«Bir Baskadir»: Zwischen zwei Ohnmachten

Nr. 51 –

Auch falsche Fährten bergen Einsichten: Die Netflix-Serie «Bir Baskadir» zeigt den Grossraum Istanbul als Kaleidoskop von Menschen, die aneinander vorbeireden und sich doch näherkommen.

Schlau und abgründig, auch wenn an ihren Schuhen der Dreck vom Dorf klebt: Meryem (Öykü Karayel). Foto: Netflix

Beten oder in die Analyse? Die Sorgen beim alten Dorfgeistlichen oder doch lieber bei der Psychiaterin in der Stadt deponieren? Die gut zwanzigjährige Meryem, so lässt uns die neue türkische Netflix-Serie «Bir Baskadir» gleich in der ersten Folge erahnen, wird sich nicht fix für eine der beiden Optionen entscheiden. Und sie fährt nicht schlecht mit ihrer Doppelspurigkeit – wie auch mit ihrer Zurückhaltung gegenüber beiden Ansätzen. Dass man sich im herrschenden Kulturkampf entweder für die religiöse oder die weltliche Therapie zu entscheiden habe, ist nur eine der falschen Fährten, die der Drehbuchautor Berkun Oya für uns und unsere Vorurteile auslegt. Eine andere ist der ewige Kontrast zwischen Stadt und Land, der mit Meryems umständlichem Weg vom Dorf am Stadtrand hinein ins Grossstadtgewühl von Istanbul zuerst hübsch etabliert, im Verlauf der Serie aber beharrlich demontiert wird.

Blütenblätter aus Plastik

In den neblig verwunschenen Landschaften rund um Istanbul gären ähnliche Neurosen, Träume und Traumata wie in den Schluchten der Metropole. Doch deren sich betont weltläufig gebende BewohnerInnen blicken – genau wie wir vor dem Bildschirm – erst einmal arg blasiert auf das vermeintlich zurückgebliebene, religiöse Personal vom Land. An den Turnschuhen der Kopftuchträgerin Meryem klebt zwar der Dreck vom Dorf, wenn sie vor der schicken Psychiaterin Peri sitzt. Im Gespräch erweist sie sich aber als ebenso schlau und abgründig wie die studierte Peri, die kein Tuch auf dem Kopf, aber dafür in vielerlei Hinsicht eins vor den Augen trägt.

Meryem leidet unter unerklärlichen Ohnmachtsanfällen. Die ärztlichen Untersuchungen ergaben keinen Befund, es muss also etwas Seelisches sein. Die Psychiaterin will routiniert eine verdrängte Verliebtheit des verklemmten «Kopftuchmädchens» als Grund erkennen: Sie sei sicher verschossen in den Mann, für den sie einmal die Woche sauber macht. Der Dorfgeistliche wiederum, den Meryem mit ihrem Problem ebenfalls aufsucht, erzählt ihr blumig etwas von falschen Blüten aus Plastik, die der Welt Trügerisches vorgaukelten, und von echten organisch gewachsenen Blumen, die ihr ein Vorbild sein sollten.

Peris Schnellschuss, aber auch die botanische Therapie des Hodschas kriegen Risse. Als ein paar Tage später Meryems aufbrausender Bruder hilfesuchend beim Geistlichen anklopft, weil er nicht mehr weiterweiss mit seiner depressiven Frau und seinem stummen Sohn, kriegt er dieselbe Blumenparabel vorgesetzt. Und trottet kaum schlauer von dannen.

Geschickt überkreuzen sich so in diesem Episodendrama die Wege und die Schicksale der Hauptfiguren mit ihren Kopftüchern oder Yogamatten. Die Schlichtheit der Szenen, in denen oft einfach zwei miteinander reden oder streiten, mag darüber hinwegtäuschen, wie komplex es hinter den Fassaden brodelt. Klar wird, dass es noch ganz andere Orthodoxien und Verblendungen zu überwinden gilt als die religiösen. «Bir Baskadir» verhandelt toxische Männlichkeit, die bekanntlich nicht nur die Frauen gefährdet, sondern auch die Männer vergiftet; Homosexualität; das Trauma einer Vergewaltigung; eine als Fortschrittlichkeit getarnte Klassenarroganz; Melancholie und Kleinmut einer sich freigeistig gebenden, gebildeten urbanen Schicht.

Sittenlosigkeit und Sex

Lose verbunden sind die Figuren durch eine TV-Soap, die fast alle schauen, obwohl sie betonen, dass diese eigentlich «für die einfachen Leute» gemacht sei. Noch so eine neckische Verspiegelung, die Berkun Oya eingebaut hat und die selbstbewusst darauf verweist, dass auch seine eigene – sehr erfolgreiche – Serie eine solche vereinende, womöglich sogar aufklärerische Funktion einnehmen könnte.

«Bir Baskadir» heisst auf Deutsch etwa so viel wie «er/sie ist anders». Wenn man über das Echo in der Türkei liest, wird deutlich: Auch die Rezeption ist bei allen etwas anders. Intellektuelle monieren, das Verhältnis von Religiösen und Säkularen werde zu holzschnittartig dargestellt. TraditionalistInnen schimpfen über zu viel Sittenlosigkeit und Sex. Doch alle schauen sie die Serie. Die Vermutung liegt also nahe, dass «Bir Baskadir» gerade viel richtig macht.

Nicht zuletzt besticht die alte Verwandtschaft zwischen Seriensetting und Psychoanalyse. Jede Folge ist so lang wie eine psychoanalytische Sitzung. Und die Analogie gilt für uns ZuschauerInnen, die wir als Analytikerinnen (oder Patienten?) in schöner Regelmässigkeit vor unseren Bildschirmen sitzen, aber auch für die MacherInnen. Berkun Oya entwickelt die Seelen seiner Figuren so, dass jede und jeder sich im Verlauf dieser achtteiligen Fiktionstherapie aus einem Dasein als Schablone oder Gefangene von Ideologien befreien könnte. Peri steigt irgendwann von ihrem hohen Ross herab, der Hodscha merkt, dass ihm die Rolle als Universalratgeber zu viel wird, Meryem mausert sich zum heimlichen Star des Ensembles. Und obwohl etwa der Name Erdogan nie fällt, bezieht Oya auch im Abspann entwaffnend klar Stellung gegen religiöse oder politische Gewaltsysteme.

«Bir Baskadir» läuft unter dem Titel «Acht Menschen in Istanbul» auf Netflix Schweiz.