Körperpolitik: Der grosse Drill

Nr. 3 –

Der Trend geht zum totalen Training. Der Historiker Jürgen Martschukat erklärt die Gegenwart zum «Zeitalter der Fitness».

Muskeln sind Massenware – und der Fitnessboom ist eng verzahnt mit ökonomischen Verwertungsimperativen. Foto: Getty

Pornos, Handygames, Hustensaft oder Nasensprays: Menschen werden von den apartesten Dingen abhängig. Besonders ausgefallen ist der vor allem bei jungen Männern auftretende «Adonis-Komplex»: Der Begriff bezeichnet die Sucht danach, den eigenen Körper im Fitnessstudio zu stählen – und zwar so exzessiv, dass irgendwann die müden Knochen brechen und soziale Isolation droht, weil keine Zeit mehr für FreundInnen und Familie bleibt.

Die Verhaltensstörung ist mehr als eine Kuriosität, dürfte sich doch in ihr ein genereller gesellschaftlicher Trend zur unablässigen Selbstoptimierung äussern; so jedenfalls müsste man nach der Lektüre von Jürgen Martschukats Essay «Das Zeitalter der Fitness» urteilen. Der Erfurter Historiker hat mit seiner materialreichen Gegenwartsanalyse zugleich die kultur- und alltagsgeschichtlichen Wurzeln des herrschenden Fitnessbooms freigelegt. Ihm zufolge ist dieser symptomatisch für eine Ära, in der immer mehr Lebensbereiche nach dem Modell des Marktes gestaltet werden und der entgrenzte Wettbewerb sich so auch in die Leiber einschreibt.

Tatsächlich gibt es seit langem Indizien dafür, wie der Klassenkampf von oben mittels eines Fitnessdiskurses befeuert wird. Ein gutes Beispiel ist Peter Sloterdijks vor zehn Jahren publiziertes Werk «Du musst dein Leben ändern», in dem der deutsche Denker eine eher absonderliche Anthropologie entwirft, die den Menschen primär als Trainierenden betrachtet. In den Fokus nimmt er dadurch all diejenigen kulturellen Praktiken, die die humane «Vertikalspannung» straffen, also das Streben nach Höherem befördern. Der Bogen, den Sloterdijk schlägt, reicht von religiöser Askese über den athletischen Wettkampf bis hin zu Nietzsches Übermenschen.

«Fitness ist überall»

Es war dann gewiss kein Zufall, dass der Philosoph ein paar Monate nach der Veröffentlichung von «Du musst dein Leben ändern» in der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» zum Sturm auf das Steuersystem blies: Sloterdijk pöbelte gegen die staatliche «Kleptokratie» und die «progressive Einkommenssteuer», in der er «ein funktionales Äquivalent zur sozialistischen Enteignung» ausmachen wollte. Im Licht seiner Anthropologie war das nur folgerichtig, weil Umverteilung und Wohlfahrtsstaat die Leute eher nicht zur bedingungslosen Höchstleistung anspornen. Weniger «soziale Hängematte», mehr «Vertikalspannung» also. Die Sprachbilder sind vielsagend: Marktradikale reden ja nicht von ungefähr vom «schlanken» Staat, wenn sie die Kürzung öffentlicher Ausgaben meinen.

Martschukat verweist nur beiläufig auf Sloterdijk, er trägt aber zahlreiche andere Belege für die Verzahnung von Fitnessboom und ökonomischen Verwertungsimperativen zusammen. «Das Individuum soll an sich arbeiten, das Leben im Griff haben, sich fit machen, für die eigene Leistungsfähigkeit Sorge tragen und diese im wahrsten Sinne des Wortes verkörpern», resümiert der Historiker den herrschenden Zeitgeist: «Fitness ist überall.»

Das mag übertrieben klingen, andererseits reicht schon ein sommerlicher Spaziergang entlang beliebter Badeplätze Zürichs, um festzustellen, dass durchtrainierte Körper längst Massenware sind. Die hiesige Fitnessbranche prosperiert, anderswo in Europa und in den USA sieht es ähnlich aus.

Feminismus und Aerobic

Allerdings war, wie Martschukat schreibt, schon in früheren Jahrhunderten viel von Fitness die Rede. Nur war der Begriff da noch anders konnotiert: Er bezeichnete die Fähigkeit des Menschen, sich in eine Ordnung einzupassen, die als natur- oder gottgegeben und damit als unveränderlich gedacht wurde. Erst im 19. Jahrhundert, der Epoche technischer, industrieller und sozialer Revolutionen, dynamisierte sich das Konzept: Nicht Anpassung, sondern Optimierung lautete das neue Gebot.

Adressat dieser Verbesserungsbestrebungen waren zunächst Kollektive: Rasse, Volk, Nation. Die Linie führte von hier bis zum Nationalsozialismus und dessen Kult um die gestählten Körper junger blonder Männer. Der Einzelne rückte erst nach dem Zweiten Weltkrieg ins Zentrum. Hier spielten die Kämpfe nach 1968 eine wichtige Rolle, forderten sie doch die Autonomie des Individuums gegen althergebrachte Autoritäten wie Familie und Staat ein.

Eine Pointe Jürgen Martschukats liegt darin, dass es gerade progressive Bewegungen wie der Feminismus waren, die den Körper mit der Forderung nach Selbstbestimmung politisierten und damit den heutigen gesellschaftlichen Zugriff auf die Leiber antizipierten. Salopp formuliert: Wo Frauenrechtlerinnen «Mein Bauch gehört mir!» riefen, erhielten sie ein «Dann sorgt gefälligst dafür, dass er auch flach ist!» zur Antwort. Anschaulich wird dieses Umschlagen in der Biografie der US-Schauspielerin Jane Fonda, die sich politisch gegen den Vietnamkrieg und in der Frauenbewegung engagiert hatte, ehe sie als Aerobicpionierin in den achtziger Jahren zu der Fitnessikone schlechthin wurde: Das «Jane Fonda Workout» ist eine der meistverkauften VHS-Kassetten überhaupt.

Aerobic sollte einerseits Frauen dazu ermächtigen, mit ihrem Körper selbstbewusst zu agieren, andererseits etablierte es aber auch einen sexualisierten weiblichen Normkörper. Entwickelt wurde das Trainingsprogramm bereits in den sechziger Jahren, und zwar vom US-Militärarzt Kenneth H. Cooper, was man heute als Fingerzeig auf Trends der unmittelbaren Gegenwart lesen kann.

In dieser beobachtet Martschukat eine Remilitarisierung der Fitness, was er an der Popularität martialischer Trainingsprogramme wie dem «Warrior Workout» festmacht. Bezieht man das auf Klaus Theweleits nicht zufällig eben erst neu aufgelegte Studie über «Männerphantasien», in der der Kulturtheoretiker durchdekliniert, wie sehr das Ideal eines undurchdringlichen Körperpanzers für das faschistische Ich konstitutiv ist, kann einem schon unheimlich werden.

Der Körper als Klassenfrage

Es mag nun irritieren, dass zugleich regelmässig Meldungen darüber kursieren, dass die westlichen Gesellschaften immer dicker werden und Zivilisationskrankheiten wie Rückenleiden um sich greifen, die aus chronischem Bewegungsmangel resultieren. Martschukat zufolge äussern sich darin jedoch zwei Seiten derselben Entwicklung: Hier zeige sich eine subtil wirkende Regierungstechnik, die «das Potenzial der Bevölkerung im Visier hat und Menschen und Gruppen über ihre Körper und Körperform definiert und positioniert».

Kein Wunder also, dass heute «fit» und «fat» als Marker dienen, um die Klassenzugehörigkeit zu kennzeichnen, wie der Historiker schreibt: Klassendünkel und «fat shaming», also die Demütigung Übergewichtiger, gehen Hand in Hand. Der britische Soziologe Nikolas Rose habe in diesem Kontext das Konzept der «biological citizenship» geprägt, nach dem «die Maximierung der Lebenskräfte und -möglichkeiten in freiheitlichen Gesellschaften zu einer Art Pflicht eines jeden Menschen geworden» sei.

Kurzatmige LeistungsverweigerInnen wirken so fast schon wie WiderstandskämpferInnen gegen die umfassende Mobilisierung des Humankapitals. Martschukat enthält sich allerdings dieser Schlussfolgerung und belässt es bei der Darstellung – aus gutem Grund, da eine Rebellion gegen die Zurichtung der Körper kaum so billig zu haben sein dürfte. Die punktuelle Verweigerung Einzelner bleibt entweder unbemerkt oder führt lediglich dazu, dass die, die nicht mitmachen wollen, unter die Räder geraten, weil sie Konkurrenzvorteile auf dem Liebes- oder Arbeitsmarkt einbüssen. Eine Biopolitik von unten müsste daher zunächst Wege aus der Vereinzelung weisen. Körper sind ohnehin dann am schönsten, wenn sie einander näherkommen.

Jürgen Martschukat: Das Zeitalter der Fitness. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2019. 346 Seiten. 40 Franken