Peter Bichsel: Wie man Dinge erfindet, die es schon gibt

Nr. 28 –

Die Sprache weiss immer mehr als wir: Im neuen Sammelband mit frühen Texten kann man nachlesen, wie Peter Bichsel als Erzähler der trügerischen Einfachheit zur Meisterschaft fand.

«Ich fürchte mich vor der Buchhaltung des Lebens»: Peter Bichsel. Foto: Roland Schmid, 13 Photo

Zehn Bände mit wohl einem halben Tausend Kolumnen von Peter Bichsel gibt es bereits, seit die «Geschichten zur falschen Zeit», die er ab 1975 für das «Tages-Anzeiger-Magazin» geschrieben hatte, erstmals in Buchform erschienen sind. Es ist keine Frage: Das Genre der Kolumne bildet das Herzstück im Werk des Solothurner Erzählers, auch wenn die «Kindergeschichten» und der «Milchmann»-Erstling gewiss überdauern werden.

Nun hat der literarische Netzwerker Beat Mazenauer mit hartnäckigem Spürsinn die frühesten Zeugnisse von Bichsels Herantasten an «seine» Form ausfindig gemacht und zusammengetragen. Die gut neunzig Texte im Sammelband «Auch der Esel hat eine Seele» stammen aus den Jahren 1963 bis 1971. Die meisten wurden erstmals in der damals noch hochkarätigen «Weltwoche» und auch im kurzlebigen Wochenblatt «Sonntagsjournal» gedruckt. Ergänzt um ein paar verstreute journalistische Arbeiten und sorgfältige Anmerkungen, ergeben sich mehr als 300 Seiten «neu-alter» Bichsel, eine erhellende und vergnügliche Lektüre.

An die Schweiz gefesselt

Bichsel bekennt im Vorwort, dass er seine alten Texte vorerst nur flüchtig wiedergelesen habe, und zwar «weil ich mich irgendwie vor ihnen fürchte». Und er fügt bei: «Ich fürchte mich vor Biographie, vor der Buchhaltung des Lebens. Ich erinnere mich nicht gern an mich.»

Doch dazu wäre wahrlich kein Anlass. Bichsel hat nicht bloss von Beginn weg seinen ganz eigenen musikalischen Rhythmus und Tonfall gefunden, er trifft mit seiner subtilen, dialektischen Gedankenführung auch nachhaltig den Nerv der Zeit. Schon 1966 sieht er sich wegen der Spannung zwischen Mundart und Hochsprache «restlos an die Schweiz gefesselt» und nennt sie, wie später Dürrenmatt, «Heimat und Gefängnis».

1968 hat Bichsel als «erschütternde Erfahrung» bezeichnet, die ihm ein «völliges Neusehen der Welt» ermöglichte, und er hat noch dieser Tage bestätigt: «Kein Ereignis hat mich so geprägt wie 68.» Dabei war er für die jugendlichen 68er schon ein alter Mann mit seinen damals 33 Jahren: «Ich war Sympathisant – ein wunderbarer Platz zwischen den Stühlen», sollte er später sagen. Aus dieser Position dazwischen schreibt Bichsel in jener Zeit vorurteilslos und nach solider Recherche über politische Skandale – etwa den Jurakonflikt, als plötzlich scharfe Munition an WK-Soldaten abgegeben wurde – oder zur Aburteilung von Dienstverweigerern durch eine voreingenommene Militärjustiz. Oder er beschäftigt sich mit der «Angst vor der Angst», wie Kurt Marti sie beschrieben hat und die Bichsel «vielleicht eine der deutlichsten schweizerischen Eigenarten» nennt.

Immer wieder beschäftigt den jungen Bichsel aber auch das Schreiben selbst. Ihn interessiert, «was auf dem Papier geschieht», die menschliche Sprache. So vergleicht er im Oktober 1968 – nicht zum letzten Mal – Mensch und Hund: «Wauwau ist der Ausdruck des Erschreckens, der Freude, des Schmerzes zugleich.» Eine ganz einfache Äusserung also, aber anders als der Hund brauche der menschliche Laut Wörter, die ihm unterlegt werden. Und Bichsel folgert: «Es scheint, dass die Sprache immer mehr will als wir, dass sie zu allem, was wir wissen, noch etwas Zusätzliches weiss.» Dieses Zusätzliche interessiert den Autor mehr als originelle Einfälle.

Zögernd gegen die Ordnung

Deutlich grenzt er sich damit von seinen Lehrmeistern im Berliner Literarischen Colloquium ab, für die der Einfall das Wichtigste sei: «Die Behutsamkeit in meinen Texten ist ihnen ein Dorn im Auge.» Bichsel dagegen will, wie er 1963 an Otto F. Walter schreibt, «weiterhin jeden Einfall in meinen Texten überwinden», er will ins Offene schreiben: «Der Ausgang der Geschichte überrascht mich selbst», heisst es in einem dieser frühen Texte.

Vielfach scheint hier schon auf, worum es Bichsel in seiner Literatur geht: «Ausprobieren, wie es wäre, wenn es nicht so wäre, wie es ist.» Und dies eben im Alltäglichen, im Gewöhnlichen, im Erfinden von «Dingen, die es schon gibt», im Bewahren eines kindlichen Blicks. Kaum einer hat den Kern von Bichsels Schreiben konziser gefasst als sein Freund Max Frisch schon 1981: «Peter Bichsel erzählt uns, was er da und dort wahrgenommen hat, zögernd. Nur das Vorurteil zögert nie mit Wörtern. Und das poetische Zögern, wo die andern im Vorurteil ihre Ruhe und Ordnung finden, ist subversiv.»

Die frühen Texte, die Beat Mazenauer jetzt wieder greifbar gemacht hat, liefern dazu manch faszinierenden Beleg. Wie Bichsel die zwischen Alltagspoesie und journalistischem Zugriff abwechselnde Form der Kolumne zur Meisterschaft bringt, wie sich die Linien seiner Motive und Themen über Jahrzehnte durchziehen, aber auch die Kontinuität des politischen Denkers und sein literarisches Kombinieren von radikaler Einfachheit und vertrackt doppelbödigem Hintersinn: All das lässt sich jetzt wieder wunderbar nachlesen.

Peter Bichsel: Auch der Esel hat eine Seele. Frühe Texte und Kolumnen 1963–1971. Herausgegeben von Beat Mazenauer. Mit einem Vorwort des Autors. Suhrkamp Verlag. Berlin 2020. 351 Seiten. 28 Franken