nur noch Freund oder Feind

Im Irak wurde der US-Angriff konfessions- und parteiübergreifend verurteilt, und gerade jene schiitischen Akteure, die sich offen oder verklausuliert gegen den grossen iranischen Einfluss im Land wandten, müssen sich nun mit dem Iran neu arrangieren – seien es Politiker wie Muktada al-Sadr und Ammar al-Hakim, sei es Grossajatollah Sistani, seien es aber auch iranunabhängige nationalistische Haschd-Milizen. Wie auch kurdische und sunnitische AkteurInnen können sie derzeit nur zu verhindern versuchen, dass der Irak noch mehr zum Schlachtfeld des iranisch-US-amerikanischen Konflikts wird und das Land zerfällt. Gravierend werden die Folgen auch für die irakische Protestbewegung sein: In dieser real und rhetorisch aufgeheizten Situation, in der es nur noch Freund oder Feind gibt, wird es noch schwieriger, die Massenproteste weiterzuführen, und die proiranischen Parteien und Milizen dürften, wenn sie es für erforderlich halten, noch brutaler gegen die DemonstrantInnen vorgehen (vgl. «Das Wichtigste hat die Bewegung schon erreicht» ).

Auch im Libanon, wo Ende Oktober infolge der Proteste immerhin die Regierung zurückgetreten ist, werden es die DemonstrantInnen noch schwerer haben, ihre Forderungen nach radikalen Reformen durchzusetzen. Im Gegenteil: Die mächtige schiitische Hisbollah macht bereits Druck, dass nun unverzüglich eine neue Koalitionsregierung um den designierten Ministerpräsidenten Hassan Diab gebildet wird. Die gefährliche Situation in der ganzen Region vereinfacht es den traditionellen konfessionalistischen AkteurInnen im Libanon, sich als Garanten von Sicherheit und Stabilität zu geben – und so die institutionelle Politik weiterhin zu bestimmen, obwohl sie moralisch bankrott und politisch völlig delegitimiert sind. Gerade die schiitischen Bewegungen Hisbollah und Amal werden ihre Macht kompromisslos verteidigen. Wer da noch protestiert, wird schnell als AgentIn der USA hingestellt. Dabei haben doch gerade die USA unter Trump die Volksaufstände im Libanon und im Irak nun womöglich abgewürgt.

Unerwartete Handlungsfähigkeit

Den grössten strategischen Vorteil könnte der Iran im Irak erzielen. Unverzüglich nach dem Anschlag in Bagdad verlangten sowohl proiranische als auch nationalistische schiitische Politiker und Milizenführer den Abzug aller US-Truppen aus dem Land, verbunden mit Drohungen, diese Truppen ansonsten gewaltsam zu vertreiben. Bereits hat das irakische Parlament in einer ausserordentlichen Sitzung eine Resolution verabschiedet, die die Regierung auffordert, die Präsenz ausländischer Truppen zu beenden. Dieser Forderung schloss sich auch der noch amtierende Premierminister Adil Abd al-Mahdi an. Sollten die USA ihre Basen tatsächlich räumen müssen, würde das die politischen Gewichte im Irak nachhaltig verändern.

Politischen Nutzen aus der Ermordung Soleimanis versucht der Iran auch bezüglich des Atomabkommens zu ziehen. Nachdem die USA das Abkommen schon 2018 gebrochen hatten, verkündete die iranische Regierung nun, sich ihrerseits an keinerlei Auflagen des Abkommens mehr zu halten (vgl. «Das Versagen von Uno und EU» im Anschluss an diesen Text).

Geopolitischer Hotspot Karte: WOZ

Das iranische Regime hat als unmittelbare Folge des wohl wenig durchdachten Anschlags auf Soleimani und Muhandis somit unerwarteten politischen Spielraum gewonnen. Diese neue Handlungsfähigkeit wird es kaum leichtfertig wieder aufgeben. Allerdings hat sich der Iran durch die Massenaufmärsche und Trauerpropaganda selber unter erheblichen Druck gesetzt, zumindest eine symbolische militärische Aktion gegen die USA auszuführen – dies ist mit den Raketenangriffen nun geschehen. Die Frage ist, ob diese moderate Reaktion der eigenen scharfen Rhetorik genügt oder ob weitere Aktionen folgen, etwa auch von den Haschd-Milizen. Eine brandgefährliche Eskalation ist deshalb immer noch zu befürchten. Gefahr geht auch weiterhin vom grossen Hasardeur Donald Trump aus. Auch wenn er einen ausgewachsenen Krieg vielleicht eher vermeiden will – im Wahljahr könnte er schon bald in Versuchung geraten, einen «kleinen» Krieg zu führen, um einen grossen Sieg zu erringen. Wenn der Krieg denn «klein» bliebe.

Internationale Reaktion : Das Versagen von Uno und EU

Wie könnte eine angemessene Reaktion der Uno-Staaten auf die Ermordung von General Kassem Soleimani aussehen? Ein kurzer Ausflug ins Reich des Wunschdenkens:

Generalsekretär António Guterres verurteilt das Vorgehen der Regierung Trump in seiner Neujahrsansprache als «schweren Verstoss gegen das Völkerrecht», und fast einstimmig folgt tags darauf die Uno-Generalversammlung: Mit der von US-Präsident Donald Trump angedrohten Zerstörung iranischer Kulturgüter würde die US-Regierung «dieselben Kriegsverbrechen begehen wie die Taliban in Afghanistan und der Islamische Staat in Syrien», heisst es in der von 187 der 193 Mitgliedstaaten beschlossenen Resolution. Neben den USA stimmen nur Israel, Brasilien und die Marshallinseln dagegen, Polen und Saudi-Arabien enthalten sich. Der Uno-Sicherheitsrat berät über einen fast gleichlautenden Resolutionsantrag, den die drei ständigen Ratsmitglieder Russland, China und Frankreich mit Unterstützung des nichtständigen Mitglieds Deutschland eingebracht haben. Der Antrag scheitert zwar am Veto der USA, stösst aber auf Zustimmung der restlichen vierzehn Ratsmitglieder. Derweil schlagen Griechenland, Schweden und die Niederlande in einer gemeinsamen Beschlussvorlage für die Sondersitzung der EU-AussenministerInnen vom Freitag Wirtschaftssanktionen gegen die USA vor. Sie verweisen auf die Sanktionen, die die EU nach dem Mordversuch an einem russischen Exspion in Grossbritannien gegen Russland verhängt hatte.

All das ist blosse Illusion. Aber es zeigt, dass die internationale Staatengemeinschaft das Völkerrecht auch gegenüber ihrem stärksten Mitglied verteidigen könnte. Faktisch gibt es im aktuellen Fall bislang nicht einmal das Bemühen irgendeines Mitglieds der Uno-Generalversammlung um eine entsprechende Resolution. Als Südafrika dies nach dem völkerrechtswidrigen Irakkrieg der USA vom Frühjahr 2003 versuchte, wurde es von der US-Regierung unter George Bush so massiv mit Sanktionen bedroht, dass Südafrikas Regierung vom Vorhaben abliess. Der Vorgang ist im kollektiven Gedächtnis der Uno-Mitgliedsregierungen und ihrer DiplomatInnen immer noch sehr präsent.

Russland und China haben die Ermordung Soleimanis als völkerrechtswidrig kritisiert. Sie könnten im Sicherheitsrat den Antrag für eine entsprechende Resolution, die inzwischen von der irakischen Regierung gefordert wird, einbringen. Doch müssten die beiden Länder mit einer diplomatischen Niederlage rechnen, da ihr Antrag nicht nur am Veto der USA scheitern, sondern wahrscheinlich nicht einmal die für eine Annahme erforderliche Mehrheit von neun Stimmen erhalten würde.

Für die Sitzung der EU-AussenministerInnen hat Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits die Richtung vorgegeben: Verantwortlich für die jüngste Eskalation sei allein die iranische Regierung. Der Beschlussentwurf für die Sitzung enthält die ausschliesslich an den Iran gerichtete Aufforderung, sich an das Nuklearabkommen zu halten, aus dem die USA im Mai 2018 ausgestiegen sind. Jetzt ist das Abkommen mausetot, nachdem die iranische Führung als Reaktion auf die Ermordung Soleimanis erklärt hat, sie werde sich nicht mehr daran halten. Trump könnte dies auch weiterhin zur Rechtfertigung für kriegerische Akte dienen.

Andreas Zumach