Graphic Novel: Nackte Mädchen mit Eulengesichtern

Nr. 26 –

Die Zeichnerin Nina Bunjevac arbeitet sich in «Bezimena» auf höchst eigenwillige Weise an sexualisierter Gewalt ab. Ein ungemütliches, dunkles Märchen.

Wer hat was geträumt? Und wer hat was getan? Die Zeichnerin Nina Bunjevac taucht in ihrem Buch in den Strudel von Sex und Gewalt ein – und spielt zugleich mit dem Mythos von Artemis.

Als Siproites die Jagdgöttin Artemis einmal nackt beim Baden sah, verwandelte diese ihn aus Zorn und Scham in ein Mädchen. Dem jungen Jäger Aktaion erging es ähnlich, als er sie ebenfalls beim Baden beobachtete. Artemis verwandelte ihn in einen Hirsch, der darauf von seinen eigenen Jagdhunden zerfleischt wurde. Doch dazu später.

Am Ende fällt ein Tropfen in einen See. Und man stolpert einigermassen ratlos aus diesem düsteren Verwirrspiel aus Träumen und Mythen, sodass man sich fragt: Wer hat denn nun was genau geträumt? Und wer hat was getan?

Nina Bunjevacs «Bezimena» ist ein eigenwilliges Buch. Ein Comic eigentlich, der aber nur mit grossformatigen Zeichnungen auskommt, ohne Panels. Die Sprechblasen, in denen die Geschichte erzählt wird, sind auf die jeweils gegenüberliegende Seite ausgelagert. Viele Schwarzflächen, detailverliebte Bilder in aufwendigen Kreuzschraffuren – allein schon dafür lohnt es sich, dieses böse Märchen in Noir mehrmals zu lesen. Die serbisch-kanadische Zeichnerin Nina Bunjevac verhandelt hier sexuelle Gewalt auf höchst unkonventionelle Weise – nicht nur, weil sie die Geschichte aus der Sicht des Täters erzählt.

Masturbieren in der Kirche

Alles beginnt an einem See. Da liegt die weise, alte Frau Bezimena, eine junge Priesterin will ihren Rat. Aber Bezimena ärgert sich, sie hat der jungen Frau schon so oft geholfen, die immer wieder der Macht der Gewohnheit erliege: «Und ihre Gewohnheit bestand im immerwährenden und grundlosen Leiden.» So drückt Bezimena den Kopf der Priesterin ins Wasser – worauf diese aufhört zu existieren und irgendwo in einer anderen Welt als Junge wiedergeboren wird. Eintauchen in die Haupthandlung, Auftritt Benny: ein Wunschkind, das seinen Eltern bald Sorgen macht, weil Benny fast nichts anderes tut, als zu masturbieren. So sitzt er in der Schule oder in der Kirche, starrt seine Mitschülerin, «die weisse Becky», an und fasst sich dabei in die Hose. Der Lehrer verhaut ihn mit dem Stock, die Eltern binden nachts seine Arme am Bett fest, damit er sich nicht berühren kann.

Aus Benny wird ein zurückgezogener junger Mann, der einen Job als Zoowärter annimmt. Seine Lust ist er nicht losgeworden, wie sollte er auch. Und so beobachtet er im Zoo die Frauen – bis eines Tages Becky dort auftaucht und ihr Skizzenbuch liegen lässt. Benny nimmt das Buch zu sich und findet darin lauter erotische Zeichnungen, die ihn mit Becky und anderen Frauen beim Sex zeigen.

In mehreren Nächten schleicht sich Benny darauf durch einen Wald zum Haus, in dem Becky lebt. Durchs Fenster beobachtet er sie beim Baden, das Skizzenbuch sieht er dabei als Anleitung dazu – auch in den folgenden Nächten, in denen er ins Haus einsteigt und dort zwei Frauen vergewaltigt. Von da an rutscht das Buch immer weiter in eine surrealistische Traumwelt ab. Die Tage verbringt Benny fortan in einem Dämmerzustand, seine Nächte sind bevölkert von nackten Mädchen mit Eulengesichtern, von Teddybären, Vulven und Augen. Oder war vielleicht auch schon alles davor ein Traum? Und wenn ja, wer hat hier geträumt? Am Ende jedenfalls ist alles noch einmal ganz anders als angenommen.

Von Albträumen geplagt

«Bezimena» ist ein Rätsel, und so hat es die Autorin Nina Bunjevac auch gewollt. Dabei sei es durchaus ihre Absicht gewesen, eine erotische Geschichte zu erzählen, inklusive sexueller Vorstellungen und Vergewaltigungsfantasien, sagte sie in einem Interview mit dem «Tagesspiegel»: «Dann bekam ich Albträume, hatte immer mehr Bilder im Kopf und merkte, dass die Geschichte doch persönlicher ist als anfangs gedacht.» Was das heisst, erfährt man im ausführlichen Nachwort zu «Bezimena», wo sie von eigenen Erfahrungen mit sexueller Gewalt schreibt: davon, wie schwer es sei, dafür Worte zu finden, und von der Abweisung, die viele Betroffene erfahren, wenn sie sich jemandem anvertrauen.

Schon in ihrem Band «Vaterland» (2015) hatte Nina Bunjevac gewissermassen eine Täterperspektive eingenommen: Sie erzählte darin von ihrem Vater, der als Terrorist bei einem Bombenanschlag ums Leben kam. Die Perspektive des Täters einzunehmen, sei für sie diesmal ein Versuch gewesen, sexuelle Gewalt besser zu verstehen, sagt sie über «Bezimena». Dass sie auch hier eigene Erfahrungen verarbeitet hat, wurde ihr aber erst nachträglich so richtig bewusst, als mit den Vorwürfen gegen Harvey Weinstein die #MeToo-Bewegung aufkam, wie sie im Interview sagt: «Kurz darauf schrieb ich das Nachwort – das war der entscheidende Punkt, in dem das Buch erst zu dem wurde, was es jetzt ist.» Ohne diese klare Positionierung gegen sexuelle Gewalt und ohne Verweis auf ihre eigenen Erfahrungen im Nachwort würde man dieses Buch womöglich ganz anders wahrnehmen.

Es wachsen ihm Hörner

Aber was ist denn nun mit Artemis? Nina Bunjevac nennt «Bezimena» eine moderne Adaption des Mythos von Artemis und Siproites. Benny verkörpert Siproites, der Artemis – also Becky – beobachtet. Und als das Buch schon tief in der Traumwelt drin ist, wachsen Benny Hörner, wie dem Jäger Aktaion, im Traum wird er von Hunden verfolgt. Dieses Spiel mit dem Artemis-Mythos ist aber auch etwas befremdlich. Denn Artemis ist ja nicht nur die Göttin der Jagd, sondern auch Hüterin der weiblichen Keuschheit und Jungfräulichkeit. Die Frauen im Buch werden so nicht nur als passive Opfer dargestellt, sondern auch idealisiert als rein und unbefleckt – bis ein Mann kommt und sie beschmutzt. Dass jene Frau, die Benny am meisten begehrt, auch noch «die weisse Becky» genannt wird, unterstreicht dies nur noch. Vielleicht ist das aber, weil es Bennys Sicht ist, die hier dargestellt wird, auch einfach konsequent.

Spätestens ab der ersten expliziten Sexszene ist es sowieso aufreibend, immer alles aus Bennys Perspektive zu betrachten – in seinen Augen ist der Sex keine Vergewaltigung, sondern einvernehmlich. Dazu wählt Bunjevac eine Darstellungsform, die im Grunde auch einvernehmlichen Bondage-Sex zeigen könnte. Auch deshalb ist «Bezimena» ein ungemütliches Buch: Die Grenzen zwischen sexueller Gewalt und erotischer Fantasie bleiben hier durchlässig. Auch im Text ist Bunjevac nah bei Benny, sein Verhalten wird darin nie gewertet. So zwingt sie uns, selber zu entscheiden: Wer ein Urteil will, muss es schon selber fällen.

Nina Bunjevac: Bezimena. Graphic Novel. Aus dem kanadischen Englisch von Benjamin Mildner. avant-verlag. Berlin 2020. 224 Seiten. 45 Franken