Erwachet!: Warum sie klatschen

Nr. 20 –

Michelle Steinbeck wird zu laut

Sonntagabend vor der neuen Normalität. Wir sitzen hinter dem Haus meiner Mutter, blaue Stunde, die Schwalben schrieksen. Meine Schwester liegt auf dem Gartentisch im Macbook, die abrasierten Haare sind nachgewachsen, sie sagt: Vielleicht komme ich auch heim. Meine Mutter fragt: In Wien sind die Geschäfte auch wieder offen, gell? Sie ruft noch einmal unseren Bruder in L. A. an, aber der schläft noch.

Ich erzähle von einem Dokfilm über New York, in der ein dubioser Anwalt bei einem ehemaligen Kunden kiloweise Fleisch besorgt hat, das er nun an Bedürftige verteilt. Vor einem luxuriösen Pianogeschäft empfängt ihn ein Mann im Anzug. «You like steak, right?», ruft der Anwalt und wuchtet eine Kiste aus dem Kofferraum. Der Pianoverkäufer knetet die Hände und wiegt den Kopf. Er ist es nicht gewohnt, Almosen zu empfangen. Dann spielt er auf einem Steinway, seine Finger fliegen über die Tasten, der Anwalt hört mit geschlossenen Augen zu.

Meine Mutter sagt: Kennt ihr auch Leute, die sagen, dass sie in dieser Zeit zum ersten Mal runterfahren konnten? Die von Entschleunigung reden und es irgendwie geniessen konnten, endlich zu sich zu schauen, Yoga zu machen und Brot zu backen? Ich hatte das nicht, und nun fühle ich mich, als hätte ich ihn verpasst, den kurzen Moment der Ruhe.

Ja, sage ich, dafür müsste es ein Wort geben.

Weil Ueli Maurer nicht mehr wohl ist in seiner Haut, muss meine Mutter zurück ins Klassenzimmer, wie alle anderen LehrerInnen in der Schweiz. Russisch Roulette, sagt sie. In zwei Wochen wissen wir dann Bescheid, ob das Experiment erfolgreich war oder ob ich krank geworden bin. Daniel Koch meint, wir sollen auf die Singstunde verzichten, wegen dem Infektionsrisiko.

Es ist wirklich zu blöd. Gedacht zu haben, wir in der Schweiz, quasi im Auge des Tigers, wären vor der unmittelbaren Gewalt des Kapitalismus geschützt. Nein, vor dem Kapital sind wir alle gleich. Statt Schutzmasken teilt es sinnentleerte Eigenverantwortung aus: Alle zurück auf die Posten! Mit jedem Tag zu Hause steigt auch die Gefahr, wir könnten erkennen, dass der Markt überhaupt nichts regelt, dass wir im Gegenteil einmal mehr seinen inkontinenten Arsch retten müssen. Selbst wenn wir dabei draufgehen, müssen wir ihm dienen; dafür sind wir schliesslich hier. Fürs BIP, für unsere Schulden von morgen, für Dividenden und das Gold im Keller. Und wenn die zweite Welle kommt, können wir beten: Danke, Banke.

Jemand klatscht aus dem Fenster. Danke, sage ich atemlos. Eine Nachbarin ruft: Ihr macht einen Heidenlärm! Meine Mutter entschuldigt sich: Wir werden leiser sein. Wir flüstern. Wie schnell sich alles ändert. Gerade hatte das Aus-dem-Fenster-Klatschen noch eine ganz andere Bedeutung. Das war doch als Applaus gemeint für die Aussage der FDP-Politikerin, die im SRF zu Protokoll gab: Der tiefe Lohn in der Pflege richte sich nach dem Marktprinzip «Angebot und Nachfrage». Vielleicht ist alles ein Missverständnis. Und das Klatschen hat eigentlich seinen Ursprung in einer Person, die einfach mal ihre Ruhe wollte.

Michelle Steinbeck ist Autorin und auf der Suche nach neuen Wörtern.