Macht in der Schweiz: Konfusion im Bürgerblock

Nr. 50 –

Kürzlich taten die bürgerlichen ParlamentarierInnen aus der Zentralschweiz kund, wem im Zweifel ihr Erbarmen gilt. «Mit grosser Besorgnis», heisst es im Brief an den Bundesrat, erfülle sie der angekündigte Umzug des Weltwirtschaftsforums Wef nach Singapur. Hunderte Arbeitsplätze stünden auf dem Spiel, der Bundesrat müsse handeln, damit das Treffen doch noch auf dem Bürgenstock stattfinde. «Wir danken für Ihren Einsatz zum Wohle der Schweiz», schrieben sie vorauseilend. Der Brief verpuffte wirkungslos. Diese Woche hat Wef-Gründer Klaus Schwab entschieden, dass er mit seiner elitären Zirkusshow den Coronahotspot Schweiz verlässt.

Hatte man in den letzten Monaten, als sich die zweite Welle der Pandemie anbahnte, von den Bürgerlichen einen ähnlich entschiedenen Aufruf «zum Wohle der Schweiz» gehört? Hatte man nicht. So steht die Episode beispielhaft dafür, wie diese den Draht zur Bevölkerung verloren haben. Zumindest zu jenem Teil, der sich anders als die Wef-TeilnehmerInnen keine Übernachtung auf dem Bürgenstock leisten kann, und schon gar nicht die Presidential Suite für 25 000 Franken pro Nacht.

Etwas scheint sich zu verändern in diesem Jahr der Pandemie, vermutlich tut es das schon seit längerem. Der Glaubenssatz der Bürgerlichen wirkt nicht mehr: dass sie am besten wissen, wie «die Wirtschaft» läuft, dass sie deshalb für «die Wirtschaft» insgesamt sprechen können, und ihre Rezepte am Ende allen nützen. Besonders den KMUs.

Dass den Rechten gerade die wirtschaftspolitische Hegemonie entgleitet, zeigt sich einerseits praktisch bei der Entschädigung für die Auswirkungen der Coronamassnahmen. Bisweilen fragt man sich, ob Mattea Meyer und Cédric Wermuth die neuen PräsidentInnen der SP sind oder die des Gewerbeverbands. Das ist durchaus positiv gemeint. Mit den Grünen setzen sie sich für die Absicherung der Selbstständigen wie für einen Erlass der Geschäftsmieten ein. Das Gewerbe kritisiert derweil die eigenen Verbände für ihr Nichtstun.

Die Veränderung zeigte sich andererseits symbolisch, bei der Abstimmung über die Konzernverantwortung: Den Lügen von Bundesrat und Economiesuisse zum Trotz hat eine Mehrheit die Initiative angenommen. Nur das Ständemehr verhinderte eine Blamage. Derart erschüttert war der Bürgerblock seit der Finanzkrise 2008 nicht mehr.

Die Rechten stecken in einem Formtief: Die FDP verliert Stadt um Kanton, die SVP findet auch mit neuem Präsidenten nicht aus der Sinnkrise, immerhin die CVP scheint ihre Mitte gefunden zu haben. Auch die Kapitalfraktionen sind zerstritten: Raiffeisen hat die Bankiervereinigung verlassen, weil diese das Inlandgeschäft zu wenig interessiere. Die Axa ist aus dem Versicherungsverband ausgetreten, weil der zu SVP-nahe agiere. Neben der Economiesuisse bildet sich die – Obacht, Wortspiel – Autonomiesuisse. Der neue Verband propagiert eine Zukunft fern des EU-Binnenmarkts.

Ausgelöst hat die Erschütterung der Machtverhältnisse keine Revolution, sondern, dies als These, eine Veränderung der Arbeits- und Alltagswelten. Breite Schichten, denen jahrelang Eigenverantwortung gepredigt wurde, fordern diese nun von den Konzernen ein. Die neuen Selbstständigen, etwa im Kulturbereich, brauchen entgegen der Gewerbeverbandslitanei nicht weniger Bürokratie, sondern eine soziale Absicherung. Für Kleinbetriebe, ob in der Stadt oder der Agglo, sind Kitaplätze längst wichtiger als Parkplätze.

Auf all diese Bedürfnisse, die ein forcierter Neoliberalismus ausgelöst hat, wissen die Bürgerlichen kaum eine Antwort. Und schon gar nicht auf die übergeordneten Fragen, die viele umtreiben, sei es zur Klimaerwärmung oder zur Gleichstellung.

Aber kennt sie die Linke? Die Anliegen der neuen Selbstständigen und der gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten zu verbinden, ist eine Herausforderung. Eine wachstumsorientierte Produktionsweise in eine klimaneutrale umzubauen, erst recht. Aber verpassen wir nicht diesen Moment der Offenheit, um über die Wirtschaft zu streiten, in der wir arbeiten wollen.