Am Ende bist du doch allein: Anarchie und Wildheit im Cyberspace

Nr. 13 –

Da steht Marc Walder.

Aufrecht. Wie immer. Leute wie er sind Steher.

Liegen ist ihnen suspekt, weil – zu weit unten. Daher kommen sie.

Vom Leistungssport. Alle.

Nun steht er da, die CEO-gewordene Verheissung des Kapitalismus: Jeder, der ein weisser Mann aus normalen Schweizer Kleinbürgerverhältnissen und gesund ist, kann es aus eigner Kraft schaffen. Wenn er sich anstrengt. Wenn er Sport macht, statt Joints zu rauchen.

(Notieren: Wenn ich ein Kind kennenlerne, immer zum Gammeln und Lesen raten.)

Marc Walder hat sich durch das Ghetto der Ringier-Journalistenschule über Yellow-Press-Homestorys bis hin zum seriösen, unerschrockenen Tagesjournalismus gearbeitet. Er war an vorderster Front in den gefährlichsten Gebieten der Schweiz (Bern Belp, Visp), der Rest ist Geschichte: Buddy mit dem Konzerninhaber, zehn Prozent Aktienkapital, CEO! So selten und schön, dass ein weisser Mann einen anderen weissen Mann protegiert. «Was ich fühle, ist eher Druck als Macht …», sagt das Opfer seiner Visionen, und man wollte ihm kurz wünschen, dass er nun, in der hoffentlich zweiten Hälfte seines Lebens, geniessen kann, was er sich hart erarbeitet hat. Macht, Einfluss, Kreativität, Geld, keine Sorge um die Pension. Herr Walder könnte mit sich zufrieden sein. Sich überlegen, wie man die Medien verbessern könnte – grossartige Recherchen könnte er fördern oder eine Kulturzeitschrift; aber – der Motor einer Führerperson ist leider das Streben nach:

Mehr.

Mehr von allem. So geht Fortschritt!

Fortschritt, da fällt allen, denen nichts einfällt heute: Digitalisierung ein. Au ja, Digitalisieren, egal was, Hauptsache, Code!

Und da steht Marc Walder wieder. Naheliegend, dass Herr Walder auf den Geschmack kam. Ein neues Feld. Die ganze Schweiz ein «Cyber Hub». Ringier-KonsumentInnen wurden von Menschen zu Daten.

Dumpfe Masse, nur gut für die (Achtung) Datenautobahn, auf der Herr Walder in den Olymp brettern will. Daten sind das neue Bitcoin – okay, jetzt verliere ich mich in einer Metaphernfülle fast wie Herr Marc Walder in dem Bukett seiner Aufgaben – als Präsident in den Verwaltungsräten von Scout24 Schweiz AG, der Admeira AG, der Ringier Africa AG oder dem MSF Moon and Stars Festival SA, als Vizepräsident der Ticketcorner AG oder der Swiss Media Forum AG und als Verwaltungsratsmitglied der Job Cloud AG und Sportradar AG. Im Ringier-Verwaltungsrat sitzt ein UBS-Banker, der COO von Ringier sitzt wiederum bei Axel Springer im Rat.

Warum jetzt die? Springer, der grosse Bruder, mit fetteren Zahlen, mit dem reicheren Mathias Döpfner, mit viel weniger Moral – da sass Alex Karp, der Palantir-Mitgründer, im Verwaltungsrat. Bei Ringier langte es nur für Palantir-Managerin Laura Rudas. (Palantir, wir erinnern uns, CIA-getriebene, grösste Datenabgreiferin der Welt?)

Nachdem Walders Liebling, die E-ID, an der Urne versenkt wurde, hat er schon den nächsten Gag parat: «OneLog» – ein gemeinsames Login für alle Newsplattformen. Prost!

Warum Männer wie Kai Diekmann, ein anderer grosser Macher der Medienwelt, und Herr Walder nach all den wunderbaren Erfolgen plötzlich die Zaubermaus Digitalisierung entdecken, kann mit dem Schock des Erkennens ihrer Sterblichkeit zusammenhängen. Das zwingende Ende, das immer ein wenig mit der Lächerlichkeit einhergeht. Alles eingerichtet, sieht aus wie bei allen Reichen, der Thrill is gone, dieses Leben ist ja immer nur – ein Leben, nicht wahr, und bald vorbei, und das soll jetzt alles gewesen sein, mit den kleinen Gefühlen und den kalten Füssen im Winter? In der verzweifelten Suche nach Revolution entdecken viele Marcs und Kais den Cyberspace. Der Ort, der Fortschritt und Jugend, Anarchie und Wildheit atmet. Vielleicht wollte Herr Walder einfach Teil dieser geilen Jugendbewegung sein und die Schweiz digital nach vorne bringen, oder er sucht die Nähe der grossen Player, die er nun in der World-Minds-Stiftung findet, wo er mit Denkern wie Henry Kissinger und Gerhard Schröder zusammensitzt und irgendwas redet. Vielleicht über Daten. Oder über die Trauer. Sich wegen sportbedingter Serotoninausschüttungsabhängigkeit im Leben nur zu spüren, wenn man die Welt verändern will, ist ein hartes Schicksal. Funktioniert aber, wenn schon, auch, wenn man sie zu einem besseren anstatt zu einem Scheissort machen möchte.

Sibylle Berg lebte in Ostdeutschland, Rumänien und Tel Aviv und wohnt seit langem in der Schweiz. Sie brach wie alle Start-up-EntwicklerInnen ihr Studium ab (Ozeanografie) und entwickelte keine Plattform, sondern schreibt Bücher und Theaterstücke.