Auf allen Kanälen: Gegen die Gedankenarmut!

Nr. 15 –

Einschätzungen zu Tests, Masken und Impfstrategien gibts schon genug. Ein kleiner Streifzug durch Gedankengänge und Thesen von NichtvirologInnen.

Gebannt starren wir auf Fallzahlen und Ansteckungskurven, deren logarithmische Stauchung schon in der Schule Kopfzerbrechen bereitete, und drohen dabei geistig immer mehr zu verkümmern. Ins Überangebot an Yogaübungen, Rezepten für Sauerteigbrot und gegen die innere Unruhe möchte man deshalb hineinrufen: Auch intellektuelle Perspektiven stärken die Immunabwehr! Die erste Übung im Kopftraining kommt von der britischen Feministin Laurie Penny. Im Magazin «Wired» erinnert sie daran, dass all die Katastrophenfilme der letzten Jahre keine gute Vorbereitung auf den Coronaernstfall mit Hausarrest waren.

Düstere Schlüsse

Weit und breit sind heute keine versprengten männlichen Helden zu sehen, die todesmutig durch die rauchenden Trümmer der Zivilisation stampfen. Stattdessen: eine recht unbewegliche Masse, die folgsam zwischen Homeoffice, Kühlschrank und Sofa hin- und herpendelt. Dazu kommt eine – mehrheitlich weibliche und schlecht bezahlte – taffe Einsatztruppe aus «Gesundheits- und anderen Care-Arbeiterinnen». Sie halten die Gesellschaft am Laufen. Die wahre Katastrophe sei, so Penny, sowieso nicht das Virus, sondern der Kapitalismus, der einen «Kult des Todes» pflege. Sie hat offenbar viel US-Fernsehen geschaut die Tage und erzählt von den dort auftrumpfenden Superreichen und rechten Trollen, die kaltschnäuzig «Millionen Tote» in Kauf nehmen würden, nur um die eigenen Reichtümer zu wahren.

Ebenfalls um Tod und Überleben der Zivilisation geht es Masha Gessen im «New Yorker». Sie stellt die weiterhin unterbelichtete Frage nach den politischen und sozialen Folgen des Lockdowns: «Indem wir uns brav in unsere Wohnungen zurückziehen, den öffentlichen Raum verwaisen lassen und alle Befehlsgewalt einem starken Mann mit Ausnahmevollmachten überlassen, schaffen wir eine autoritäre Gesellschaft, wie sie im Schulbuch steht.» Gessen ist auch irritiert darüber, dass angesichts der eklatanten Unfähigkeit Donald Trumps nun plötzlich viele den minimal weniger unfähigen Gouverneur von New York, Andrew Cuomo, so toll finden.

Ähnlich düstere Schlussfolgerungen zieht der gern etwas tollkühn argumentierende Zeitgeistphilosoph Byung-Chul Han in der «Welt». Überwachen und Strafen oder Einsperren und Strafen: So sähen heute die zwei vorherrschenden weltweiten Virenbekämpfungsstrategien aus. Mit leichtem Vorteil fürs Überwachen und Strafen, wie der gebürtige Südkoreaner und Wahlberliner ausführt. Diverse asiatische Länder, die ihre Bevölkerung schon länger digital rundumüberwachten, hielten die Epidemie – allem Anschein nach – noch am besten in Schach.

Geistige Erneuerung

Doch könnte es auch ganz anders kommen; die Situation ist offen. In der «taz» verweist Milo Rau auf die Möglichkeit einer quasi antiautoritären Wende. Der Theatermann, der ein Projekt mit Landlosen im Amazonasdschungel von Brasilien unterbrechen musste, denkt zurück an die Französische Revolution: «Die Hungernden marschierten aus ihren Vorstädten auf die Paläste. Und Marie-Antoinette verlor ihren Kopf.»

Wird auch Bolsonaro stürzen – oder endgültig zum Diktator werden? Rau mag nicht spekulieren, sondern hofft auf eine «geistige Erneuerung», die er allerdings nicht aus den «Gated Communities» des «autoritären Neoliberalismus» heraufziehen sieht. Die künftige Philosophie werde «aus den Wäldern kommen, aus den Favelas und den Banlieues, aus besetzten Häusern und Monokulturen». Schafft sich hier einer sehenden Auges gleich selbst ab? Da die PhilosophInnen aus den Wäldern aber vorläufig auf sich warten lassen, bleiben wir noch kurz bei Rau: «Dass die Herrschenden den Beherrschten eine Philosophie des Verzichts lehren wollen – diese Ironie werden sich die ‹Überflüssigen› nicht gefallen lassen.»

Zu den «Überflüssigen» hat auch die Historie einiges zu sagen. Die «London Review of Books» warf kürzlich mit einer Buchrezension ein Schlaglicht auf die Pest in Florenz von 1629. Anstatt die Armen im Stich zu lassen, versorgte die Sanità, eine prototypische städtische Gesundheitsversorgung, sie grosszügig mit Essen und Medizin. Das Resultat: massiv weniger Pesttote als in anderen Städten – und zumindest die Ahnung einer neuen Solidarität. Manchmal könnte man eben doch aus der Geschichte lernen.