Péter Esterházy: Gymnastikübungen für die Sprache

Nr. 29 –

Enfant terrible und politischer Streitgeist: Der ungarische Autor Péter Esterházy wäre dieses Jahr siebzig geworden. Er hinterlässt eine deutliche Lücke in den aktuellen Debatten seines Landes.

Péter Esterházy wurde am 14. April 1950 in Budapest geboren, und exakt diesen Tag beschrieb er in der Novelle «A Hard Day’s Night» anhand von tagespolitischen und privaten Ereignissen. Titel und Text sprechen für sich, für Esterházys Leichtigkeit und für seine Lust, unterschiedliche Themen miteinander zu verknüpfen. Dieses Jahr wäre er siebzig Jahre alt geworden. Das im Titel zitierte Lied der Beatles ist allerdings vierzehn Jahre jünger; so rücken die Zeiten bei Esterházy zusammen. Vor fünf Jahren ist der geistreiche Schriftsteller – Enfant terrible, politischer Streitgeist und Kenner der Weltliteratur – viel zu früh gestorben.

Für das Studium der Mathematik hatte sich Esterházy aller Wahrscheinlichkeit nach (das ist eine Wahrscheinlichkeitsrechnung) deshalb entschieden, weil er sich seit jeher für Zahlenspiele, für Vervielfachungen, Verdoppelungen und Reduktionen interessierte. Entsprechend tauchen in seinem Buch «Harmonia Caelestis» (2000) endlos viele Vatergestalten auf, die sich auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner reduzieren lassen, auf seinen Vater.

Obszönitäten der Regierung

Noch deutlicher operiert Esterházy in «Eine Frau» (1995). Praktisch alle Geschichten in diesem Band beginnen mit dem Satz: «Es gibt eine Frau.» Im zweiten Satz folgt dann die Feststellung, ob sie jemanden liebt oder nicht liebt oder beides zugleich, und nach diesen Eröffnungssätzen zeichnet der Autor wunderbare beziehungsweise erschreckende Frauenfiguren, 96 an der Zahl. Nur ein Text weicht ab. Da wird anstelle der Frau ein Mann genannt: «Es gibt einen Mann. Er liebt mich.»

Im «Buch Hrabals» (1990) treten hingegen zwei Engel auf, die die gestrenge Auf‌lage haben, einer jungen Schwangeren heimlich zu folgen. Sie sollen verhindern, dass sie ihr Baby abtreibt. Womöglich sind die beiden Engel Geheimpolizisten, und dann stehen die zwei für die Gesamtheit der Geheimpolizei.

Die genannten Titel wollen Esterházys vielseitiges Werk wachrufen, denn in der «Harmonia Caelestis», seinem bekanntesten Buch, stehen die Vorfahren des Autors im Vordergrund, und selbstverständlich ist das gräf‌liche Milieu interessant, aber den virtuosen Umgang mit der Sprache, die abwechslungsreiche Bauweise der übrigen Werke wird man mit diesem Familienbuch kaum kennenlernen.

Ein Schlüsselwerk, wenn nicht das Hauptwerk Esterházys ist die «Einführung in die schöne Literatur» (1986), eine Einführung in die Literatur schlechthin. Das riesenhafte Konvolut besteht aus unterschiedlich langen Texten, von denen manche schon vorab als Einzelpublikationen (auch auf Deutsch) erhältlich waren.

Der erwähnte, relativ kurze Prosatext «A Hard Day’s Night», ein Bestandteil der «Einführung», zeigt eine der möglichen Erzählhaltungen, nämlich eine objektive Auf‌listung von Tagesereignissen.

Ein glänzendes weiteres Beispiel ist die «Kleine ungarische Pornographie», die als Einzelveröffentlichung in Ungarn Mitte der achtziger Jahre für Aufsehen sorgte, denn Esterházy wagte in diesem Buch, die Machenschaften der kommunistischen Partei zu durchleuchten. Auf diese Partei zielen schon die Anfangsbuchstaben im Titel. Mit der Pornografie sind die Unverfrorenheiten, die Korruptionen und Obszönitäten der Regierung gemeint. Und weil in den Jahrzehnten der Diktatur auch einzelne Wörter und die gesamte Haltung des Ungarischen gelitten hatten, zwang Esterházy die Sprache zu Gymnastikübungen, beispielsweise indem er seitenlang offensichtliche Aussagen in Fragesätze umwandelte. «Die über uns wachende Zeit bietet Lösungen auch gegen uns?»

Leben in der Weltliteratur

Um Sprachgymnastik geht es auch, wenn er im altungarischen Barock von der Gegenwart erzählt (für die Übersetzerin eine haarsträubende Herausforderung). Solche Bravourstücke zu lesen, ist manchmal anstrengend, aber die Turnübungen bieten über den sprachlichen Witz hinaus schön schräge Inhalte. Ausgesprochen erholsam ist allerdings, wenn in einer geschliffenen, quasi wiedererlangten Sprache Budapest aufscheint und mitten in der Stadt ein einsamer «fahler» Mann sichtbar wird, der von der Arbeit zu seiner Frau heimkehrt. Zu Hause sagt er sich in der Nacht: «Unglücklichsein ist nur ein Wort.»

Man hat Péter Esterházy mehrfach vorgeworfen, fremde Sätze in die eigenen Texte geschmuggelt zu haben, ohne die Herkunft der Zitate preiszugeben. Aber dieser Autor lebte in der Weltliteratur, er lebte mit den Sätzen und den stilistischen Eigenarten vieler Kollegen und Kolleginnen aus allen erdenklichen Zeiten. Er war der geborene Leser, und die Bibliotheken hat er immer als seine eigentliche Heimat bezeichnet. Für ihn waren alle entlehnten Sätze und Satzteile Dialoge.

In «Indirekt», einem umfangreichen Kapitel in der «Einführung in die schöne Literatur», stehen die Namen der jeweils zitierten Autoren direkt am Seitenrand, samt Werktitel, aus dem das Zitat stammt. Zu den wiederkehrenden Namen in den Marginalien gehören etwa Peter Handke, Robert Musil, Franz Kafka, Marina Iwanowna Zwetajewa oder Ludwig Wittgenstein.

Bei meiner ersten längeren Übersetzung für Péter Esterházy (die «Kleine ungarische Pornographie») fand ich auf einer der Originalseiten den handschriftlichen Vermerk «Camus, Die Pest». In der deutschen Version des Romans musste ich nicht lange suchen, bis ich den richtigen Satz fand: «am windgefegten und windgeschliffenen Himmel glänzten reine Sterne …». Ein solch gereinigter Himmel müsste zwangsläufig für die Überwindung der Pest stehen, dachte ich, und so war es auch. Camus’ Erzähllogik kann man vertrauen.

Esterházy muss man ebenfalls vertrauen. Bei ihm huscht Camus’ Zitat durch beinahe alle einzelnen Texte der «Einführung», wobei der windgefegte Himmel in jedem neuen Zusammenhang befreiend wirkt.

Ausgerechnet die «Pest», die in der Coronakrise wieder vielfach gelesen wird, bildet einen roten Faden in Esterházys Literatur und verleiht der «Einführung» jetzt eine neue Aktualität.

Pointierte Essays und Glossen

Esterházys burleske Theaterstücke werden auf den deutschsprachigen Bühnen leider nicht gespielt. Sie fehlen, aber das könnte man ändern. Ausserdem fehlen Esterházys Anmerkungen zu den aktuellen Themen, seine pointierten Essays und Glossen, mit denen er zu Lebzeiten auch deutschsprachige Zeitungen und Zeitschriften belieferte, sobald er gebeten wurde, und er wurde oft gebeten.

In Ungarn fehlen seine spontan entstandenen, treffenden Kommentare erst recht. Was zum Beispiel würde er über die gegenwärtigen Pläne der ungarischen Autorinnen schreiben, die innerhalb des Schriftstellerverbands eine eigene Frauengruppe gründen, nicht zuletzt, um einfacher an Stipendien und Preise zu gelangen? Selbstverständlich spielen bei dieser neuen Idee auch andere Faktoren eine Rolle. Die Befürworterinnen setzen sich für eine Literatur aus der Frauenperspektive ein, und diese Bestrebung war schon bei der #MeToo-Debatte zu spüren. Auch damals erreichten mich etliche E-Mails, da ich Mitglied des Schriftstellerverbands bin. Im gegenwärtigen Fall war die Mailflut noch erheblicher und zeigte die Aufbruchstimmung und die bemerkenswerte Eigenständigkeit der Autorinnen. Demgegenüber ist die bisherige Stille des Schriftstellerverbands eher unverständlich. Themen wie zum Beispiel die in Ungarn unerwünschten MigrantInnen wurden bisher nicht kommentiert. Auch Debatten über das Verhältnis zu Europa und andere politische oder gesellschaftliche Anliegen blieben in den Rundschreiben unerwähnt. Möglicherweise diskutiert man über entsprechende Aspekte in den jeweiligen Sitzungen oder in privaten Räumen unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Da aber die Autorinnen nun einen Aufbruch gewagt haben, könnten bald auch heikle, streitbare Themen in die Informationen einsickern.

Jedenfalls hätte Esterházy sicher den humorigen Ton gefunden, um gegenwärtige Schief‌lagen zu sezieren und seine Einwände einzubringen.

Fehlende Wörter

In seiner Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 2004 stecken Aussagen, die nach wie vor aktuell sind, sodass ich ihn, den gern Zitierenden, gerne endlos zitieren würde: «Kein Zufall, dass es im Ungarischen für die Vergangenheitsbewältigung kein Wort gibt. Das Wort fehlt, weil die Tätigkeit fehlt, die Wörterbücher empfehlen umschreibende Begriffe. Da fällt mir ein, dass ich das vielleicht nicht kritisch hervorheben sollte, denn womöglich geht es hier darum, dass die ungarische Sprache das, was die deutsche vergessen hat, noch weiss, dass man nämlich die Vergangenheit nicht bewältigen kann – daraus aber zieht die ungarische Sprache womöglich die falsche Folgerung, dass die Vergangenheitsbewältigung als Arbeit, als europäische Pflichtarbeit, nicht möglich sei.»

Und was die Literatur betrifft, hier noch ein weiterer Satz aus der Rede, die er in Frankfurt 2004 in der Paulskirche gehalten hat: « … eine entfernte, zauberhafte Tante sagte einmal: Ich lese keine Bücher, die man zusammenfassen kann. Und meinerseits möchte ich keine solchen Bücher schreiben. Und keine solchen Reden halten.»

Zsuzsanna Gahse, geboren 1946 in Budapest, wuchs in Wien auf. Die Schriftstellerin lebt in der Schweiz. Neben vielen anderen Auszeichnungen erhielt Gahse 2010 den Johann-Heinrich-Voss-Preis für Übersetzung der Deutschen Akademie und 2019 den Grand Prix Literatur. Sie hat mehrere Werke von Péter Esterházy ins Deutsche übertragen.