Wichtig zu wissen: Die Immuninaten

Nr. 14 –

Ruedi Widmer über Läden, Lieferketten und Durchhaltewillen

Die verweichlichte SVP von heute hätte im Zweiten Weltkrieg das Réduit bereits nach zwei Wochen aufgegeben, weil sie plötzlich die Haare selber hätte schneiden müssen und die Villa selber putzen. Wenn die Putzfrau plötzlich nicht mehr kommt, dann steht der aufrechte Businessschweizer hilflos in seiner Immobilie und will sofort «die Läden» wieder öffnen.

Was soll man auch ohne Läden machen. Ich hatte schon immer Angst um die Shoppingjugend, also die Jugend, die seit vierzig Jahren jeden Samstagnachmittag auf unseren Strassen und in unseren Fussgängerzonen mit prall gefüllten H&M- oder Metro-Boutique-Plastiksäcken demonstrierte, ohne dass es jemanden gestört hätte. Bei jeder Wirtschaftskrise dachte ich an sie und begann mich zu sorgen, wenn das Geld plötzlich nicht mehr kommt, was machen die dann in ihrer Freizeit? Was ich nie bedacht hatte: Was, wenn sie nicht mehr in die Läden gehen können, weil die zu sind?

Jetzt kommt halt der Laden zu den Leuten, wie einst der Migros-Wagen. Gestern irrte sich ein indischer Home-Delivery-Mann in der Tür und läutete bei uns. Das ist natürlich auch eine gute Werbung. Dass es indisches Essen war, erinnerte wenigstens noch etwas an die weltgewandten Zeiten, die gerade vorübergegangen sind, denn langsam kommt in der menschenleeren Innenstadt eine Stimmung auf, die eher an noch frühere Zeiten gemahnt: Kriegswirtschaft, Anbauschlacht, Essenspunkte, Verdunkelungen, Suppenküchen, Réduit, General Bersets Appell um 16 Uhr, Heil dir, Sommaruga und andere geistige Landesverteidigungen.

Wenn die Shoppingjugend nicht mehr shoppen kann, flatet die Curve der Markenkleider ab, und die erst noch modisch gestylten Rihannas und Billie Eilishs beginnen wie Trümmerfrauen auszusehen, und die Jay-Zs und Weeknds irren mit ihren Sneakers durch unsere Wälder wie verstörte Soldaten, die ihre Truppe verloren haben. Halt – halb so schlimm, dank Amazon und Zalando ist die Lieferkette gesichert, und jede Lieferung kann zurückverfolgt werden, bis genau ins Verteilzentrum zurück, dem Ischgl des Kapitalismus, dem materiellen «Kitzloch», aus dem sich der ganze Ramsch des Glanz und Gloria über Europa verbreitet hat und weiter verbreiten wird.

Draussen, wo langsam alles Vertraute etwas Corona angesetzt und im Einkaufszentrum einzig die orange Ansteckungskette ihre Pforten geöffnet hat, herrscht eine gespenstische Ruhe, eine Science-Fiction für uns alle, und zwar eine Serie, und wir sind erst in Folge zwei der ersten Staffel, und wie bei allen Serien wirds ab der dritten Staffel einfach scheisse, und genau so wird es auch draussen.

Das «Öffnet die Läden» der SVP ist auch ein Hilfeschrei jener, die mit solchen Situationen nicht umgehen können; die es gewohnt sind, ihre Grossmütter für jeden monetären Vorteil zu verkaufen, und denen es auch keine grosse Rolle spielt, wenn diese Grossmütter sterben. Die SVP hat auch ein klares Vorbild: An Ostern ist in den USA alles wieder offen, und die Ansteckungsfälle «tendieren gegen null», wie der Zuständige des Entwicklungslandes, Dr. med. Trump, schon am 10. März den JournalistInnen per Speichelwolke ins Diktiergerät nieste. Osterverkehr dieses Jahr also bitte in die USA und nicht ins Tessin.

Unsere Hoffnung beruht ganz auf den Immuninaten, diesem wachsenden Geheimorden von superpotenten Supermenschen, denen kein Virus mehr etwas anhaben kann. Man kann sie nicht erkennen, weil sie sich unter uns mischen, als wären sie Normalsterbliche wie wir. Sie stayen at home wie wir, sie geben keine Hände wie wir, und sie distanzieren sich sozial wie wir. Sie behaupten, sie wollten nicht dazu beitragen, dass die Sitten unnötig verluderten, und deshalb verhielten sie sich nicht so, wie sie es könnten. Sie sind Ausserirdische unter uns – und werden eine neue Weltordnung aufbauen.

Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur. Auf die Frage, ob er zu den Immuninaten gehöre, verweigert er jegliche Antwort.