Zweite Welle: «Wie Kugeln auf einem Billardtisch»

Nr. 44 –

Lieber jetzt eine Pause als später ein langer Lockdown: Gundekar Giebel, Sprecher des Berner Gesundheitsdepartements, ruft dazu auf, die aktuelle Situation sehr ernst zu nehmen.

Im Sommer das verhängnisvolle «grosse Aufatmen»: Die Einkaufskörbli wurden nicht mehr desinfiziert, die Leute verhielten sich nachlässiger.

WOZ: Herr Giebel, noch vor wenigen Wochen hiess es, die Schweiz sei gut aufgestellt. Jetzt sind die Fallzahlen explodiert. Was ging da schief?
Gundekar Giebel: Wir wussten, dass eine zweite Welle kommt, aber so heftig haben wir sie nicht erwartet. Wir sind jetzt da, wo wir in einem oder zwei Monaten zu sein erwarteten.

Warum ging es so schnell?
Man war im Sommer zu lasch. Klar kann man heute sagen, man hätte nie Grossveranstaltungen bewilligen sollen; andere Experten sagten schon im Frühling, wenn man öffne, gebe es eine unbemerkte Durchseuchung, die im Herbst explodieren werde. Alle haben ein bisschen recht. Es sind ganz viele kleine und grosse Faktoren: Party, Familienfest, Badi. Wir wiegten uns zu stark in Sicherheit.

Hätte sich das verhindern lassen?
Wenn man Europa heute anschaut – von Ländern mit strengstem Shutdown bis zum schwedischen Modell –, sieht man: Das Virus ist überall wieder aufgetaucht, und zwar heftig. Wir dachten zum Beispiel, die Tschechische Republik sei ein Vorzeigeland, dort wurde früh die Maskenpflicht eingeführt, jetzt gibt es aber gerade dort unglaublich hohe Fallzahlen. Es ist viel zu früh, um zu sagen, welche Strategie besser oder schlechter funktioniert. Es wird schon ein Punkt kommen, wo man es weiss – wenn man den weltweiten Vergleich über die Entwicklung der letzten 24 bis 36 Monate hat.

Also frühstens im Frühling 2022 – das ist eine sehr düstere Prognose.
Wir sind noch lange nicht durch – solange wir nicht breit impfen können.

Gundekar Giebel, Departementssprecher

Kann es sein, dass die schweren Fälle schon bald abnehmen, weil es bereits eine gewisse Immunität in der Bevölkerung gibt?
Momentan nehmen sie extrem zu. Wir haben heute Montag im Kanton Bern 64 Coronapatienten mehr im Spital als gestern. Es gibt kein Wunderrezept. Wir müssen die unkontrollierte Verbreitung stoppen und vor allem grosse Menschenansammlungen verhindern, damit wir wieder die Möglichkeit haben, Ansteckungsketten bis zum Ursprung zu verfolgen. Das geht jetzt nicht mehr, wir haben zu viele Fälle im System.

Würde es etwas bringen, die Ressourcen für das Tracing zu verstärken?
Das Wachstum der positiv Getesteten muss abnehmen oder sich zumindest stabilisieren. Sonst ist das Tracing rein zahlenmässig unmöglich. Momentan sind zu viele Infizierte auf der Strasse, die das Virus mit geringen Symptomen zehn Tage rumtragen, nie in eine Kontrolle gehen, aber viele Leute anstecken können. Das macht es so unglaublich schwierig. Es lässt sich mit einem Billardtisch vergleichen: Je mehr Kugeln auf dem Tisch sind, desto mehr Kugeln werden angestossen und stossen weitere Kugeln an. Bei doppelt so vielen Kugeln sind es nicht doppelt so viele Kontakte, sondern viel mehr.

Lässt sich im Kanton Bern noch sagen, was die Hauptansteckungsorte sind?
Nein, wir wissen bei über 40 Prozent der Fälle nicht, wo die Ansteckung erfolgte. Das sind 40 Prozent weisse Flecken, die sich unkontrolliert verbreiten. In anderen Kantonen sind es über 50, in gewissen sogar 70 Prozent. Je höher diese Zahl, desto mehr Lücken. Wenn man die Ansteckungsorte wieder besser sieht, kann man die Massnahmen anpassen. Mit 20 bis 30 Prozent Fällen von unbekannten Ansteckungsorten kann man umgehen.

Droht jetzt zwei Jahre lang ein Hin und Her zwischen Verschärfen und Lockern? Macht die Bevölkerung das mit?
Viele, die sich in ihrer persönlichen Freiheit eingeschränkt fühlen, müssen einsehen, dass es noch viel schlimmer kommen könnte. Jede Person muss etwas geben, damit es für alle wieder stimmt. Im Frühling hat das funktioniert, aber in Schockstarre. Im Sommer kam das grosse Aufatmen: Die Desinfektionsmittel vor den Läden sind verschwunden, die Einkaufskörbli waren nicht mehr desinfiziert. Wir waren im Frühling viel aufmerksamer.

Was sagen Sie den Leuten, die unter den Massnahmen psychisch leiden?
Es ist besser, jetzt zu pausieren, auch im Kulturellen und Sozialen, als in einem Monat alles einstellen zu müssen. Wir müssen versuchen, die Kurve umzukehren, vielleicht auch mit lokalen Lockdowns, aber wenn möglich ohne. In etwa zwei Wochen werden wir im Kanton Bern wissen, ob die Ansteckungszahlen auf die Massnahmen reagieren. Dann kann man schauen, wo man nachjustieren kann.

Gibt es genug Intensivstationsplätze?
Bern hat genug, total 800, davon 200 beatmet und 24 Stunden bewacht. Aber jetzt die Anzahl Plätze erhöhen bringt nichts, wir haben die Fachleute gar nicht. Eine Intensivpflegerausbildung ist ein zweijähriges Nachdiplomstudium. Klar haben wir Notfallmassnahmen vorbereitet, aber wir hoffen, dass wir sie nicht umsetzen müssen.

Was ist Ihr Fazit?
Es ist mir ein Anliegen, dass die Leute verstehen: Alle müssen mithelfen, egal wie frustriert sie sind. Ich habe gerade den «Corriere della Sera» gelesen; der Dirigent der Mailänder Scala ist empört über die Massnahmen. Ich verstehe das gut, ich habe viele Kulturschaffende in meinem Freundeskreis. Trotzdem: Lieber jetzt die Pause durchstehen und das Land lebensfähig halten, als später in den Lockdown zu müssen. Alles, was man dazu sagen kann, klingt pathetisch, aber wenn wir es jetzt nicht hinbringen, überrollt es uns, und dann müssen wir wirklich ein paar Monate daheimbleiben. Dann geht wirklich viel kaputt.

Corona-Strategien : Welche Massnahmen bringen am meisten?

Nach einem halben Jahr Covid-Schutzkonzepten stellt sich die grosse Frage: Welche Massnahmen haben genützt? Was hat nicht funktioniert? Irgendwo muss etwas falsch gelaufen sein, wenn jetzt die Infektionszahlen so massiv hoch sind.

Das deutsche Robert-Koch-Institut (RKI) hat vor kurzem einen Report publiziert, in dem es die «Wirksamkeit nicht-pharmazeutischer Interventionen bei der Kontrolle der Covid-19-Pandemie» untersucht hat. Es analysierte darin die Massnahmen, die in den OECD-Ländern zur Anwendung gekommen sind; der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) gehören 37 Staaten an, auch die Schweiz ist Mitglied. Angesichts der Notwendigkeit, «einige politische Massnahmen erneut zu verschärfen, um die Ausbreitung des Virus zu verhindern, ist es dringend erforderlich, die wirksamsten Interventionen zu ermitteln und ihren Beitrag zur Eindämmung der Krankheit zu quantifizieren», schreibt das Institut. Denn solange sich nicht einordnen lässt, was eine Massnahme wirklich bringt, lässt sich gerade in der jetzigen Situation kaum eine langfristige, tragfähige Strategie entwickeln.

Die RKI-Studie kommt nun zum Schluss, «dass 1) Beschränkungen für Versammlungen, 2) Anforderungen an das Tragen von Masken, 3) Anforderungen an die Schliessung von Schulen, 4) Anforderungen an die Schliessung von Arbeitsplätzen und 5) die Gesamtzahl der durchgeführten Tests pro tausend Einwohner» signifikanten Einfluss auf die Entwicklung der Pandemie haben.

Das Institut weist aber auch auf Unsicherheiten in der Analyse hin, da es nicht überprüfen konnte, ob die angeordneten Massnahmen tatsächlich auch umgesetzt worden seien. Gleichwohl gibt die RKI-Studie einen Hinweis, wo es langgehen könnte, ohne gleich wieder in einem Lockdown zu landen.

In der Schweiz publizierte das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) schon Anfang Juli eine ähnliche Analyse. Das Seco hat keine Aktualisierung in Auftrag gegeben, weil neue Übersichtsstudien – wie eben über die OECD – publiziert worden seien, schreibt das Seco auf Anfrage.

Susan Boos