Durch den Monat mit Soni Soni (Teil 4): Wie sind Sie in der Schweiz gelandet?

Nr. 9 –

Demnächst ist Soni Soni mit ihrer Doktorarbeit an der ETH Zürich fertig. Warum sie nicht zurück nach Indien möchte, obwohl sie das dortige Chaos vermisst – und wie sie ihre Forschung zu Prostituierten zur Beschäftigung mit Waisenkindern führte.

Soni Soni: «Und dann diese Ruhe hier – plötzlich habe ich mich in dieses Land verliebt.»

WOZ: Soni Soni, Sie schreiben zurzeit an der ETH Zürich Ihre Dissertation zum Konzept des Waisenhauses im kolonialen Indien von 1860 bis 1947. Wie kamen Sie auf das Thema?
Soni Soni: Ich habe an der Jawaharlal Nehru University in Neu-Delhi eine Arbeit über Prostitution im kolonialen Indien geschrieben. Während der Forschung fand ich im Nationalarchiv Dokumente, aus denen hervorging, dass damals Kinder von indischen Prostituierten nicht als Kinder ihrer Mütter, sondern als Waisenkinder definiert wurden. Da begann mein Interesse am Konzept des Waisen, und ich begann zu recherchieren.

Und auf was sind Sie gestossen?
Interessant ist, dass das Konzept des Waisenhauses erst mit dem Kolonialismus nach Indien kam. Es gab zwar schon vorher Orte, an denen Waisen aufgenommen wurden, sie lebten und arbeiteten zum Beispiel in Tempeln oder königlichen Haushalten. Aber es gab keine definierten, institutionalisierten Orte für sie. Die britische Regierung und christliche Missionare gründeten dann die ersten Waisenhäuser – allerdings nur für europäische und eurasische Waisen, nicht für indische.

Das müssen Sie genauer erklären.
Ende des 18. Jahrhunderts kamen viele britische Soldaten ins Land, einige hatten Kinder mit britischen Frauen, andere mit indischen. Aufgrund von Krieg und Krankheit wurden viele Kinder dieser Soldaten Waisen. Das Militär und die Britische Ostindien-Kompanie errichteten spezielle Waisenhäuser, die verhindern sollten, dass europäische oder eurasische Kinder in Armut aufwüchsen. Das hätte nämlich das Bild der «Überlegenheit der weissen Rasse», auf dem die europäische Kolonialherrschaft beruhte, in den Augen der indischen Bevölkerung untergraben. Die Waisenhäuser für europäische und eurasische Kinder repräsentierten also die klassistischen und rassistischen Vorurteile der Kolonialherren.

Was geschah mit den indischen Waisenkindern?
Das versuche ich in meiner Forschung aufzuzeigen. Dabei lege ich den Fokus auf Kinder, die ihre Eltern während Hungersnöten verloren hatten. Hinduistische, muslimische, christliche wie auch verschiedene Kastenorganisationen gründeten Waisenhäuser und nahmen die Kinder auf. Aufgrund ihrer unterschiedlichen religiösen und Kastenidentität standen sie in gegenseitiger Konkurrenz und im Wettbewerb um die Kinder: Die Organisationen hatten deren wirtschaftlichen Nutzen erkannt und profitierten davon.

Inwiefern?
Sie waren billige Arbeitskräfte. Es gab in den Waisenhäusern zum Teil Industrieschulen, in denen die Kinder Puppen produzierten oder Currypulver und Chutneys, die dann nach Europa exportiert wurden. Die Kinder wurden ausgebeutet. Allerdings gab es auch Widerstand.

Wo haben Sie das Material für Ihre Arbeit gefunden?
Das war sehr schwierig. Eine wichtige Quelle waren Zeitungen. Und dann habe ich mich auf die Archive einzelner Organisationen konzentriert – einer hinduistischen, einer muslimischen, einer christlichen sowie auf Schriften aus verschiedenen Regionalarchiven.

Wie sind Sie für diese Forschung in der Schweiz gelandet?
An der Universität in Neu-Delhi meinte eine Professorin, ich würde thematisch gut in die Forschungsgruppe des Historikers Harald Fischer-Tiné passen, der sich unter anderem mit transnationaler und globaler Geschichte beschäftigt. Da habe ich mich an der ETH beworben. Als ich hier ankam, war ich überzeugt, dass ich nach dem Ende meiner Forschung sofort wieder nach Indien zurückgehen würde.

Hatten Sie Heimweh?
Ich vermisste Indien sehr. Die Esskultur, die Gewürze, meine geliebten Chapatis, meine Freundinnen und Freunde – und das Chaos. Indien ist ein so chaotisches Land, du kannst nichts planen. Für mich beinhaltet dieses Chaos sehr viel Schönheit. Die ersten Monate hier waren schwierig, aber dann habe ich mich an das organisierte Leben gewöhnt und es zu mögen begonnen. Und dann diese Ruhe hier – plötzlich habe ich mich in die Schweiz verliebt.

Und jetzt bleiben Sie hier?
Nein, mit dem Ende meines Arbeitsvertrags läuft auch meine Aufenthaltsbewilligung ab, leider. Mittlerweile will ich auf keinen Fall für längere Zeit nach Indien zurück. Ich versuche, in Europa oder in den USA eine Postdoc-Stelle zu finden. Die Vorstellung, wieder zurück nach Indien zu müssen, ist sehr verstörend.

Weshalb?
Ich möchte als Historikerin redliche, politisch und konfessionell unabhängige sowie unideologische Forschung machen. Wenn mich diese Forschung aber zu Ergebnissen führt, die der Ideologie von Narendra Modis Regierung widersprechen, wird mich die Regierung attackieren. Der Punkt ist, dass sie Angst vor den Historikerinnen und Historikern hat. Denn wer sich der Geschichte bewusst ist, kann auch die Gegenwart einordnen.

Soni Soni (31) ist in zwei Monaten mit ihrer Dissertation fertig. Noch hat sie keine Postdoc-Stelle gefunden.