Wahltag im Kosovo: Ist das Couvert losgeschickt, hilft nur noch Daumendrücken

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Vor den Schicksalswahlen kämpft auch die Schweizer Diaspora um jede Stimme. Studierende organisieren Proteste. Geschäftsleute buchen Flugzeuge aus – und viele andere hoffen, dass ihre Stimme auch wirklich gezählt wird.

Grundsätzlich vertraut Arton Dema der Post: Von Montag bis Mittwoch arbeitet er als Briefträger im Kanton Zürich. Aber wird sein Brief rechtzeitig im 1700 Kilometer entfernten Kosovo ankommen? Daran hat der 38-Jährige seine Zweifel. Also hat sich Dema ein Flugticket für 400 Franken gekauft plus 300 Franken für die Coronatests draufgelegt. Das ist ihm der 14. Februar wert, für viele ein gewöhnlicher Valentinstag, für Dema der Start einer neuen Ära: «Ich fliege hin, um die Revolution zu wählen.»

Arton Dema stammt aus einem Dorf namens Zheger, im Kosovo auch «kleine Schweiz» genannt, weil von dort Hunderte Familien nach Genf ausgewandert sind. Sie zahlen in einen Fonds ein, um die Dorfinfrastruktur am Leben zu erhalten – Asphalt, Schulen, Hausdächer. Auch zwanzig Jahre nach dem Krieg sind viele auf das Geld aus dem Ausland angewiesen. «In der Pandemie sind die Überweisungen angestiegen», sagt die 36-jährige Jeta Krasniqi, Senior Researcher des Kosovo Democratic Institute, «das zeigt, wie eng die Verbindung zur Diaspora nach wie vor ist.» Dema und seine Familie leben seit fünfzehn Jahren im Kanton Zürich. Der Sohn spielt im Fussballverein, die Tochter besucht eine Tanzschule. Neben seinem Job bei der Post arbeitet Dema noch im Landesmuseum. «Nach dem Krieg dachten wir, der Kosovo wird einmal das Luxemburg auf dem Balkan», sagt er.

Selfies aus den USA

Seitdem der Kosovo 2008 seine Unabhängigkeit von Serbien erklärt hatte, war die Innenpolitik von drei wiederkehrenden Phänomenen geprägt – vorgezogenen Neuwahlen, parlamentarischen Misstrauensvoten sowie Urteilen des Verfassungsgerichtshofs. Blickt man in die Nachbarländer, dann ist das nicht zwingend eine schlechte Nachricht.

In Albanien waren Gerichte über Monate nicht funktionsfähig, weil korrupte Richterinnen und Staatsanwälte ihre Posten räumen mussten. In Serbien können sich oppositionelle Parteien und Medien immer weniger Gehör verschaffen. Im Kosovo hingegen werden die Karten alle Jahre neu gemischt. Doch was im Ausland als positive Entwicklung und Resilienz der Institutionen gesehen wird, macht die Bevölkerung zunehmend politikverdrossen. In dreizehn Jahren wurden fünf Wahlen abgehalten. «Was die Leute jetzt wollen, ist Stabilität», sagt Krasniqi.

Zuletzt regierte mit hauchdünner Mehrheit Avdullah Hoti von der Demokratischen Liga (LDK). Als Hoti, der unscheinbare Ökonom mit eckiger Brille, im September von Donald Trump ins Weisse Haus eingeladen wurde, postete er Selfies aus den USA – seit den Nato-Bombardements 1999 der wichtigste Alliierte seines Landes. In Pristinas Politbetrieb gilt das Credo: Eine Regierung, die sich mit Washington anlegt, steht nicht lange.

So erging es im März 2020 Albin Kurti, Kopf der linksnationalistischen, 2004 als Bewegung gegründeten Vetevendosje (Selbstbestimmung), die mittlerweile die stärkste Kraft im Kosovo ist. Kurti war sieben Wochen im Amt, als er per Misstrauensvotum im Parlament gestürzt wurde. «In der Bevölkerung hat das viele irritiert», sagt Krasniqi, «insbesondere nachdem die USA Druck ausgeübt haben, weil Kurti sich weigerte, Strafzölle gegen Serbien aufzuheben.» Mittlerweile prognostizieren Umfragen Kurti eine absolute Mehrheit. Seine grösste Konkurrentin, die Juristin Vjosa Osmani (LDK), ist zu seiner Partei übergelaufen. Europäische SozialdemokratInnen und Grüne suchen den Dialog. Im Dezember der nächste Etappensieg – das Verfassungsgericht erklärte die Regierung Hoti für illegitim, weil einer der abstimmenden Abgeordneten wegen Betrug verurteilt worden war.

Doch dann entschied die Wahlkommission Ende Januar, dass auch Kurti nicht als Kandidat antreten darf, weil er 2018 wegen seiner Tränengasaktionen im Parlament zu einer Bewährungsstrafe verurteilt worden war. Der Clou: Seine eigene Partei hatte das Urteil mit einer Klage angestossen und recht bekommen – niemand, der in den letzten drei Jahren rechtskräftig verurteilt wurde, darf im Parlament sitzen. Doch die Klage hat sich als Bumerang erwiesen, der auf jenen zurücksaust, der ihn geworfen hat: Kurtis Name wird am 14. Februar nicht auf dem Wahlzettel stehen. Bei einem Wahlsieg kann ihn seine Partei aber dennoch zum Premierminister wählen.

Verlorene Umschläge

In der Diaspora hat das zu einer «Jetzt erst recht!»-Mentalität geführt. Über 102 000 WählerInnen sind zur Wahl zugelassen. «Das sind ein Viertel aller eigentlich Wahlberechtigten im Ausland und mehr als doppelt so viele wie 2019», sagt Liza Gashi, die ehemalige Vizeministerin für Auswärtiges und Diaspora. Bei den letzten Wahlen hätten Stimmen aus der Diaspora Kurti zum Sieg verholfen, und alles deute darauf hin, dass es diesmal wieder so sein werde. Die Dreissigjährige forscht seit über zehn Jahren zur Diaspora ihres Heimatlandes, geschätzt eine Million Menschen, die auf der ganzen Welt verstreut leben und eng miteinander verbunden sind. «Globale AlbanerInnen», nennt Gashi sie.

Wählen darf, wer die kosovarische Staatsbürgerschaft besitzt oder Eltern hat, die im Kosovo geboren wurden. Dafür muss man sich innerhalb eines gewissen Zeitfensters registrieren und Dokumente per E-Mail einschicken. Die Wahlkommission hat ein eigenes Callcenter eingerichtet, um die Anträge zu überprüfen. Das klappt nicht immer. «Meine Frau hat ihre Unterlagen eingeschickt und nie eine Antwort bekommen», sagt Arton Dema.

Hinzu kommen die hohen Kosten: «Der Durchschnittswähler im Ausland bezahlt 50 Euro für sein Couvert», sagt Liza Gashi, «die Wahl kostet die Diaspora rund 6 Millionen Euro.» Sie setzt sich für eine Lösung ein: «Wir sollten über Botschaften oder Konsulate wählen oder die Umschläge gebündelt per diplomatischer Post schicken.» In der Vergangenheit seien Tausende Umschläge verloren gegangen, weil sie zu spät abgestempelt wurden. Fellanza Podrimja, Kurtis Beraterin, rechnet damit, dass nur die Hälfte der Diasporastimmen als gültig gezählt werden oder aufgrund des kurzen Zeitfensters rechtzeitig ankommen: «Die Wahlkommission ist hyperpenibel, wenn es um Auslandsstimmen geht.»

Der 23-jährige Eleonit Smajli drückt das weniger diplomatisch aus: «Unser Wahlrecht wird mit Füssen getreten.» Vergangene Woche protestierte er dagegen mit anderen albanischen Studierenden vor dem Uno-Sitz in Genf. Smajli studiert Agrarwissenschaften und gehört zur zweiten Generation. Er ist in der Schweiz aufgewachsen, aber jeden Sommer in das Heimatland seiner Eltern gereist. Im Gymnasium wächst sein Interesse an dem Land, 2019 absolviert er ein Praktikum bei Vetevendosje – als Neuwahlen ausgerufen werden, bleibt er, um die Diasporakampagne mitzuorganisieren.

Jetzt, wo Kurti als Premier zurückkehren könnte, hat Smajli «Du me votu» (Ich will wählen!) ins Leben gerufen. Die Plattform hilft, sich im Bürokratiedschungel der Briefwahl zurechtzufinden. Smajli geht es weniger um den Sieg Kurtis als um demokratische Teilhabe: «Wir wollen nicht einfach Villen im Kosovo bauen, in denen nur drei Wochen im Jahr jemand lebt. Wir wollen nachhaltig in dieses Land investieren.»