Musik in der Pandemie: «Als Zukunftsvision ist Streaming doch furchtbar!»

Nr. 24 –

Die US-Musikerin Holly Herndon arbeitet fast nur am Computer und meist allein. Mit Konzerten im Netz kann sie trotzdem nichts anfangen. Und sie sorgt sich, dass nach der Pandemie nur weitermacht, wer sich die Auszeit leisten kann.

WOZ: Holly Herndon, Sie produzieren Ihre Musik mehrheitlich allein am Computer. Waren Sie also gut vorbereitet auf diese Situation, in der die meisten von uns noch stärker an unsere Geräte gebunden sind?
Holly Herndon: Ich setze mich schon lange dafür ein, dass der Computer als ausdrucksstarkes Musikinstrument anerkannt wird. Doch es ging mir dabei vor allem darum, vor Publikum und mit anderen Menschen zu spielen. Obwohl ich eine Verfechterin des Computers bin, finde ich es enorm wichtig, dass wir uns physisch versammeln können. Die aktuelle Krise zeigt für mich vor allem eindrücklich, wie wichtig Zusammenkünfte für die gesellschaftliche und psychische Verfassung sind.

Wie hat die Krise Sie als Künstlerin getroffen?
Ich musste meine ganze Tour absagen, fast all meine Einnahmen sind über Nacht weggebrochen. Ich habe zwar Glück, als Amerikanerin hier in Berlin zu leben, es gibt hier einen Nothilfefonds für Freelancer. Doch für mein Geschäft ist diese Krise ein schwerer Schlag. Mein letztes Album, «Proto», ist vor einem Jahr erschienen, seitdem waren wir auf Tour, und wir hatten noch ungefähr ein weiteres Jahr vor uns. In ein Album investiere ich mehrere Jahre, dann gehe ich etwa zwei Jahre auf Tour und kann hoffentlich genug Geld zur Seite legen und Rückhalt beim Label gewinnen, um das nächste Album zu produzieren. Die Pandemie bringt die Zyklen, in denen wir arbeiten, völlig durcheinander.

Was sind die Folgen für Musikerinnen und Musiker?
Ich mache mir grosse Sorgen, wenn wir keine Wege finden, sie zu unterstützen. Entweder machen nur diejenigen weiter, die sich die Auszeit und das Risiko leisten können, oder sie sehen sich gezwungen, sich kommerzieller auszurichten. Die Musiklandschaft droht viel einförmiger zu werden.

Wir werden einen Sommer ohne Festivals erleben, und wie es im Herbst mit den Clubshows weitergeht, ist ungewiss. Es ist die Rede von einem verlorenen Jahr für die Musikindustrie …
Für die internationale Szene ist dieses Jahr verloren, bis und mit Herbst. Die Booker und Veranstalter wollen das finanzielle Risiko nicht eingehen, dass die Bands im Herbst nicht reisen können, also warten sie ab. Das nehme ich ihnen auch nicht übel. Die Musikindustrie ist ein Ökosystem, in dem alle voneinander abhängig sind, das wird uns jetzt richtig bewusst.

Viele Festivals haben ihr diesjähriges Programm aufs nächste Jahr verlegt. Können wir dann einfach weitermachen, wo wir stehen geblieben sind?
Das glaube ich nicht. Es ist ja nicht so, dass die Leute aufhören, Musik zu produzieren. Diejenigen, die jetzt an Alben arbeiten, hatten geplant, nächsten Sommer zu touren. Wenn die Line-ups der Festivals bereits gebucht sind, wird der Markt übersättigt. Aber diese Pandemie wird für viele auch das Ende ihrer Karriere bedeuten, weil ihre Situation zuvor schon prekär war.

Diese Krise macht die Prekarisierung in der Musikindustrie sichtbar?
Zuvor war es viel einfacher, über diese hinwegzuschauen. Wenn jemand krank war, hat einfach ein anderer die Lücke gefüllt. Jetzt merken auf einen Schlag alle, was das Problem ist an unserem Geschäftsmodell: Wenn du aus irgendeinem Grund nicht touren kannst, bist du erledigt.

Könnte dieses neue Bewusstsein auch Verbesserungen für die Musikindustrie bringen?
Tja, das hängt vom politischen Willen ab. Allerdings finde ich die meisten Diskussionen, die ich jetzt über die Zukunft der Musik höre, ziemlich ernüchternd. Viele ziehen voreilige Schlüsse: Lasst uns alles online stellen, Onlineclubs einrichten, und das soll dann die Zukunft des Raves sein! Raves im Netz sind interessant als Erweiterung oder Überbrückung, um sich gegenseitig zu unterstützen, und es ist cool, wenn die Leute damit experimentieren. Aber es macht halt nicht so viel Spass, wie mit anderen in einer Lagerhalle zu schwitzen, und als Zukunftsvision ist das doch furchtbar! Das erinnert mich an diese Neunziger-Jahre-Dystopie, dass wir Musik irgendwann nur noch durch Computerprogramme erleben. Tatsächlich bewirkt diese Krise bei mir das Gegenteil: dass ich Konzerte und physische Gemeinschaften umso mehr vermisse.

Was macht für Sie die Erfahrung eines Konzerts aus?
Auf Englisch gibt es sogar ein Wort dafür: «musicking». Mit anderen im Raum Musik zu machen, ist eine evolutionäre Technik, die schon Teil der frühen menschlichen Gehirn- und Sprachentwicklung war. Das Bedürfnis, uns durch Musik zu verbinden, ist tief in unseren Körpern verwurzelt. Zusammen Musik zu machen oder zu tanzen, wirkt enorm kathartisch und wird seit Beginn der Menschheit praktiziert; die Vorstellung, dass das einfach verschwinden oder durch eine digitale Version ersetzt werden könnte, ist töricht.

Und wenn Sie auf der Bühne stehen?
Es können so viele Dinge schiefgehen, überraschen, es entsteht Raum für Improvisation. Wichtig ist mir auch die Erfahrung, gemeinsam zu singen. Mein letztes Album, «Proto», baut auf verschiedenen Gesangstraditionen auf; ich habe eine künstliche Intelligenz anhand von menschlichen Stimmen trainiert und sie dann Gesangsstimmen einsingen lassen. Wenn der Hohlraum im Körper zusammen mit demjenigen eines anderen Körpers in Schwingung gerät – zusammen einen Akkord zu bilden und diesen Moment einzufangen, ist enorm befriedigend. Das klingt jetzt vielleicht idealistisch, aber für mich sind solche Momente eine physische Manifestation menschlicher Kooperation, davon, dass wir einander brauchen. In den USA gibt es über dreissig Millionen Erwachsene, die in einem Chor singen. Das zeigt, wie viele Menschen ein Bedürfnis nach dieser Art von Gemeinschaft haben.

Wie gehts Ihnen in der Quarantäne?
Als Musikerin bin ich einen zyklischen Lebensstil gewohnt. Wir erleben Zeiten mit sehr vielen sozialen Kontakten, dann bin ich wieder allein. Ich bin robust genug, damit umzugehen, aber andererseits ist das wohl auch ein Grund, warum viele Musikerinnen und Musiker psychische Probleme haben. Ich habe Glück: Ich muss mich nicht um Kinder kümmern, habe ein Heimstudio und meinen Partner Mat Dryhurst, mit dem ich Ideen austauschen kann. Im Netz kursieren jetzt diese Videos von Prominenten, die in ihren riesigen Villen sitzen und klagen, sie würden im Gefängnis stecken. Vielleicht realisieren einige Leute nun, dass ihre abgehobenen Helden nicht ganz denselben Lebensstil haben wie sie selber.

Wie verbringen Sie Ihre Zeit?
Mat und ich hatten endlich Zeit für ein Projekt, das wir schon lange geplant hatten: einen Podcast, in dem wir mit Gästen über Themen aus Musik und Gesellschaft nachdenken. Unser erster Gast war der Technik- und Gesellschaftstheoretiker Evgeny Morozov. Den Podcast haben wir «Interdependence» getauft, um den Gedanken zum Ausdruck zu bringen, dass das Internet eben keine vereinzelten, völlig unabhängigen Individuen schafft, sondern starke Gemeinschaften umso nötiger macht. In diesem Unabhängigkeitsnarrativ, das uns der Plattformkapitalismus verkaufen will, beginnen sich Risse aufzutun.

Was bedeutet das für die Musik?
Das Internet will uns glauben machen, wir könnten ohne institutionelle Abhängigkeiten auskommen; dass man als Musikerin zum Beispiel kein Label mehr braucht und sich direkt mit seinen Fans verbinden kann. Und die Plattformdynamik des Streamings hat die Musik weitgehend aus dem Zusammenhang ihres Ursprungs gerissen. Doch Musik ist nicht nur ein File auf einem Server, sondern entspringt dem Austausch von Ideen zwischen Menschen. Natürlich hat das Internet vieles ermöglicht, aber es bedeutete auch eine Erosion von Institutionen und stabilen Szenen, die auf persönlichen Beziehungen und gegenseitigem Vertrauen aufbauen. In der gegenwärtigen Situation bin ich für solche Beziehungen gerade sehr dankbar. Das gibt mir nicht nur finanzielle Sicherheit, sondern auch eine Perspektive, dass die Arbeit, die ich jetzt mache, später eine Heimat findet.

Es wird gerade viel über technologische Bedrohungen diskutiert, über die Macht von Amazon oder neue Formen der Überwachung. Naomi Klein hat kürzlich davor gewarnt, dass die Techkonzerne die Pandemie ausnutzen, um uns noch stärker von ihnen abhängig zu machen. Macht Ihnen das Sorgen?
Natürlich ist es gut, skeptisch gegenüber dem Silicon Valley zu sein, die haben viel Schaden angerichtet und viel Vertrauen verspielt. In den USA ist dieses Bewusstsein aber nicht neu, seit der Präsidentschaftswahl 2016 wird intensiv über den schädlichen Einfluss dieser Konzerne diskutiert. Auch sehe ich keine dramatische Erosion meiner Grundrechte wegen der Pandemiemassnahmen. Mit fällt auf, dass wir immer noch einen sehr vereinfachten Diskurs über Technologie führen: Entweder man findet sie gut oder eben schlecht. Man sollte nicht vergessen, dass wir Big Data zum Beispiel auch dazu nutzen, die Entwicklung des Klimawandels zu verfolgen. Interessant an der aktuellen Situation finde ich, dass die staatliche Infrastruktur der USA so stark erodiert ist, dass sie mit einem Problem von dieser Grössenordnung ohne die Hilfe der Konzerne nicht mehr klarkommt. Darin, wie Staaten unterschiedlich mit der Pandemie umgehen, zeigt sich auch ihre politische Ideologie.

Werden wir Holly Herndon irgendwann noch via Livestream erleben?
Ich bin skeptisch, ob Musik in diesem Medium funktionieren kann. Andere Formate wie eben Podcasts eignen sich besser für die isolierte digitale Erfahrung. Was ich bis jetzt aber an gestreamten Konzerten gesehen habe, hat mich nicht überzeugt. Darum mache ich mir darüber im Moment keine Gedanken, sondern darüber, wann und wie wir wieder raus und uns versammeln können. Wir brauchen mehr als Virtual-Reality-Headsets und virtuelle Raves; diese Pandemie hat gezeigt, wie beschränkt diese Zukunftsperspektive ist.

Holly Herndon : Mit Maschinen singen

Dem Werk von Holly Herndon liegt eine zentrale Frage der Gegenwart zugrunde: Können wir technische Wesen weder als fremde Macht noch als effiziente Sklaven sehen, sondern auf Augenhöhe mit ihnen kommunizieren? Auf dem Album «Platform» (2015) ging es um die intime Beziehung zwischen der Musikerin und ihrem Laptop, auf «Proto» (2019) experimentierte sie mit einer künstlichen Intelligenz (KI). Im Gegensatz zu den meisten Versuchen in diese Richtung hat Holly Herndon das Computerprogramm für «Proto» nicht komponieren, sondern selber singen lassen – nachdem sie es mit einem menschlichen Chorensemble trainiert hatte. Das Resultat ist so erstaunlich wie ergreifend: Ist das noch der digital verfremdete Chor, der diese sakral klingende Gesangswucht über dieser elektronischen Popmusik entfaltet, oder hat die Maschine längst übernommen?

Herndon ist im US-Bundesstaat Tennessee aufgewachsen, wo sie in einem Kirchenchor zur Musik gefunden hat, und lebt heute in Berlin. Die Vierzigjährige ist nicht nur Musikerin und Künstlerin, sondern auch Intellektuelle. Herndon hat an der Universität Stanford in Komposition doktoriert und kürzlich mit Mat Dryhurst den Gesprächspodcast «Interdependence» gestartet. Nach dem Technik- und Gesellschaftstheoretiker Evgeny Morozov waren in der zweiten Folge etwa der KI-Forscher François Pachet und der Komponist Benoit Carré zu Gast, die «Daddy’s Car» verantworten, einen täuschend echten Beatles-Song, der komplett von einer KI komponiert wurde.

David Hunziker

Den Podcast «Interdependence» von Holly Herndon und Mat Dryhurst findet man unter www.patreon.com/interdependence.