Von oben herab: Föderal geht viral

Nr. 13 –

Stefan Gärtner über Flickenteppiche und Zehnjährige in Hamburg

Föderalismus ist, wie alle schönen Dinge, zuweilen anstrengend, und wie gern würde ich auf die allfrühjährlichen Presseklagen über das ungerechte deutsche Abitur verzichten, das die Bundesländer nach je eigenen Vorstellungen veranstalten. In Bayern ist das Abitur ohne Hochschulabschluss letztlich nicht zu schaffen, in Hamburg genügt es, den Namen aufs Papier zu setzen, wobei bis zu drei Fehler toleriert werden. Das Gelärme darum gehört fest zum deutschen Spielplan, denn die Deutschen ertragen es nicht, wenn Zukunftschancen vom Wohnort abhängen, es sei denn, der Wohnort ist Afrika oder die Sozialsiedlung. Dann ist das nämlich Schicksal und Gottes weiser Wille.

Bei der Abstimmung in Sachen Corona soll es zwischen den Oberhäuptern der deutschen Länder gekracht haben, denn Bayerns Söder prescht ständig vor, und alle anderen sollen hinterher, und das wollen sie nicht. Söder wiederum will sich seinen Lauf als Vorzeigekrisenmanager nicht stören lassen, und die Bundesregierung kann im Wesentlichen nur Empfehlungen geben. Kommentare in Presse, Funk und Fernsehen sind entsetzt, weil sie die Gefahr eines «Flickenteppichs» aus Regelungen sehen; allerdings gilt im Föderalismus halt vieles bloss regional, und das ist eigentlich auch kein Problem, von der Sache mit der Schule abgesehen. Wer mit einem Zehnjährigen von Hamburg nach Bayern zieht, muss ihn nicht aufs Gymnasium vorbereiten, sondern auf die Einschulung, während der bayerische Zehnjährige in Hamburg bereits Abitur machen kann. Die Leute haben den ganzen Tag den Kopf überm Handy, aber nachzusehen, ob sie sich nun zu zweit oder zu sechst im Freien aufhalten dürfen, das trauen ihnen die Medienkräfte (als wohlgemerkt Medienkräfte) nicht zu; doch die deutsche «Tagesschau», hiess es mal, versteht auch bloss jedeR Zehnte. Warum sie die anderen dann überhaupt gucken, verriet die Untersuchung nicht.

In der Schweiz ist der Föderalismus bekanntlich noch einigermassen stärker als im Reich, und die Flicken im Teppich sind zwar kleiner, aber es gibt viel mehr davon. «In den letzten Tagen und Wochen präsentiert sich die Schweiz in der Coronakrise als das, was sie ist: ein föderalistischer Staat mit souveränen Kantonen, die Massnahmen beschliessen», präsentierte sich srf.ch als das, was es seinerseits ist: eine souveräne Stimme der soliden, eingängig formulierten Information. «Wie effizient ist das Krisenmanagement in der Schweiz, wenn der ‹Kantönligeist› dem Bundesrat immer wieder in die Quere kommt? Das Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Philipp Trein», das acht Minuten, fünfzig Sekunden dauert und das ausgelassen zu haben uns vermutlich auch nicht dümmer zurücklässt. Denn nationales Krisenmanagement und Kantönligeist gehen schon wesensmässig nicht zusammen, wenn ich das als Politikwissenschaftler (Nebenfach, Abschlussnote «mässig») mal so schlaglichtartig zusammenfassen darf.

In Deutschland werden zzt. allerlei Besinnungsaufsätze veröffentlicht des Inhalts, wie sehr der Notstand die Demokratie gefährde, denn plötzlich müssen wir uns alles gefallen lassen. Auch ohne Notstand muss man sich in Deutschland aber alles gefallen lassen, doch kann man dabei im Eiscafé sitzen und online Quatsch bestellen. Dass das nicht mehr geht, ist die grosse Gefahr für die Postdemokratie. «Mit jedem Tag Ausgangssperre wird die Akzeptanz hierfür in der Bevölkerung abnehmen», prophezeit der Schweizer Thomas Straubhaar, Professor für internationale Wirtschaftsbeziehungen in Hamburg, auf capital.de, und da ist es misslich, dass sich die deutschen Bundesländer nun auf ein gemeinsames Vorgehen geeinigt haben. Wer sich dem bayerischen Abitur nicht gewachsen fühlt und in Grenznähe wohnt, kann in Hessen zur Schule gehen, aber wer sein Eiscafé vermisst, hat jetzt auch kein hessisches mehr.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.