Heuschreckenplage: Jetzt droht der grosse Hunger

Nr. 19 –

Im Schatten der Covid-19-Krise vermehren sich die riesigen Schwärme der Wüstenheuschrecke ungebremst. Eine neue Welle dürfte bald die Ernte von Millionen OstafrikanerInnen vernichten.

Ein Schwarm in Kenia bedeckte eine Fläche grösser als der Kanton St. Gallen: Kampf gegen die erste Heuschreckenwelle, 200 Kilometer östlich von Nairobi. Foto: Dai Kurokawa, Keystone

Sie sind zahlreich, aggressiv und zerstörerisch, sie sind ausgeprägte Überlebens-, Verwandlungs- und Fortpflanzungskünstlerinnen. Die Rede ist hier nicht von neuen Coronaviren, sondern von Wüstenheuschrecken. Die Insekten entwickelten bereits im letzten Jahr eine Dynamik, die mit der einer Epidemie vergleichbar ist.

Doch die grösste Heuschreckenplage seit vielen Jahrzehnten hat ihren Höhepunkt noch längst nicht erreicht; immer mehr und grössere Schwärme werden wohl noch jahrelang ganze Ernten im Globalen Süden vernichten. Besonders hart trifft es den Nordosten des afrikanischen Kontinents.

Klimaerwärmung und Kriege

Die Wüstenheuschrecken wohnen eigentlich, wie es ihr Name sagt, in Wüsten, wo sie ein karges und einsames Leben fristen. Grosse Schwärme entstehen selten – nach längeren Perioden heftiger Regenfälle. Wetterphänomene, die durch die Klimaerwärmung häufiger geworden sind, darunter mehrere Wirbelstürme, liessen bereits 2018 die ersten Schwärme im Süden der Arabischen Halbinsel gedeihen.

Aus flugunfähigen sogenannten Hopper Bands bilden sich Schwärme mit oft mehreren Milliarden Tieren. Alle drei Monate entsteht eine neue Generation – und jede ist bis zu zwanzigmal grösser als die vorangegangene. Die Heuschrecken breiteten sich zuerst im kriegsversehrten Jemen aus, wo sie weder überwacht noch bekämpft werden konnten. 2019 segelten die ersten Schwärme mit den Winden nordostwärts, über den Iran nach Pakistan und Indien, wo sie von ausserordentlich starken Monsunregen profitierten. In der zweiten Jahreshälfte flogen Schwärme südwestwärts zum Horn von Afrika, wo sie sich, nach einem weiteren wasserreichen Wirbelsturm, besonders im kriegsversehrten Somalia weiter fortpflanzen konnten. Von Dezember bis Februar breiteten sie sich auch in Kenia, Uganda und Tansania aus.

Das war die erste Welle in Ostafrika. Sie verlief einigermassen glimpflich, denn die Ernten waren grösstenteils bereits eingefahren. Die meisten Schwärme blieben in der Region und legten Eier. Aus den neuen Hopperbanden sind nun wieder neue Schwärme entstanden. Jeder von ihnen nimmt typischerweise eine Fläche von rund hundert Quadratkilometern ein – mehr als die Stadt Zürich. In Kenia ist auch schon ein Schwarm von 2400 Quadratkilometern gemessen worden – grösser als der Kanton St. Gallen. Die zweite Generation in Ostafrika ist gerade dabei, ihrerseits Eier zu legen. In Kürze entstehen daraus neue Hopperbanden – die dritte Welle.

Der leitende Heuschreckenprognostiker der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO), Keith Cressman, erwartet, dass einige der neuen Schwärme ab Ende Juni auch im Sudan einfallen werden, also just zu Beginn der Haupterntezeit und in einem Land, in dem bereits jetzt über sechs Millionen Menschen auf Nothilfe angewiesen sind.

Daneben werden fruchtbare Gebiete in Somalia, Äthiopien und Eritrea betroffen sein, prognostiziert Cressman. Zudem bilden sich auch in Saudi-Arabien und im Jemen weiterhin Schwärme, die sich teils wieder ans Horn von Afrika, teils wieder auf den indischen Subkontinent und sogar bis nach China ausbreiten könnten.

Kurzfristig statt nachhaltig

Noch bleiben in Ostafrika ein paar Wochen, um die dritte Welle zu verhindern oder wenigstens einzudämmen. Doch dazu müssten nun enorme Kräfte für die Bekämpfung mobilisiert werden. Was schon zuvor mehr schlecht als recht geklappt hatte, wird nun zusätzlich durch die Covid-19-Krise verschärft.

Die globalen Massnahmen zur Bekämpfung der Heuschreckenplage und zur Sicherstellung der Ernährungssicherheit werden von der FAO koordiniert. Cyril Ferrand, der Leiter des sogenannten Resilienzteams der FAO in Ostafrika, beschreibt die Herausforderungen in den derzeit am meisten betroffenen Gebieten in Somalia, Äthiopien und Kenia: «Wir sind bei der Lieferung von Pestiziden mit Verzögerungen konfrontiert. Und in Äthiopien mussten ausländische Flugteams, die die Pestizide aus der Luft versprühen sollten, wegen der Anticoronamassnahmen der Regierung erst einmal vierzehn Tage in Quarantäne.»

Gemäss FAO ist bei adulten Heuschreckenschwärmen einzig das grossflächige Versprühen hochgiftiger chemischer Pestizide aus der Luft effektiv. In Somalia kann wegen des Konflikts mit der Terrororganisation al-Schabab jedoch in vielen Gebieten nicht geflogen werden, hier wird hauptsächlich mit am Boden versprühten biologischen Insektiziden gearbeitet. Doch die dringend benötigten Biopestizide seien mit einer Verspätung von fast einem Monat eingetroffen, sagt Ferrand: «Das hat die Bekämpfung in Somalia stark zurückgeworfen.»

Ferrand kritisiert zudem, dass derzeit nur die kurzfristigen Bekämpfungsmassnahmen genügend finanziert seien, nicht jedoch die mittelfristigen Überlebenshilfen. «Wenn nicht rasch mehr finanzielle Mittel zur Verfügung gestellt werden, können wir nur jede zweite betroffene Familie unterstützen», sagt Ferrand.

Millionen Kleinbäuerinnen und Hirten in Ostafrika sind schon jetzt durch meist drastische nationale Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus gefährdet: Viele haben keinen oder nur erschwerten Zugang zu regionalen Märkten, ihr Einkommen tendiert nun gegen null. Im Gegensatz zu armen StadtbewohnerInnen konnten sich die ländlichen Gemeinschaften bisher trotz Lockdown zumindest teilweise selbst ernähren. Wenn die Heuschrecken kommen, droht aber auch auf dem Land der grosse Hunger.

Im schlimmsten Fall vernichtet die jetzige zweite Welle die frisch gepflanzten Setzlinge – und die dritte Welle anderswo die Ernte. Jede einzelne adulte Heuschrecke frisst täglich ihr eigenes Körpergewicht an Grünzeug – ein typischer Schwarm verzehrt so viel Nahrung wie 35 000 Menschen.

Mangelhafte Überwachung

Selbst wenn in einem Gebiet die Heuschreckenbekämpfung erfolgreich ist, ist die Bevölkerung gefährdet. Denn die chemischen Pestizide töten auch nützliche Insekten und gefährden die Gesundheit der Menschen und ihrer Nutztiere. Um solche Pyrrhussiege zu vermeiden, gäbe es eigentlich zielgerichtetere Strategien. Das Internationale Insektenforschungsinstitut (Icipe) und das Internationale Institut für tropische Landwirtschaft hatten schon vor Jahrzehnten nachhaltige Methoden entwickelt, die unter anderem auf biologischen Pestiziden beruhen.

«Dazu muss der Schwerpunkt jedoch auf einer guten Überwachung, Vorbeugung und frühzeitigen Behandlung der Brutgebiete liegen», sagt der Agrarwissenschaftler Martin Fischler von der Schweizer Entwicklungsorganisation Helvetas. «Sind die Schwärme erst einmal in der Luft, gibt es kaum eine Alternative zum flächenhaften Besprühen mit Pestiziden.»

Baldwyn Torto vom Icipe in Kenia bedauert, dass es in Ostafrika noch immer keine genügenden Überwachungssysteme gibt: «Obwohl die FAO die Heuschreckeninvasion voraussagte, liessen sich die Regierungen der Region überraschen», sagt der ghanaische Insektenforscher, der in den neunziger Jahren die Icipe-Methode mitentwickelt hatte.

So viel ist klar: Ohne die Überwachung der Brutstätten und die frühzeitige Bekämpfung der Jungtiere könnte die Heuschreckenplage noch lange weitergehen. Bis alles überstanden ist, könnte es deutlich länger dauern als bei der Covid-19-Pandemie. Die FAO rechnet jedenfalls nicht in Monaten, sondern in Jahren.