Russland: «Der autoritäre Staat denkt nur an sich»

Nr. 21 –

Sie sammelt Spenden und kritisiert Wladimir Putin: Die Moskauer Ärztin Anastasia Wassiljewa ist die lauteste Stimme gegen die Coronastrategie des Kremls.

Provokativ oder mutig? Anastasia Wassiljewa bei der Lieferung von Schutzausrüstung an eine Poliklinik in Moskau. FOTO: IWAN KONOWALOW

Anastasia Wassiljewa steht auf der Autobahn, neben ihr lässt die Polizei gerade ihren mit Schutzausrüstung beladenen Wagen abschleppen. «Wladimir Wladimirowitsch Putin, ich wende mich an Sie», sagt sie in die Handykamera. Der Wind fährt ihr in die Haare. Wenn ein Lkw an ihr vorbeidonnert, spricht sie nur noch lauter. «Ganz Russland hilft mit, damit wir Schutzausrüstung in die Krankenhäuser bringen können. Brauchen wir dazu etwa einen Passierschein von Ihnen persönlich?», spottet sie. Später wird sie festgenommen und geschlagen mit der Begründung, sich der Polizei widersetzt zu haben. Erst am nächsten Tag kommt sie frei.

Wassiljewa ist die prominenteste russische Ärztin, die den Kreml und dessen Coronastrategie kritisiert. Die 36-jährige Augenärztin ist Vorsitzende der kremlkritischen ÄrztInnenvereinigung Aljans Wratschei (Allianz der Ärzte). Schon früh hat sie auf ihrem Youtube-Kanal auf die Coronagefahr aufmerksam gemacht, als in den Staatsmedien noch das Mantra herrschte, dass «alles unter Kontrolle» sei. Sie hat Spenden für den Kauf von Schutzausrüstung gesammelt, während der Kreml medizinische Hilfsgüter nach Italien oder in die USA fliegen liess. In den sozialen Medien liess sie ÄrztInnen aus dem ganzen Land zu Wort kommen, die Missstände in den Spitälern beklagten. Eine mutige Stimme im Kampf gegen die Pandemie und die staatlichen Lügen ist sie für die einen. Eine Provokateurin aus dem Umfeld des Oppositionellen Alexei Nawalny für den Kreml.

Von der Ärztin zur Aktivistin

Russland hat wie so viele andere Länder auch mit der Coronapandemie zu kämpfen. Einerseits hat Russland bereits im Januar seine 4200 Kilometer lange Grenze zu China geschlossen, andererseits aber nur zögerlich einen harten Lockdown verhängt. 300 000 bestätigte Covid-19-Fälle, Stand Mittwoch dieser Woche, gibt es im grössten Flächenstaat der Welt, jeden Tag kommen 10 000 neue Fälle hinzu. Mehr Fälle gibt es weltweit nur noch in den USA. Inzwischen hat die Pandemie auch Regierungskreise erreicht, Ministerpräsident Michail Mischustin und Wladimir Putins Pressesprecher Dmitri Peskow sind inzwischen positiv auf Covid-19 getestet worden.

Vergleichsweise tief ist die Zahl von 2800 Todesopfern. Gerade diese Zahlen werden immer wieder angezweifelt. Zuletzt haben Recherchen der «Financial Times» und der «New York Times» ergeben, dass es im April in Moskau und Sankt Petersburg eine Übersterblichkeit gegeben haben soll, die dreimal höher gewesen sei als die offiziellen Covid-19-Toten. Kritisiert wird schon länger, dass Verstorbene, die positiv auf Covid-19 getestet worden waren, nicht zwangsläufig in die offizielle Coronastatistik aufgenommen werden. Mitunter werden sie einer anderen Todesursache – etwa Herzversagen – zugerechnet. Das wiege die Menschen in Sicherheit und bringe sie erst recht in Gefahr, sagt Wassiljewa: «Die autoritäre Staatsmacht denkt nicht an die Menschen, sondern nur an sich selbst.»

Wassiljewa spricht schon wie eine geübte Regimekritikerin, dabei wurde sie erst spät zur Aktivistin. Es war 2018, als ihre Mutter, Augenärztin wie sie, in einer Moskauer Klinik unter Druck gesetzt wurde, entweder unter ihre fachlichen Qualifikationen zurückgestuft zu werden oder ihren Job zu verlieren. Um ihrer Mutter zu helfen, wandte sich Wassiljewa an viele Stellen, auch direkt an Putin. Unterstützung bekam sie schliesslich bei einem ihrer Patienten, den sie nach einer Säureattacke behandelt hatte: Der Oppositionelle Alexei Nawalny hatte damals fast sein Augenlicht verloren.

Sein «Fonds im Kampf gegen Korruption» beriet Wassiljewa fortan in den rechtlichen Fragen, ihre Mutter konnte den Job behalten. Erst dadurch seien ihr, die bis zuletzt selbst Putin gewählt hatte, «die Augen geöffnet» worden, sagt Wassiljewa. Noch im selben Jahr kündigte sie ihren Job und gründete mit Nawalny die Allianz der Ärzte, um MedizinerInnen im unter Spardruck geratenen Gesundheitswesen zu unterstützen. Bis Covid-19 kam, das sie ins Rampenlicht rückte und zur «lautesten Kritikerin der Coronastrategie des Kremls» machte, wie die «Moscow Times» schrieb.

Als Gaunerin diffamiert

Doch die russische Staatsmacht duldet keine Kritik. Im staatlichen Fernsehen wird Wassiljewa als «Gaunerin» angefeindet, wie zuletzt vom Talkshow-Haudrauf Wladimir Solowjow, oder als korrupte Nawalny-Mitstreiterin, die die Krise für ihre «persönliche PR» missbrauche. Laut eigenen Angaben hat die Allianz der Ärzte bereits 2500 Mitglieder und rund sieben Millionen Rubel Spenden für Schutzausrüstung gesammelt: Das sind umgerechnet 92 000 Franken. Im April wurde Wassiljewa für einige Stunden festgenommen, als sie Beatmungsgeräte und Schutzkleidung an ein Spital im Gebiet Nowgorod ausliefern wollte.

Inzwischen wurden «Fake News» über das Coronavirus unter Strafe gestellt. «Es ist erschütternd, dass die russischen Behörden Kritik offenbar mehr fürchten als die tödliche Covid-19-Pandemie», so die Direktorin von Amnesty International in Russland, Natalja Swjagina, in einem Statement. Fragt man Wassiljewa nach all den Festnahmen, Drohungen und Anfeindungen der vergangenen Monate, dann sagt sie nur: «Was können sie schon tun? Mich einsperren? Oder mich töten?»