Schweiz–EU: Ein Steilpass aus Brüssel

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Sie hätten alle Zeit der Welt gehabt, oder zumindest alle Zeit Europas. In Ruhe hätten sie das Brexit-Resultat abwarten können, das spätestens am 31. Dezember 2020 zu erwarten stand. Mit Weitsicht hätten sie darauf ihre Position festlegen können, um das institutionelle Abkommen zwischen der Schweiz und der EU zu einem glücklichen Ende zu bringen. Doch was taten die BundesrätInnen?

Sie legten das weitere Verhandlungsmandat bereits im November fest. Zuerst sollte es geheim bleiben, doch dann plauderte Aussenminister Ignazio Cassis bei einer parlamentarischen Anfrage doch wieder: Man wolle lediglich «zufriedenstellende Klärungen» beim Lohnschutz, dem Service public und der Unionsbürgerrichtlinie erreichen.

Zwar hat Cassis das Personal ausgewechselt, den eigenmächtigen Chefunterhändler Roberto Balzaretti, der die flankierenden Massnahmen zum Lohnschutz preisgegeben hatte, musste er durch Livia Leu ersetzen. Die Strategie aber bleibt, Cassis will weiterwursteln. Dass er der EU die Klärungen beim Lohnschutz überlässt, zeigt erneut, dass er sich nicht dafür interessiert. Der schwache Rahmenvertrag, der derzeit vorliegt, ist kein «Diktat» der EU, sondern ein Versagen des Gesamtbundesrats.

Beim Brexit hat die EU wieder einmal bewiesen, worauf auch der Historiker Kiran Klaus Patel im Gespräch in dieser WOZ-Ausgabe hinweist: Sie ist ein bewegliches Gebilde, grundsätzlich an einer Einigung interessiert. Und vor allem: Sie verhandelt darüber bis zur letzten Minute. So wird nun etwa der Europäische Gerichtshof (EuGH) im Freihandelsabkommen mit Grossbritannien doch keine Rolle spielen. Beim Rahmenabkommen, das eine deutlich höhere internationale Verflechtung bringt, ist er jedoch als Element der Streitschlichtung vorgesehen. Die AussenpolitikerInnen aus FDP, Mitte-Partei und SP, die vor kurzem noch tönten, in dieser Frage sei nichts zu machen, haben nach Inkrafttreten des Brexit eine Kehrtwende vollzogen: Sie wollen nun zumindest die strittigen Punkte von der Rechtsprechung des EuGH ausnehmen.

Der enge Blick auf den Gerichtshof, der die Vorstellung «fremder Richter» nährt, verstellt aber ohnehin die Diskussion. Beim Rahmenabkommen geht es nicht um den simplen Gegensatz zwischen internationaler Öffnung und nationalstaatlicher Autonomie, wie ihn Grünliberale und SVP gerne bewirtschaften, sondern vor allem um wirtschaftliche und soziale Fragen: um die Festigung der Teilnahme am europäischen Binnenmarkt, wozu auch die Rechte der Beschäftigten gehören. In einer Logik, die proeuropäisch und sozial ist, darf der Lohnschutz nicht geschwächt werden.

Sicher, der Brexit war für die EU eine weit grössere Herausforderung als die Verhandlungen mit der Schweiz. Gleichzeitig liefert er in der sozialen Frage aber einen Steilpass: Brüssel rühmt sich nach Verhandlungsschluss, dass Grossbritannien die Sozial- und Arbeitsstandards der EU nicht unterbieten darf. Warum soll der Schweiz verboten werden, dass sie diese überbietet? Mit der Bestätigung der Personenfreizügigkeit im letzten Jahr kann die Schweiz zudem ein starkes Argument vorlegen, dass sie ein zuverlässiger Partner ist.

Stände- wie Nationalrat haben dem Bundesrat den Auftrag erteilt, mit der EU Nachverhandlungen zum Rahmenabkommen anzustreben, nicht bloss Klärungen. Nur ein sozialverträglicher Vertrag hat in einer Abstimmung eine Chance. Ansonsten bricht der Bundesrat die Übung besser ab. Eine Diskussion über den EU-Beitritt mit allen Rechten und Pflichten wäre dann zukunftsgerichteter.

Kommt ein unausgegorener Vertrag zur Abstimmung, hat das ein enormes Spaltpotenzial: Gewerkschaften, SP und Grüne würden sich in der sozialen Frage zerstreiten, der Riss zöge sich auch durch das bürgerliche Lager: Gerade «Die Mitte» ist sich beim institutionellen Abkommen alles andere als einig. Die Schweiz wäre dort, wo sie 1992 nach dem EWR-Nein war. Eine solche Abstimmung wäre ein Gratisaufbauprogramm für die SVP, die derzeit wie ein Zombie durch die Politik geistert.