Nahostkonflikt: Neue Enklaven im alten Land

Nr. 29 –

Noch immer wartet Israels Premierminister Benjamin Netanjahu auf grünes Licht aus den USA, um das Jordantal zu annektieren. Nicht nur PalästinenserInnen fühlen sich davon bedroht – auch wenn derzeit alles im Zeichen von Corona steht.

«Gegen die Annexion zu sein, heisst, für unsere Existenz zu sein, für unsere Wirtschaft, für unsere Sicherheit»: Protestaktion vor dem Tel Aviv Museum of Art. Foto: Sebastian Scheiner, Keystone

Es brauchte eine Drohne, um die ganze Malerei zu begreifen. Auf einer Fläche von 900 Quadratmetern stand da: «Haam neged sipuach» (Das Volk gegen die Annexion). Aus der Höhe war zudem ein wütendes Augenpaar zu erkennen, darunter das hebräische Wort «Sipuach» wie ein Zensurbalken über dem Mund – oder wie eine Gesichtsmaske. Ein Wochenende lang wurde das Werk Anfang Juli auf dem Boden vor dem Tel Aviv Museum of Art belassen. Und damit bloss ein paar Meter neben dem israelischen Verteidigungsministerium.

Dass man den Protest nur aus der Vogelperspektive erkennen konnte, passte gut zur Situation. Denn unten auf den Strassen wurde zwar protestiert – aber es herrschten andere Sorgen vor. Schon mit den ersten Coronamassnahmen im März stieg in Israel die Arbeitslosenquote auf über zwanzig Prozent, und nun ächzt das Land bereits unter einer zweiten Ansteckungswelle, die sich weit heftiger zu entwickeln droht als die erste. Diese war Benjamin Netanjahu gerade recht gekommen, um von seinem Korruptionsprozess abzulenken und sich als Retter in der Krise an die Spitze einer Notfallregierung zu setzen. Im Schatten der Pandemie werkelte er jedoch hauptsächlich an der Umsetzung des «Friedensplans» für Nahost, den ihm Donald Trump im Januar vorgelegt hatte.

Warten auf Washington

Dieser «Deal des Jahrhunderts», wie Trump ihn nennt, ist vor allem ein Deal zwischen Netanjahu und den USA. Zwar basiert Trumps Vorlage auf einer Zweistaatenlösung – doch mit der Annexion eines Drittels des Westjordanlands bliebe für einen souveränen palästinensischen Staat kaum mehr als ein Flickenteppich. Aneignen soll sich Israel einen Teil des «Gebiets C», also jener Flächen, die seit den neunziger Jahren unter der Verwaltung des israelischen Militärs stehen. Vorübergehend, hiess es damals. Heute leben dort mehr israelische SiedlerInnen als PalästinenserInnen. Und mit der Annexion sollen auch die meisten Siedlungsblöcke legitimiert werden.

Obwohl Trumps Plan auch ein paar Bedingungen an Israel stellt, lässt sich kaum abstreiten, dass es sich um eine sehr einseitige Aktion handelt. In einem ersten Schritt will Netanjahu das strategisch wichtige Jordantal annektieren. Eigentlich sollte der genaue Plan am 1. Juli vorgelegt werden; dass der Stichtag verstrich, lag weniger daran, dass Länder wie Deutschland oder Frankreich heftige Kritik geäussert hatten. Grund war vielmehr, dass nicht nur in Israel plötzlich wieder über tausend Coronainfektionen pro Tag verzeichnet wurden, sondern auch die USA mitten in der Pandemie stecken. So wartet Netanjahu bislang vergebens auf das «Go» aus Washington.

Mit der Aktion vor dem Museum wollten die AktivistInnen trotzdem mahnen: «Gegen die Annexion zu sein, heisst, für unsere Existenz zu sein, für unsere Wirtschaft, für unsere Sicherheit», wie sie gegenüber israelischen Medien erklärten. «Die Annexion wird unseren Staat von innen zersetzen.»

Selbstzerfleischung als Druckmittel

Am nördlichsten Strand des Toten Meers sieht es am Wochenende, bevor die Ansteckungszahlen wieder in die Höhe schiessen, fast aus wie immer. Der Sand ist zu heiss, um barfuss zu gehen, im Wasser lassen sich israelische Damengrüppchen treiben, unter der Dusche spritzen sich palästinensische Jugendliche nass. Nur die TouristInnen aus dem Ausland fehlen. Kalia Beach liegt hinter der Grünen Linie, der Strand hat deshalb jüdische wie palästinensische BesucherInnen – vorausgesetzt, sie können sich den Eintritt leisten. Verwaltet wird der Strand vom gleichnamigen Kibbuz. Die Bezeichnung «Siedlung» hört man hier nicht gern, man ist stolz auf die guten Beziehungen zu den PalästinenserInnen.

Die sechzig Angestellten am Strand stammen alle aus dem nahen Jericho, der biblischen Oasenstadt, in der Jassir Arafat im Juli 1994 das erste Büro der Palästinensischen Autonomiebehörde (PA) eröffnete und seine AnhängerInnen dazu aufrief, für einen eigenen Staat zu kämpfen. An seine grossen Pläne erinnert nur noch das stillgelegte Casino vor der Stadt. Im «Oasis» zeigte sich zwei Jahre lang, wie eine friedliche Beziehung möglich ist, dann brach die Zweite Intifada aus.

Gemäss «Friedensplan» soll das Jordantal mit den israelischen Siedlungen, die sich dort befinden, annektiert werden. Jericho hingegen soll als autonome Enklave bestehen bleiben – abgeschnitten vom neuen palästinensischen Staat. Die Stadt würde dann endgültig zur Wirtschaftswüste.

Ein junger Palästinenser, der gerade im Souvenirladen über dem Strand Gesichtscremes entstaubt, macht sich nicht einzig darüber Sorgen. «Es fängt schon an, unbequem zu werden», sagt er. «In der Theorie dürfen wir für Israelis arbeiten, aber der Geheimdienst der PA verdächtigt uns, wenn wir enge Kontakte pflegen.»

Die Strategie der PA gegen die Annexion lautet: Selbstzerfleischung. Sie hat angekündigt, nicht nur die Gehälter der eigenen BeamtInnen zu kürzen – sondern auch die Zuwendungen an den Gazastreifen. PA-Präsident Mahmud Abbas hat dafür den Kontakt zur islamistischen Hamas, die in Gaza regiert, wiederaufgenommen und die Kooperation mit Israel in Sicherheitsfragen heruntergefahren. Der zuständige Beamte, Hussein al-Sheikh, erläuterte: «Wir sind keine Dummköpfe, wir sind pragmatisch.» Man werde auch keine israelischen Steuergelder mehr annehmen, die zuletzt gut die Hälfte des Budgets der Autonomiebehörde bildeten.

Das angedrohte Szenario: Wirtschaftskrise, Unruhen in der Bevölkerung, eine erstarkte Hamas, der Zusammenbruch der Autonomiebehörde. Israel soll sich vor einem Aufstand fürchten und den Kollaps der palästinensischen Gebiete international rechtfertigen müssen – und zwar als militärische Besatzungsmacht.

Biblische Grabenkämpfe

Der palästinensische Bademeister unten im Häuschen am Strand gibt sich verhalten. Er arbeitet seit zehn Jahren fürs israelische Management, hat hier seine jüdische Frau kennengelernt und darf jetzt in Jerusalem wohnen. Während er aufs Wasser guckt und israelische wie palästinensische Badegäste ermahnt, wegen des hohen Salzgehalts nicht auf dem Bauch zu schwimmen, sagt er: «Das ist kein Friedensplan. Israel will das Land, nicht aber die Leute, die darauf leben.» Er wolle in einem geeinten Land leben, in dem alle dieselben Rechte haben.

Der jüdische Strandmanager Itay Maor ist nur zwanzig Kilometer vom Bademeister entfernt aufgewachsen, in der Siedlung. Vor ein paar Jahren hat er die alten jordanischen Armeebaracken über dem Strand mit Graffiti bemalen lassen, von israelischen und internationalen KünstlerInnen. Themen: die Rettung des schrumpfenden Toten Meers und der Nahostkonflikt. Er hatte auch KünstlerInnen aus Palästina und Jordanien angefragt, aber niemand wollte kommen. Wer an einer israelischen Kunstaktion teilnehme, normalisiere die Besatzung, so die Begründung. «Mit der Annexion würde endlich das Fragezeichen über unseren Köpfen verschwinden», sagt der Israeli. Für seine palästinensischen Angestellten werde sich schon eine Lösung finden.

Nicht nur Jericho würde mit dem «Friedensplan» zur Enklave. Achtzig Kilometer nordwestlich liegt die palästinensische Stadt Nablus zwischen zwei Bergen, auf denen Moses nach dem Einzug aus Ägypten die zwölf Stämme Israels versammelt haben soll. Unten steht ein israelischer Wachtturm, auf dem sich Scharfschützen befinden, dahinter ein riesiges rotes Schild: «Israelis ist der Zugang verboten. Lebensgefahr!»

Auf dem Berg des Segens sitzt Nir Lavi in einer Art Westernranch. Hier hat er vor der Pandemie seinen Wein ausgeschenkt. Im Weinberg darunter steht eine Wärmebildkamera; die Augen der Siedlung Har Bracha wachen auch nachts. Das Land, auf dem sie steht, hat das israelische Militär einst von drei arabischen Dörfern konfisziert. Und seit dreizehn Jahren führt der Winzer einen Grabenkampf mit den benachbarten PalästinenserInnen. Pflanzt Reben im biblischen Samarien, weil es so beim Propheten Jeremiah steht – und um das Land zu erhalten, wie er sagt. Fünfmal sei bei ihm schon Feuer gelegt worden. Wenn es Probleme gebe, dann hole er jeweils die Golani-Brigaden der israelischen Armee, so Lavi.

Seit Wochen schon inspizieren israelische BeamtInnen den Hügel hinauf und hinunter die Gegend. Und der Winzer fragt sich, ob er, der Israeli, unten am Wachtturm bald palästinensischen Grenzbeamten seinen Ausweis zeigen muss. Die fünfzehn Siedlungen rund um Nablus blieben nach dem «Friedensplan» isoliert im palästinensischen Staat. «Wir stecken dann mitten in ihrem Schlund», sagt Lavi.

Im Moment hat der Winzer jedoch andere Sorgen. Seit Ausbruch der Pandemie fehlen ihm nicht nur die TouristInnen, sondern auch die freiwilligen HelferInnen, die jede Saison aus den USA kommen, um seine Reben zu schneiden und die Trauben zu ernten. Evangelikale ChristInnen, also gerade die WählerInnen, denen Trump mit dem «Friedensplan» vor allem gefallen will (siehe «Evangelikale Schlacht um die Heilige Stadt», WOZ Nr. 50/2017 ).

Als nun am vergangenen Samstag über 10 000 Leute auf dem Rabin Square in Tel Aviv «Bibi go home!» an die Adresse des Präsidenten riefen, ging es aber nicht um die Annexion, sondern um die eigene Existenz. Viele Arbeitslose und Selbstständige können derzeit ihre Mieten nicht mehr zahlen. Statt aber Rettungspakete für die Bevölkerung zu schnüren, erstritt Netanjahu einen riesigen Steuernachlass auf das eigene Privatvermögen. Der Gesundheitsminister seiner Partei nannte die Demonstration einen «Terroranschlag auf die Gesundheit», und am Sonntag dann verhaftete die Polizei eine Gruppe ultraorthodoxe JüdInnen in Jerusalem, weil sie gegen den Lockdown ihres Viertels protestiert hatten.

Im Westjordanland rief derweil Mahmud Abbas einen erneuten Lockdown aus, und er forderte PalästinenserInnen, die in Israel arbeiten, dazu auf, erst mal nicht heimzukommen, um nicht das Virus einzuschleppen. Die Pandemie legt sich über den Nahostkonflikt. Sie kümmert sich nicht um Staatsgrenzen – und schon gar nicht darum, was Trumps «Friedensplan» mit diesen vorhat.