Feminismus in Afghanistan: Die Zeit des Schweigens ist vorbei

Nr. 12 –

Die Friedensverhandlungen mit den USA bringen in Afghanistan wohl die Taliban zurück an die Macht. Aus Angst vor dem reaktionären Backlash kämpfen Frauen und fortschrittliche Kreise vor allem online mit erstaunlicher Resonanz gegen die Macht der alten Garde.

Farahnaz Forotan, Aktivistin und Erfinderin von #MyRedLine, an einer Konferenz in Kabul.

In Afghanistan ist man sich auch seit dem Ende der Talibanherrschaft einiges an Schrecken gewohnt. Doch es waren nicht der Selbstmordanschlag eines Taliban oder tote ZivilistInnen nach einem Angriff von US-Drohnen, die für den lautesten Protest afghanischer Frauen sorgten – es war das Schicksal der 27-jährigen Farkhunda Malikzada, die zu Unrecht beschuldigt wurde, einen Koran verbrannt zu haben, und dafür von einem männlichen Lynchmob erst zu Tode geprügelt und dann in ein trockenes Flussbett geworfen und angezündet wurde. Junge Männer filmten die grauenvolle Tat mit ihren Handys und stellten das Video anschliessend ins Netz.

Das war im Jahr 2015, der Frühling hatte gerade begonnen, und in der afghanischen Hauptstadt Kabul gingen Hunderte, vielleicht sogar Tausende Frauen auf die Strasse, um den Mord zu beklagen. Entgegen den örtlichen Gepflogenheiten trug kein Mann das Opfer zu Grabe, es waren Frauen, die den Sarg begleiteten, in die Erde liessen, letzte Worte sprachen. Sie schworen, dass die Zeit des Schweigens vorbei sei.

Der Schmerz der Frauen

«In meinem Land werden Frauen noch immer wie Vieh behandelt. Sie werden noch immer Opfer von Gewalt, Mord und Vergewaltigungen.» Fünf Jahre nach der Tat sitzt die Journalistin und Aktivistin Farahnaz Forotan in ihrem Büro vor dem Bild einer Frau, die ebenfalls Qualen erleiden musste: dem Selbstporträt der Malerin Frida Kahlo, das diese nach einem schweren Verkehrsunfall malte. Es zeigt die Mexikanerin mit Nägeln in der Haut und einer zerbrechenden Säule anstelle ihres Rückgrats.

Forotan, Mitte dreissig, elegant, Vertreterin des Kabuler Bildungsbürgertums, ist Begründerin einer zivilgesellschaftlichen Kampagne zur Stärkung von Frauenrechten im Besonderen und Menschenrechten im Allgemeinen. Unter #MyRedLine postete sie im Frühjahr 2019 folgende Botschaft auf Twitter: «Ich bin Journalistin und will Journalistin bleiben. Meine rote Linie sind mein Stift und meine Meinungsfreiheit. Was ist eure?»

Sie rechnete mit wenig Resonanz, doch bis heute wurde der Hashtag auf Social-Media-Plattformen Abertausende Male benutzt. Hunderte Frauen und Männer haben reagiert und ihre eigene rote Linie definiert: Politikerinnen, die fordern, ein eigenes Ministerium leiten zu können, Aktivistinnen, die gesellschaftliche Beteiligung und Gleichstellung für Frauen wollen, Schulmädchen, die ihr Recht auf Bildung, Bäuerinnen, die Eigentumsrechte einfordern, Mütter, die ihre Söhne im Krieg gegen die Taliban verloren haben und endlich Frieden wollen.

Auch Männer kommen zu Wort: Ahmad Sarmast, Musiker und Direktor des afghanischen Mädchenorchesters, der die Freiheit der Musik erhalten möchte, oder Imame, die wollen, dass die Bevölkerung über die Zukunft des Landes entscheidet. Am Ende ihrer Botschaften halten sie alle ein rotes Band hoch. Manche der inzwischen siebzig Videos dauern nur einige Sekunden, andere mehr als eine Minute. Sie alle sind auf Youtube zu sehen.

Ein Wettlauf gegen die Zeit

Schnell folgten andere Forotans Beispiel: #AfghanWomenWillNotGoBack, #StandUpForHumanRights, die vom Wirtschaftswissenschaftler Sharif Safi initiierte Bewegung @RealMen, die traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit hinterfragen und aufbrechen will. Ihnen allen wäre der Erfolg vielleicht verwehrt geblieben, ginge in Afghanistan nicht die Angst um, die dunklen Zeiten, in denen Frauen rechtlos waren, kämen zurück.

Plötzlich scheint der Kampf um Rechte wie ein Wettlauf gegen die Zeit – und diesmal muss er gewonnen werden. Denn trotz des öffentlichen Aufschreis nach Farkhunda Malikzadas Tod erwies sich das Schweigen anderswo als zäh und hartnäckig.

Zwar zeigen inzwischen vermehrt Frauen ihre Männer und Verwandten an, wenn diese ihnen Gewalt antun. Aber die Zahl der Gewalttaten dürfte deswegen nicht kleiner geworden sein. Zwar dürfen Mädchen im heutigen Afghanistan zur Schule gehen, studieren, Berufe ergreifen. Doch stagniert die Zahl der alphabetisierten Frauen bei siebzehn Prozent. In Kabul arbeiten Frauen auch in höheren Positionen, bekleiden politische Ämter, besuchen Cafés und Restaurants. Ausserhalb der Hauptstadt aber und vor allem in den von den Taliban kontrollierten Provinzen – rund sechzig Prozent der Landesfläche – werden weiterhin Mädchen im Kindesalter zwangsverheiratet, als Pfand bei Fehden «verschenkt», misshandelt, um der «Ehre» willen getötet.

Inzwischen sieht es so aus, als kehrten die Taliban zurück an die Macht. Der afghanischen Frauen- und Menschenrechtsbewegung hat das einen Schub verliehen, mit dem sie sich von Kabul aus wellenförmig im ganzen Land verbreitet und über die sozialen Medien selbst entfernte Bergdörfer erreicht.

Seit 2018 führt der Abgesandte des US-Präsidenten Donald Trump Friedensverhandlungen. Trump will seine Soldaten abziehen und verhindern, dass al-Kaida in das dann entstehende Vakuum vordringt. Ausgerechnet die Taliban sollen Garanten dafür sein, dass von Afghanistan keine Terrorgefahr mehr für die USA ausgeht. Nur: Von einem Frieden ist das Land nun womöglich weiter entfernt als in den vergangenen zwanzig Jahren. An den Verhandlungen ist die afghanische Regierung bislang kaum beteiligt – und auch nur wenige Vertreter der Zivilgesellschaft. Frauenrechte haben es in den Verhandlungsrunden nicht einmal auf die Agenda geschafft.

Der neue Feminismus in Kabul findet seine Inszenierung in den sozialen Medien, seine AnhängerInnenschaft versammelt sich bei Twitter und Facebook. Die meisten Aktivistinnen sind jung. In Afghanistan, wo in allen Bereichen eine Riege von alten Männern das Sagen hat, hat das noch mal eine besondere Dimension, wenn junge Frauen Forderungen stellen.

Nach dem Erfolg von #MyRedLine hat Präsident Aschraf Ghani ein «RedLines»-Komitee gegründet, das die Interessen der Bevölkerung im laufenden Friedensprozess vertreten soll. In allen Aktionen geht es vor allem darum, die Stimmen der Einzelnen zum grossen Chor zu vereinen. Dahinter steht auch der Wunsch, das zwischen Clans und Ethnien, Krieg und Korruption, Warlords und Terrorismus zerrissene Land wenigstens auf der Ebene des Friedenswunschs zu einen.

Die weite Verbreitung über die sozialen Medien ist die Stärke der Kampagnen. Und es ist zugleich ihre Schwäche, denn sie erreichen jene Teile der Gesellschaft nicht, in denen Fundamentalismus und religiöse Eiferei gedeihen. Die aufmüpfige Jugend und die alte Garde, sie bilden Parallelwelten – doch noch bestimmen die Alten Afghanistans Zukunft und werden es noch für viele Jahre tun.

Gegen die so fest etablierten Machtstrukturen wird es unendlich viele Hashtags und Abertausende von Stimmen brauchen. Wer mit jungen Afghaninnen in Kabul spricht, erfährt schnell, dass ihre Freiheit nur so weit geht, wie es Väter, Brüder und Onkel zulassen.

Schmähungen und Überfälle

Was es heisst, dem Zorn und der Verurteilung religiöser Eiferer und Fundamentalisten ausgesetzt zu sein, erfährt Laila Haidari seit zehn Jahren. Haidari investiert ihre Kraft und ihr Geld in die Junkies von Kabul. Fast 5000 Drogenabhängige, Männer und Frauen, hat sie von der Strasse geholt, ungefähr 50 pro Monat. Sie hat sie in ein Haus gebracht, in dem sie sich waschen und schlafen können, sie hat ihnen die verlausten Haare schneiden lassen, ihnen saubere Kleidung, Essen, Gebete, Aktivitäten, vor allem aber neue Würde und so etwas wie Liebe gegeben. Die meisten, die ihr in ihr Haus folgten, waren nach ein paar Tagen wieder weg. Doch jene, die blieben, hatten gute Chancen, den Entzug zu schaffen.

Haidari ist vierzig Jahre alt, geschieden, eine kleine Frau mit rundem Gesicht und energischer Gestik. Dass sie ihr Leben ausgerechnet jenen verschreibt, die als Abschaum der Gesellschaft gelten, hat ihr Schmähungen und Todesdrohungen eingebracht. Sie sei eine schlimme Frau, die sich mit Kriminellen und Huren herumtreibe, wurde ihr geschrieben. Sie verdiene den Tod.

Um Geld für ihre Arbeit aufzubringen, betreibt Haidari in Kabul ein Restaurant, in dem viele von denen, die den Entzug schaffen, Arbeit finden. Dort lebte sie auch mit ihren drei Kindern, als vor ein paar Jahren ein männlicher Mob das Restaurant überfiel. «Sie schrien, dies sei ein Bordell. Wir sind ihnen nur knapp entkommen.» Haidari entschloss sich, einen hohen persönlichen Preis zu zahlen, und schickte ihre damals noch minderjährigen Kinder auf den Fluchtweg nach Deutschland.

Afghanistan hat die weltweit höchste Zahl an Drogenabhängigen. Es gibt viele Gründe und schnelle Wege, in die Abhängigkeit zu geraten: Krieg, Traumata, Hoffnungslosigkeit, vor allem aber die Verfügbarkeit von Drogen aufgrund des Opiumanbaus im Land. Vierzig Prozent der Junkies sind Frauen, für die es keine Hilfsangebote gibt. Laila Haidaris Frauenhaus war über viele Jahre die einzige Anlaufstelle. Sie musste es im letzten Jahr aufgrund der vielen Drohungen schliessen: «Ich konnte die Sicherheit der Frauen nicht mehr garantieren.» Ihr Haus für Männer bleibt offen.

Haidari hat selber erfahren, wie bitter es ist, wenn ein Mann über eine Frau bestimmt. Mit zwölf wurde sie verlobt, mit vierzehn verheiratet, mit fünfzehn war sie Mutter. Mit 21 erwirkte sie die Scheidung, studierte, zog schliesslich nach Kabul. «Mir half niemand.»

Bis heute ist Haidari eine Einzelkämpferin: eine alleinstehende Frau mit einer Mission, die viele als schändlich und verrucht ansehen. Die Rückkehr der Taliban, glaubt sie, werde das Ende der Freiheit sein, die sich die afghanischen Frauen erkämpft haben. «Sie haben sich nicht geändert, werden uns wieder einsperren und unterdrücken.» Vor einem Jahr hielt Haidari beim Oslo Freedom Forum einen Vortrag über ihre Arbeit und sprach am Ende von ihrer Zukunftsangst. Unter Tränen erbat sie die Solidarität der Frauen im Westen.

Der Wunsch nach Unterstützung ist verständlich. Aber er birgt die Gefahr, dass die Afghaninnen die Deutungshoheit über ihre Anliegen verlieren. Die Aktivistinnen brauchen Geld – und das kommt zumeist von US-amerikanischen Organisationen. Denn auch wenn die USA ihre Soldaten abziehen, ihren Einfluss auf Politik und Gesellschaft werden sie weiterhin ausüben wollen. Die frauen- und menschenrechtlichen Kampagnen sind das Tor dafür. #MyRedLine etwa wird von der Frauenorganisation der Vereinten Nationen unterstützt, der Aktivist Sharif Safi hat seine Erfahrungen beim United States Institute of Peace in Washington gesammelt und hofft auf weitere Unterstützung von Hilfsorganisationen.

Die #MyRedLine-Kampagne soll in diesem Jahr in eine neue Phase gehen. Nachdem Farahnaz Forotan bereits in zwei Provinzen ausserhalb Kabuls Menschen befragt und das auf Video festgehalten hat, will sie nun nach und nach alle anderen Provinzen bereisen. Ein gefährliches Unterfangen, doch Forotan sagt, sie habe keine Angst, sie sei schliesslich im Krieg aufgewachsen. «Nur so können wir repräsentativ sein und die wahren Ansichten und Bedürfnisse der Afghaninnen festhalten. Noch nie hat jemand so viele Stimmen quer durch alle Gesellschaftsschichten und alle Ethnien gesammelt. Nur so können wir zeigen, dass wir Frieden wollen, aber nicht um jeden Preis. Nicht um den Preis von Menschenrechten.»

Laila Haidari in ihrem Kabuler Restaurant, das Junkies auf Entzug beschäftigt.

Diese Recherche wurde mit einem Stipendium von «real21 – die Welt verstehen» unterstützt.