Auf allen Kanälen: Durchgekaut und ausgespuckt

Nr. 7 –

Vor knapp fünf Jahrzehnten hat Heinrich Böll die brutale Macht der Boulevardpresse angeklagt. Dass wir heute noch schlimmer dran sind, zeigt der Suizid einer 25-Jährigen.

Gut möglich, dass Ihnen der Name Kasia Lenhardt nichts sagt. Bekannt wurde sie 2012 als Kandidatin von Heidi Klums Laufstegwettbewerb «Germany’s Next Topmodel» (GNTM), da war sie gerade sechzehn. Sie beendete die Show des Privatsenders Pro 7 als Viertplatzierte.

Darauf teilte Lenhardt ihr Leben als Influencerin und Teilnehmerin von halbseidenen TV-Formaten – und die vergangenen fünfzehn Monate als Freundin des FC-Bayern-Stars Jérôme Boateng. Anfang Februar gab dieser die Trennung bekannt, am 9. Februar fand man ihren leblosen Körper. Die Polizei schliesst Fremdverschulden aus, ein Suizid der 25-Jährigen ist wahrscheinlich. Immer wieder hat sie sich die letzten Jahre über Shitstorms beklagt – gleichzeitig hat sie das Monster, das Häme über sie goss, immer weiter gefüttert.

In der Promihölle

Doch wer nun routiniert den Cybermob anprangert, übersieht, dass traditionelle Medien weiterhin oft die tragende Rolle in diesen Boulevardtragödien spielen. So sind auch im Fall von Lenhardt das Fernsehen und die «Bild»-Zeitung federführend bei ihrem Aufstieg und tödlichen Ende.

Alles begann mit GNTM. Aus dem Nichts stolpern die Teilnehmerinnen da vor die Fernsehkameras, wo man sie – wie in jeder Reality-Show – bis zur Unkenntlichkeit scriptet, framet, vorführt. Und, für den weiteren Verlauf der Geschichte nicht unwesentlich: Zeremonienmeisterin Klum macht die «Mädchen», wie sie die jungen Frauen konsequent nennt, auch ganz persönlich fertig. Du bist zu dick, zu frech, zu faul, zu ungeschickt, heisst es bei der Manöverkritik regelmässig. Statt wie erhofft auf die internationalen Laufstege der Modewelt spediert GNTM die Frauen auf den Internetboulevard 4.0 und in die zahlreichen Klatschformate des deutschen Privatfernsehens, wo sie noch jahrelang durchgekaut und wieder ausgespuckt werden. Eine Art multimediale Fliessbandproduktion von zu Schlagzeilenfutter verramschtem Leben, vor dem niemand Respekt zeigt.

Angestachelt werden die jungen Frauen vom Wunsch nach Ruhm, einer Modelkarriere, einem Leben als Reiche und Schöne – ein Wunsch, den die PR-Feuerwalze der Sendung gezielt schürt. Dabei müsste bereits ein kurzer Blick auf das Schicksal ehemaliger Teilnehmerinnen der Show jedeN eines Besseren belehren. Absolventinnen von GNTM enden zumeist auf der untersten Stufe der Promihölle: als Spottopfer im Dschungelcamp, als Instagram-Sternchen oder «Freundin von» in der Klatschpresse. So auch Kasia Lenhardt. «Trennung von Klum-Model: Boateng rechnet mit seiner Ex ab». Und: «Jetzt wirds schmutzig: Die privaten Nachrichten von Kasia», titelte die «Bild»-Zeitung Anfang Februar.

Geplante Gedenkminute

Nach Lenhardts Tod verglich die Sachbuchautorin Veronika Kracher («Incels») den Fall auf Twitter mit Heinrich Bölls Novelle «Die verlorene Ehre der Katharina Blum»: «Über 40 Jahre das gleiche widerwärtige frauenverachtende voyeuristische autoritäre Geschäftsmodell.» Bölls Lehrstück von 1974 endet allerdings nicht im Selbstmord seiner braven Protagonistin, die von «der ZEITUNG» als verruchte «Gangsterbraut» vorgeführt worden ist, sondern in der Ermordung des verantwortlichen Journalisten durch das Hetze-Opfer Blum. Und Böll konnte auch nicht ahnen, was Sendungen wie GNTM, der digitale Boulevard und die sogenannten Social Media mit den Katharina Blums von heute anstellen würden. «Starb sie am Geburtstag ihres Sohnes?», titelte etwa das Schweizer Onlineportal nau.ch in typisch verlogener «Bild»-Manier.

Über Instagram, Facebook und Co. können Hasserfüllte ihre Opfer zudem so direkt und öffentlich einsehbar attackieren, wie das früher nicht denkbar gewesen wäre. Die «Abschussgenehmigung» bezieht der digitale Mob aber bis heute von Zeitungen wie der «Bild». Und Heidi Klum? Vor der aktuell laufenden 16. Staffel GNTM liess sie eine Texttafel einblenden: «Wir sind traurig, sehr traurig und sind mit unseren Gedanken bei deiner Familie, deinen Freunden und bei dir, liebe Kasia Lenhardt».

Auf die geplante Gedenkminute in der Sendung, um eine letzte quotenträchtige Träne aus dem Tod des «Mädchens» zu pressen, hatte man nach Intervention der Familie verzichtet.