Alltag mit Covid-19: Lockdown

Nr. 12 –

Nach anfänglichem Zögern hat der Bundesrat am Montag das öffentliche Leben im Land stillgelegt. Eine Spitex-Pflegerin, eine Schulleiterin und ein Apotheker haben der WOZ in dieser aussergewöhnlichen Woche Bericht erstattet.

Schule zu – und viele Fragen offen: Verwaiste Turnhalle einer Primarschule im Kanton Bern. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Freitag, 13. März

Selten hatte eine Pressekonferenz des Bundesrats so viele ZuschauerInnen wie an diesem Nachmittag. Hunderttausende warten gebannt darauf, was die vier zuständigen MinisterInnen verkünden werden. Allein heute sind 267 neu infizierte Personen gemeldet worden, insgesamt steigt die Anzahl der an Covid-19 Erkrankten damit auf 1125.

Eindringlich appelliert Innenminister Alain Berset an die Eigenverantwortung der Bevölkerung – und verkündet weiter gehende Massnahmen. So sind bis Ende April alle Veranstaltungen mit über hundert Personen verboten, während sich in Restaurants oder Bars nicht mehr als fünfzig Leute aufhalten dürfen. Weiter bleiben die Schulen bis zum 4. April geschlossen, zudem wird die Einreise aus Italien weiter eingeschränkt. Wirtschaftsminister Guy Parmelin stellt bis zu zehn Milliarden Franken als Soforthilfe für die Wirtschaft in Aussicht.

Für Livia Kämpfen beginnt dieser denkwürdige Tag um 7 Uhr, dann besucht sie ihre erste Patientin. Kämpfen, 29 Jahre alt, arbeitet für die Spitex Oberwallis. Sie bedient die Gemeinde Visp und umliegende Bergdörfer. Sie hilft ihren KundInnen beim Duschen, bei der Blasenspülung, beim Verbandswechsel, beim Blutzuckermessen, und sie hört zu: «Sie können bei mir alles abladen, was sie bedrückt.»

Ihre PatientInnen sitzen an diesem Freitag, 15.30 Uhr, vor dem Fernseher und verfolgen die Bundesrats-PK. «Die meisten lassen sich nicht nervös machen», sagt Kämpfen. Sie sorgten sich vielleicht um eine kranke Schwester oder um FreundInnen im Altersheim, die nun keinen Besuch mehr empfangen dürfen – aber nie um sich selber. «Es braucht viel, bis diese Generation erzittert», glaubt sie.

Simona Cattaneo ist am Freitagmorgen noch unsicher, ob sie wirklich die richtige Person für eine tägliche Berichterstattung ist. Cattaneo ist Schulleiterin in Kirchberg im Emmental und Lehrerin für Textiles Gestalten. Sie schaut in die nahe Zukunft und sieht: Chaos. Weiterbildung, Schulalltag organisieren, die Zeit zu Hause mit dem Sohn. Am Ende des Tages sind diese Zweifel in Luft aufgelöst, auch weil sich die Lage bald klärt.

Livia Kämpfen, Spitex-Pflegerin in Visp und Umgebung; Lukas Korner, Apotheker in Gränichen AG; Simona Cattaneo, Schulleiterin in Kirchberg im Emmental.

Schulschliessung. Alle Lehrer setzen sich zusammen, diskutieren die drängenden Fragen. Wie sichern wir die Betreuung für alle Kinder? Und wie organisieren wir den Material- und Stoffaustausch, um die Kinder weiter zu unterrichten? Später am Abend, als Cattaneo ihren Sohn ins Bett bringt, denkt sie: «Wenn er jetzt so lange zu Hause ist, dann kriegt er hoffentlich gutes Material von der Schule. Sonst drehe ich durch.»

Im aargauischen Gränichen macht die Apotheke um 18.30 Uhr zu. Kurz vor Ladenschluss, unmittelbar nach den Anordnungen aus Bundesbern, bestürmen KundInnen den Betrieb von Lukas Korner. Der 38-Jährige führt die Apotheke seit neun Jahren, er hat sie von seinem Vater übernommen. Als er den Kassenabschluss macht, stellt er fest: Es war der vermutlich umsatzreichste Tag in der Geschichte seines Geschäfts.

«Wir kommen nicht mehr nach», sagt Korner. Vor allem der Bedarf an Desinfektionsmittel sei exorbitant. Korner stellt die Mittel im hauseigenen Labor selber her. «Mir macht diese Intensität Sorgen. Alle 25 Mitarbeiter bolzen Überstunden – wie lange geht das noch gut?»

Samstag, 14. März

Also doch: Nachdem der Bundesrat tags zuvor noch gesagt hatte, dass das Parlament weiterhin wie geplant tagen könne, weil es «ein Arbeitsort» und keine «Veranstaltung» sei, geben die Parlamentsdienste wegen der sich «rapide verschlechternden Lage» am Abend die Absage der dritten und letzten Sessionswoche bekannt. Zuvor war die Verwaltung kritisiert worden, weil einige ParlamentarierInnen zur Risikogruppe gehören. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) meldet derweil 234 Neuansteckungen. Und die ReporterInnen der Medienportale wagen sich ins Nachtleben. Es sei Schluss mit Party, hatte Innenminister Alain Berset gestern gesagt. Nun gilt es zu überprüfen, ob sich die Jugend des Landes an die Weisung hält.

Simona Cattaneo beginnt den Tag mit schwierigen Gedanken. Sie fragt sich, wie sie damit umgehen soll, plötzlich fremdbestimmt zu sein. Dann ruft die Pflicht. In der Schule erfährt sie von einem Ansturm der Eltern am Vorabend, die Schulmaterial und Turnsäcke holen kamen. «Da sind wohl bei ein paar Leuten die Sicherungen durchgebrannt», sagt die Schulleiterin.

In der Aula findet eine Krisensitzung mit anderen Schulleiterinnen, Hausmeistern, GemeindepolitikerInnen statt. Immer schön zwei Meter Abstand, «so, wie die Reben auf Lanzarote gepflanzt werden». Sie setzen einen Infobrief auf, halten fest, welche Eltern sie anrufen müssen, weil diese nicht lesen können. Cattaneo entwickelt Ideen für die kommende Zeit. Sie wollen täglich die Bibliothek aufmachen und Bastelsäcke für die Kinder bereitstellen: «Es gibt Haushalte, die haben nicht einmal eine Schere zu Hause.»

«Die Massnahmen des Bundesrats haben etwas ausgelöst», stellt Livia Kämpfen in Visp fest. Sie hat Wochenenddienst. Am Morgen sucht sie ein altes Ehepaar auf, der Mann wirkt verängstigt: «Er hat sich viel Desinfektionsmittel besorgt und das ganze Haus geputzt.» Der Mann sorgt sich um seine Frau, weil sie eine Vorerkrankung hat. Als Kämpfen sie darauf anspricht, zuckt sie mit den Schultern und meint, jemand müsse ja auch der lockere Typ sein in einer Beziehung.

Kämpfens nächste Patientin ist schon weit über achtzig Jahre alt. Sie beschwert sich über den Mundschutz, er irritiere sie. Kämpfen erklärt der alten Frau, dass dieser sie vor einer möglichen Infektion bewahren soll. Doch die Frau winkt ab: «Wenn ich das bekomme, dann soll es halt so sein.»

Von Oberwalliser Gelassenheit ist in der Apotheke in Gränichen nichts zu spüren. «Heute werden wir wieder von Kunden überrannt», sagt Korner in sein Telefon. «Ich spüre die Angst der Leute.» Sie wollen sich mit Medikamenten jeder Art eindecken, weil sie befürchten, dass auch andere Wirkstoffe bald knapp werden.

Korners Alkoholvorräte gehen zur Neige. Er hat glücklicherweise noch einen Lieferanten für ein weiteres Fass gefunden. Die Herstellung der Desinfektionsmittel absorbiert zu viele Ressourcen. Eigentlich müsste er sie aus betrieblichen Gründen einstellen. «Aber mein Berufsstolz lässt nicht zu, dass ich unsere Kunden im Stich lasse», sagt Korner.

Sonntag, 15. März

Bei strahlendem Sonnenschein trotzen die Menschen dem aufziehenden Ausnahmezustand, am Nachmittag tummeln sich in den Zürcher Cafés und rund um das Seebecken die SpaziergängerInnen. Und längst nicht nur dort. Vom angemahnten Social Distancing oft keine Spur.

Livia Kämpfen geht auch heute Verbände wechseln und PatientInnen duschen. Der Apotheker Lukas Korner nutzt die freie Zeit, um Backoffice zu machen. Und für Schulleiterin Simona Cattaneo beginnt der schwierigste Tag der Woche.

Cattaneo liest die Zeitung. Darin steht, dass die Schulen vielleicht bis im Sommer geschlossen bleiben. «Mir ging der Laden runter, das nimmt alles ein Ausmass an, das mein Vorstellungsvermögen übersteigt.» Sie überlegt sich, dass das Radio Singstunden senden sollte. Die Texte wären online auffindbar, «und wenn die Krise vorbei ist, können alle Kinder die gleichen Lieder singen». Cattaneo verflucht die Ruhe, sie sehnt die nächste Aufgabe herbei. Sie trifft sich mit FreundInnen, vier Erwachsene, vier Kinder. Sie trinken zusammen Weisswein, ein letztes Mal vielleicht. «Es war alles so normal, der Himmel blau, fast kitschig, aber da braut sich etwas Unglaubliches zusammen.»

Das BAG kommuniziert: Die Zahl der Neuinfizierten schnellt auf 841 hoch. Zunehmend wird klar, dass die beschlossenen Massnahmen zu wenig fruchten. Am Abend trifft sich der Bundesrat zu einer Krisensitzung, was dort besprochen wird, bleibt vorerst unbekannt.

Montag, 16. März

Im Lauf des Tages wird immer klarer, dass es kein Zurück mehr gibt. Alle warten auf die nächste Pressekonferenz des Bundesrats, während in Deutschland, Österreich oder Frankreich die Läden schliessen und der Grenzverkehr zunehmend eingestellt wird. Einer nach dem anderen rufen die Kantone den Notstand aus, womit das öffentliche Leben zum Erliegen kommt. Gemäss Daten der Weltbank verzeichnet die Schweiz nach Italien pro Kopf die meisten Coronafälle.

Um 17 Uhr tritt dann endlich der Bundesrat vor die Presse. Ein Land wartet auf den Lockdown. Was nun verkündet wird, ist ohne Beispiel. Ab jetzt gilt die «ausserordentliche Lage» – und damit de facto Notrecht. Bis am 19. April bleiben Geschäfte, Restaurants, Bars, Unterhaltungs- und Freizeitbetriebe geschlossen. Von der Verordnung ausgenommen sind Lebensmittelläden und Gesundheitseinrichtungen.

Insgesamt gibt es in der Schweiz nun 2300 bestätigte Coronafälle, 14 Personen sind an den Folgen der Atemwegskrankheit gestorben.

Livia Kämpfen erwischt der Lockdown auf dem falschen Fuss. «Ich bin jetzt gerade ein bisschen von all dem überrascht … Können wir morgen telefonieren?»

Anders ist die Gemütslage bei Simona Cattaneo im Emmental. «Ich bin heute recht zuversichtlich. Das hat natürlich mit dem Arbeiten zu tun, damit, dass etwas gelaufen ist, dass man die Kinder nicht alleinlässt.» Am Morgen versammeln sich die Lehrpersonen und SchulleiterInnen in der Aula, sie organisieren die kommenden Tage. Morgen werden die Schulkinder tröpfchenweise ihre Bücher, ihre Hefte und ihre Turnsachen abholen. Alle helfen mit, alle bleiben fokussiert. Cattaneo fühlt sich gut. Die Pressekonferenz des Bundesrats verfolgt sie in ihrem Unterrichtszimmer. Sie hört zu und füllt weiter Säckchen mit Nadeln und Fäden auf, damit die Schulkinder daheim häkeln und nähen können. Schliesslich leert sie den Kühlschrank im Lehrerzimmer: drei harte Eier, eine selbstgemachte Salatsauce, Butter und ein Bier. Das nimmt sie auf den Zug mit und teilt es mit einer Kollegin. «Wir haben es in unsere Feldflaschen gekippt, das war grusig, aber ein recht schöner Tagesabschluss.»

Lukas Korner wiederum macht sich am Tag des Lockdownentscheids in seiner Apotheke grundsätzliche Gedanken: «Ich bin ganz sicher kein Linker. Aber diese Krise ist eine Krise der Globalisierung, des entfesselten Kapitalismus. Ich hoffe, dass wir daraus unsere Lehren ziehen.» Die Lage ist angespannt. Auf SRF gab es einen Beitrag über drohende Medikamentenengpässe, «jetzt sind einige unserer Kunden nervös». Er ist sich nicht sicher, was er ihnen raten soll: «Einerseits will ich nicht, dass sie Medikamente hamstern, andererseits ist es ja vielleicht wirklich ratsam.» Noch gibt es Lagerbestände, aber vermutlich werden diese im Herbst aufgebraucht sein. Dann kommt die Medikamentenkrise – und Korner sagt, er sehe keinen Weg, sie aufzuhalten.

Dienstag, 17. März

Das öffentliche Leben ist endgültig zum Erliegen gekommen. Restaurants, Kinos, Bibliotheken und selbst die Fitnesszentren bleiben geschlossen. Die Spitäler rüsten sich für die erwartete massive Zunahme an schwer erkrankten PatientInnen.

Die Verunsicherung ist gross, viele Fragen bleiben offen: Wie überstehen die vielen kleinen Geschäfte oder die selbstständigen KünstlerInnen diese Krise? Wer darf seine Kinder eigentlich noch in die Kita schicken? Wie ist die Lage in den Asylunterkünften und Gefängnissen? Bis Mitternacht sind noch keine neuen Zahlen zu den Coronaerkrankten und -verstorbenen kommuniziert. Das BAG kommt mit dem Erfassen nicht nach.

Am Ende unseres Austauschs haben wir alle um ein Fazit der letzten Tage gebeten.

Simona Cattaneo macht sich Gedanken, wie sie und ihre KollegInnen den Schulkindern und ihrem Umfeld etwas bieten können, was wirklich einen Wert hat. Die grösste Herausforderung werde sein, «dass wir uns als Gruppe nicht verlieren und auch ohne physische Präsenz verbunden bleiben».

Lukas Korner, der auch Präsident des Aargauischen Apothekerverbands ist, wird noch einmal politisch. Er erwartet, dass die 1800 Apotheken im Land mit ihren 25 000 Angestellten künftig eine grössere Rolle spielen: «Wir können impfen, wir können Tests durchführen – wenn man uns nur lässt.»

Für Livia Kämpfen schliesslich sticht die Solidarität heraus. Sie erzählt, dass im Oberwallis nun StudentInnen die Pensionierten mit Mahlzeiten versorgen. Auch sie als Spitex-Pflegefachfrau erfährt viel Zuspruch: «Alle meine Kundinnen und Kunden sind froh, dass ich sie besuche. Sie sind sowieso dankbar, aber jetzt ist die Wertschätzung nochmals gestiegen. Das erleichtert mir das Leben in dieser seltsamen Zeit sehr.»