Verfassungsstreit: Caroni bremst den Fortschritt

Nr. 45 –

FDP-Ständerat Andrea Caroni möchte, dass künftig über alle Staatsverträge mit Verfassungsrang abgestimmt wird. Damit verhilft er einer alten SVP-Forderung zum Durchbruch. KritikerInnen sind alarmiert. Ein Verfassungsstreit, den bisher niemand bemerkt hat.

Kann das Ständemehr in Zukunft Menschenrechte aushebeln? Albert Weltis und Wilhelm Balmers Fresko «Die Landsgemeinde» im Bundeshaus. Foto: wikimedia.com (public domain)

Paul Rechsteiner ist besorgt. Der Rechtsanwalt, der seit 34 Jahren die SP im Parlament vertritt und die Mechaniken der Bundespolitik wie kaum ein Zweiter kennt, sagt: «Das ist ein Anschlag auf die Demokratie und die Menschenrechte.»

Mathias Zopfi sieht es ähnlich. Ebenfalls Rechtsanwalt, wurde der Grüne im letzten Herbst überraschend als Vertreter des Kantons Glarus in den Ständerat gewählt. Zopfi sagt: «Diese Vorlage ändert die Spielregeln. Als würde man beim Jassen eine neue Farbe einführen.»

Unbeirrt gibt sich Andrea Caroni. Auch er ist Rechtsanwalt, Ständerat für den Kanton Ausserrhoden, FDP: «Als Verfassungsliebhaber setze ich mich für die Freiheit und gegen die Willkür ein.»

Caroni hat das Geschäft mit der Nummer 20.016 mit einer Motion lanciert. Es trägt den sperrigen Titel «Obligatorisches Referendum für völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter». Das Geschäft segelte bisher unter dem Radar der Öffentlichkeit. Der Ständerat hat der Vorlage im September zugestimmt, ohne weitere Abklärungen. Der Bundesrat unterstützt es, wobei Justizministerin Karin Keller-Sutter im Ständerat wenig Begeisterung spüren liess. Kein Medium hat darüber berichtet. Erstaunlich angesichts der Tragweite.

Worum es bei Geschäft 20.016 geht, lässt sich nicht in einem Satz auf den Punkt bringen. Wer sich damit beschäftigt, lernt allerdings einiges über die Verfasstheit der Schweiz seit 1848. Über die Frage, wann ein Entscheid überhaupt als demokratisch gilt, und über grundrechtliche Fort- und Rückschritte. Irgendwann versteht man die Bedenken gegen Geschäft 20.016.

Verführerische Logik

Der Grundsatz der Vorlage lautet, dass für sämtliche völkerrechtliche Verträge mit Verfassungscharakter das obligatorische Referendum gelten soll. Beispiele aus der Vergangenheit könnten die Uno-Behindertenrechtskonvention oder die Uno-Kinderrechtskonvention sein. Diese sichert Kindern etwa das Recht zu, in Scheidungsprozessen angehört zu werden.

Bisher gilt für die meisten völkerrechtlichen Verträge das fakultative Referendum: zuerst müssen dafür Unterschriften gesammelt werden, in der Abstimmung ist zur Annahme nur das Volksmehr erforderlich. Beim obligatorischen Referendum käme eine Vorlage automatisch zur Abstimmung, und sie bräuchte sowohl das Volks- wie auch das Ständemehr. Eine Ausnahme gibt es schon heute: Wenn die Schweiz einer supranationalen Gemeinschaft wie der EU oder einer Organisation der kollektiven Sicherheit beitreten möchte, braucht es bereits jetzt das doppelte Mehr.

Was ist nun die Motivation von Caroni, das System zu ändern? Ihn leite ein logischer Gedanke, sagt er im Gespräch. Er möchte einen «Parallelismus» herstellen: Bei der Verfassung sei es nämlich so, dass es bei einer Änderung immer die Zustimmung von Volk und Ständen brauche. «Es wäre folgerichtig, wenn dies parallel auch beim Völkerrecht gilt.» Damit stärkt die Vorlage seiner Meinung nach das Völkerrecht: Ein Vertrag, der im gleichen Verfahren wie eine Verfassungsänderung angenommen sei, habe dann auch die gleiche Legitimation.

Caroni stört sich aber vor allem daran, dass die Behörden in der Geschichte des Bundesstaats dreimal von sich aus ohne Rechtsgrundlage Abstimmungen obligatorisch erklärt haben, zuletzt 1993 die über den Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum, der noch nicht als supranationale Organisation galt. «Eine solche Plebiszitdemokratie, in der die Regierung von oben herab eine Abstimmung anordnen kann, passt nicht zur Schweiz», sagt Caroni. «Demokratie ist kein Gnadenakt, sondern ein Anspruch. Mit dieser Anpassung stärken wir die Demokratie und schaffen darüber hinaus Rechtssicherheit.»

Klingt alles so weit schlüssig, ein bisschen detailverliebt allenfalls. Warum dann die Empörung bei der Linken?

Drohende Blockade

Nicht zuletzt liegt sie in der Definition des Bundesrats begründet, welchen Verträgen künftig Verfassungscharakter zugebilligt werden soll. Dazu gehören Abkommen, die Grundrechte berühren. Weiter zählen Verträge dazu, die das Verhältnis von Bund und Kantonen regeln oder die Organisation von Bundesbehörden. Wirtschaftsabkommen wie Freihandelsverträge sind ausgenommen. Wie der Bundesrat in seiner Botschaft einräumt, würde vor allem über Grundrechtsvorlagen abgestimmt. Die anderen Fälle dürften nur selten vorkommen.

«Was hier installiert werden soll», sagt Paul Rechsteiner, «ist eine Fortschrittsbremse.» Die Rechtsentwicklung in der Schweiz speise sich aus drei Quellen: dem Völkerrecht, der Verfassung und der dynamischen Rechtsprechung des Bundesgerichts. «Besonders die Europäische Menschenrechtskonvention war ein positiver Bezugspunkt, damit die Schweiz ab den sechziger Jahren bei den Grundrechten aufgeholt hat.» Weil es kein Verfassungsgericht gibt, konnte das Bundesgericht den Menschenrechten und den sozialen Rechten, wie sie in der EMRK oder den Uno-Konventionen begründet sind, in Urteilen zum Durchbruch verhelfen.

Wenn für solche Abkommen künftig das Ständemehr gelte, könnten sie von den konservativen Kantonen sehr einfach blockiert werden, sagt Rechsteiner. «Dabei gibt es in Zukunft erst recht grundrechtliche Fragen zu regeln – denken wir an die Informations- oder die Biotechnologie.»

Sind die Befürchtungen berechtigt? Anruf bei einem, der die verschiedenen juristischen Vorgaben in der täglichen Arbeit abwägen musste: Niccolò Raselli war von 1995 bis 2002 Bundesrichter und kann sich nach der Pensionierung eine politische Einschätzung leisten. «Die Vorlage ist sehr theorielastig. Rechtslogisch mag man Caroni zustimmen, dass beim Völkerrecht wie auch in der Verfassung das Gleiche gelten soll. Im Effekt aber hat Rechsteiner recht: Der Abschluss von internationalen Verträgen würde deutlich erschwert.»

Für Raselli sprechen noch andere Gründe gegen die Vorlage. Die Klärung der Frage, ob ein völkerrechtlicher Vertrag einen Bezug zu den Grundrechten habe, würde keine Rechtssicherheit schaffen. «Vielmehr sind ständig verpolitisierte Diskussionen zu erwarten.» Dass ein doppeltes Mehr dem Völkerrecht mehr Legitimation verschaffe, weist er zurück. «So sind beispielsweise Bundesgesetze, gegen die das fakultative Referendum nicht erhoben wurde, nicht weniger wert als die Verfassung.» Auch stärkten automatische Abstimmungen die demokratische Mitsprache nicht: «Muss ein Referendum ergriffen werden, fördert das die Meinungsbildung viel stärker.»

«Ein Bärendienst»

Wenn Mathias Zopfi im Ständerat spricht, spricht er für gerade einmal 40 000 BürgerInnen. Im Gegensatz zu einem der Zürcher Ständeräte, der 1,5 Millionen vertritt. Umso bemerkenswerter war es, dass er sich in der Debatte mit Verve gegen eine Ausweitung des Ständemehrs einsetzte. «Als Vertreter eines kleinen Kantons bin ich ein Verfechter des Ständemehrs: Seine ausgleichende Funktion bewirkt, dass sich der Graben zwischen Stadt und Land nicht vergrössert. Aber mit dieser Vorlage erweisen wir ihm einen Bärendienst.»

Bei Grundrechtsfragen gehe es um die Rechte des Individuums, sagt Zopfi. «Deshalb genügt auch die Mehrheit der Individuen für eine Annahme neuer Abkommen. Die Stände haben bei diesen Fragen nichts verloren.» Das Ständemehr sei keine konstruktive Kraft, es hätte bloss eine Vetofunktion, führt Zopfi aus. Und zwar einzig für die konservativen Deutschschweizer Kantone. Andere realistische Konstellationen gäbe es keine, die welschen Kantone etwa kämen auf keine Mehrheit.

Wenn in Zukunft nun die kleinen Kantone die gesellschaftliche Veränderung gegen die Mehrheit der Bevölkerung blockierten, könne das dem Ständemehr mehr schaden als nützen. «Es soll auf seine eigentliche Funktion beschränkt bleiben: auf Regelungen, die das Verhältnis von Bund und Kantonen betreffen.» Andrea Caroni sieht das freilich anders: «Die sozialen Rechte in völkerrechtlichen Abkommen begründen häufig einen finanziellen Anspruch an den Staat. Die Kosten haben die Kantone zu bezahlen. Die Grundrechte sind zudem auch in der Verfassung geregelt, wo sie ebenfalls das Ständemehr brauchen.»

Was hat es mit dem Ständemehr genau auf sich? Noch ein Anruf, diesmal bei Jo Lang. Seit er in diesem Jahr sein Buch «Demokratie in der Schweiz» veröffentlicht hat, ist der Grünalternative als Demokratieexperte bis in die NZZ hinein respektiert. «Das Ständemehr ist ein historisches Relikt wie die Elektorenwahl in den USA», sagt Lang. Bei der Bundesstaatsgründung 1848 sei das Referendum bei Verfassungsänderungen mit Volks- und Ständemehr beschlossen worden. Das doppelte Mehr war ein Kompromiss zwischen Liberalismus und Konservatismus: für die einen waren die Individuen wichtig, also das Volksmehr, für die anderen Körperschaften wie die Kantone, daher das Ständemehr. 1874, als die Schweiz dann die weltweit fortschrittlichste Verfassung erliess, wurde zusätzlich das Referendum bei Gesetzen erlassen. Diesmal setzten sich die Freisinnigen und Demokraten gegen die Konservativen durch: Fortan reichte das Volksmehr als vollwertiger demokratischer Entscheid aus.

Wolle man das Völker- und das Verfassungsrecht in Übereinstimmung bringen, müsse man in dieser Logik das Ständemehr nicht beim Völkerrecht ausweiten – sondern beim Verfassungsrecht abschaffen: «Caroni argumentiert nicht wie die damaligen Freisinnigen, sondern wie die damaligen Konservativen. Das bringt das Elend des heutigen Freisinns auf den Punkt. Liberal ist er nur noch im Wirtschaftlichen.»

Freisinnige Uneinigkeit

Dass die Frage nach der Bedeutung von Staatsverträgen überhaupt diskutiert wird, hat mit zwei Volksinitiativen der SVP zu tun. Die eine hiess «Staatsverträge vors Volk» und wurde 2012 von 75 Prozent der Stimmberechtigten abgelehnt. Der Bundesrat wollte die Initiative ursprünglich mit einem Gegenvorschlag bekämpfen, der in etwa Caronis heutiger Vorlage entspricht. Nicht zuletzt dank des Einsatzes des damaligen CVP-Fraktionschefs Urs Schwaller wurde dieser verhindert. 2018 hieb die SVP-«Selbstbestimmungsinitiative», bekannt als Anti-Menschenrechtsinitiative, in die gleiche Kerbe. Auch sie wurde mit 66 Prozent deutlich abgelehnt. «Die Bevölkerung hat sich klar gegen Änderungen im System ausgesprochen», sagt Paul Rechsteiner. «Warum sollen wir der SVP jetzt eine Gratisprämie verschaffen und über jedes völkerrechtliche Abkommen automatisch abstimmen lassen?»

Nach dem Ständerat wird nun der Nationalrat die Vorlage diskutieren. In der Staatspolitischen Kommission haben Samira Marti (SP) und Kurt Fluri (FDP) erreicht, dass eine Anhörung von ExpertInnen stattfinden muss. Marti findet die Vorlage unnötig: «Die heutige Regelung, dass über den Beitritt zu internationalen Organisationen automatisch abgestimmt wird, genügt doch. Alles andere bringt nur Rechtsunsicherheit.»

Kurt Fluri will sich inhaltlich noch nicht festlegen. «Änderungen der Verfassung sollten wir aber in jedem Fall genau prüfen.» Es könne immer sein, dass beim Versuch, ein kleines Problem zu lösen, viel grössere Probleme entstünden. Fluri: «In solchen Fällen muss man ein wenig Bundesstaatspragmatismus walten lassen. Wir müssen nicht alles regeln.»

Die freisinnige Uneinigkeit ist ein Hinweis: So einfach wie im Ständerat wird es die Vorlage im Nationalrat nicht haben.