Wildnis in der Schweiz: Wo Bäume durch Dächer wachsen

Nr. 28 –

Im abgeschiedenen Calancatal entsteht der kleinste Naturpark der Schweiz. Wildnis und Wirtschaftsförderung sollen hier unter einen Hut gebracht werden. Kann dieser Spagat gelingen? Und was sagt die Bevölkerung?

  • In der Praxis bedeutet Wildnis fast immer einen Siegeszug des Waldes: Noch intakte Maiensässe oberhalb von Rossa. Ganz unten: eine freigelegte Trockenmauernterrassierung.
  • «Werden auch in Zukunft Menschen bereit sein, in diesem steilen Gelände zu arbeiten?»: Aurelia Berta vom Agrotourismusbetrieb in Braggio.
  • «Die Idee einer völligen Wildnis hier oben ist blauäugig, ein völliger Witz»: Magnus Furrer mit Geissen auf der Alp Piöv di Fuori.
  • «Für mich ist der Park eine Art Hilfe zur Selbsthilfe für das Tal»: Mario Theus, Jäger und Filmemacher aus Braggio.
  • Freigelegte Terrassierungen bei Scata/Calvari. Im Hintergrund ist eine der angestrichenen Kapellen oberhalb von Rossa zu sehen.
  • «Der Park soll wild bleiben, aber auch Geld ins Tal bringen»: Henrik Bang, Forstingenieur und Geschäftsführer des Parco Val Calanca.

Der Weg ins Herz des Calancatals ist beschwerlich. Weit unten rauscht die Calancasca, oben windet sich der Pfad Meter für Meter in die Höhe. Es ist stotzig, es ist abschüssig, es ist heiss. Ich gehe vorbei an zerfallenen Maiensässen und überwucherten Trockenmauern. Ein Kuckuck ruft in den Wald, ein Schwalbenschwanz flattert von Blüte zu Blüte. Unzählige Bächlein gurgeln und sprudeln.

Und überall dieser Wald. Beim Dorf Rossa auf 1100 Metern über Meer dominieren junge Birken. Zwischen den Stämmen blühen Orchideen und Lilien. Weiter oben stehen Fichten, dicht an dicht; der Boden ist mit Nadeln übersät. Meine Schritte sind so weich wie auf der Finnenbahn. Eine Wanderstunde später endlich eine kleine Alpweide mit zwei Steinhütten. Am Hang stürzt ein Wasserfall in die Tiefe. Das freundliche Grün der Lärchen ist die Farbe des alpinen Frühsommers. Dann geht es von der Alp de Calvaresc Sott noch einmal 400 steile Höhenmeter über Bäche, Steine und Wurzeln.

Und schon stehe ich am Lagh de Calvaresc, dem «Herzlisee», wie sie ihn wegen seiner Form hier nennen. Ein perfektes Sujet fürs Fotoalbum und die sozialen Medien. Willkommenes Logo für den Parco Val Calanca, der hier in den nächsten Jahren entstehen soll: klein, aber «mit grossem Herzen». Eine Mischung aus Wildnis und Tourismus, Wirtschaftsmotor und Abgeschiedenheit. Kann dieser Spagat gelingen?


Am 27. November 2016 war die Enttäuschung im Calancatal gross. An jenem Sonntag wurde der Parc Adula an der Urne versenkt. Anders als die Bevölkerung in Vals, Vrin, Sedrun, Disentis oder Sumvitg hatten sich die Menschen hier zuvor für den zweiten Nationalpark der Schweiz ausgesprochen, obwohl mehrere Kernzonen im Calancatal gelegen wären. Der Parc Adula hätte neuen Schwung bringen sollen – in dieses Tal, das seit Jahrhunderten von Abwanderung geplagt ist.

Etwa 3000 Menschen lebten 1733 noch hier. Zwischen Misox und Bleniotal eingeklemmt, war das Seitental schon immer ein Nebenschauplatz. Die steilen Hänge erschwerten den Ackerbau. Mit Terrassierungen wurde dem Tal etwas Platz für Roggen, Weizen und Kartoffeln abgerungen. Ansonsten gab die Vieh- und Alpwirtschaft den Ton an. Die Geissen fanden auch im felsigen Gelände Tritt und grasten die Wiesen ab, hielten den Wald in Schach. Seit hundert Jahren ist der Steinbruch in Arvigo mit 35 MitarbeiterInnen das grösste Unternehmen im Tal. Jedes Jahr werden hier 20 000 Kubikmeter des berühmten Calanca-Gneises aus dem Fels gesprengt, gespaltet, zersägt und von hier aus in die ganze Welt geliefert. Heute sind noch 800 Menschen im Calancatal zu Hause. Das Postauto fährt sechsmal täglich bis nach Rossa. Es gibt zwei kleine Postfilialen, einen Konsum in Selma, drei Hotels, keine Tankstelle, keine Käserei.

Nun will der Parco Val Calanca in die grossen Fussstapfen des Parc Adula treten. Mit 120 Quadratkilometern wäre er der kleinste Naturpark der Schweiz und der einzige im italienischsprachigen Teil. Gerade mal 430 Menschen leben im Perimeter, die restlichen wohnen in Castaneda und Santa Maria am Talausgang. In einer Erstabstimmung sprachen sich 97 Prozent für das Projekt aus. Jetzt hat der Park vier Jahre Zeit, eine Charta auszuarbeiten, Projekte aufzugleisen und die Bevölkerung definitiv auf seine Seite zu bringen. Dann wird nochmals abgestimmt.


Henrik Bang nennen hier alle Bingo. Der frisch gewählte SP-Stadtrat von Bellinzona und Forstingenieur leitet die Geschäftsstelle des Parks. Der 49-Jährige wünscht sich eine Zukunft für dieses Tal und die Menschen, die darin leben und arbeiten. Doch er will keinen Massentourismus wie im Verzascatal, wo TouristInnen in Scharen kommen, um an der berühmten Brücke in Lavertezzo ein paar Bilder zu machen und sich auf den glatt geschliffenen Steinen zu sonnen.

«Das Parkgebiet hat gewisse Eigenschaften, die nicht zerstört werden sollen», erklärt Bang. Es erstreckt sich von der Calancasca auf 500 Metern bis zum Puntone dei Fraciòn auf 3202 Metern über Meer. Es vereint Alpweiden, schroffe Berge, endlose Wälder und einen wilden Fluss, der sich seit Jahrtausenden durch den Gneis fräst. «Wir wollen Leute anziehen, die das schätzen, was es bereits gibt. Die Einsamkeit, die Langsamkeit, die Wälder, die Wildnis, die Kultur.» Der Park soll wild bleiben, aber auch Geld ins Tal bringen. Das Budget beträgt 630 000 Franken pro Jahr, 85 Prozent davon kommen vom Bund und vom Kanton Graubünden. Schafft es der Park in vier Jahren in die Betriebsphase, würde das Budget auf über eine Million erhöht; die Gemeinden müssten gar nur noch zehn Prozent stemmen.

Eigentlich eine einfache Rechnung. «Jeder Franken, der in den Park investiert wird, bringt zusätzlich drei, vier, fünf Franken ins Tal», rechnet Bang vor. «Zu unseren Aufgaben gehört deshalb auch die Vernetzung der Akteure.» Die Angebote, die es bereits gäbe, müssten besser sichtbar werden. Dabei könnte auch ein Label helfen, denn der Parco Val Calanca komme auch «dem wachsenden Bedürfnis nach naturnahen Produkten und dem Wunsch nach Ferien im Einklang mit Natur und Kultur entgegen».

Einschränkungen sind keine geplant. Nur in einem kleinen Naturwaldreservat soll sich die Natur frei entfalten – auf einer Fläche von tausend Fussballfeldern, zwischen den verlassenen Alpen Bedoleta und Largè, wo bereits heute kein Weg mehr hinführt. Ohnehin werden nur zwei Prozent der Parkfläche landwirtschaftlich genutzt. Auf mehr als der Hälfte steht Wald, dreissig Prozent sind vegetationsloser Fels und Stein.

Kein Wunder, will der Park auch mit seiner «Wildnis» und «Abgeschiedenheit» punkten. Dabei soll der «ursprüngliche, naturnahe Charakter» des Tals erhalten und «in Wert gesetzt» werden – unter anderem mit der Förderung eines «natur- und kulturnahen Tourismus». Als regionaler Naturpark hätte er auch die Aufgabe, traditionelle Kulturlandschaften zu bewahren. Davon gibt es im Calancatal jede Menge: Kastanienhaine, Alpweiden, Trockenwiesen und Terrassierungen, sagenumwobene Kapellen. Eine menschenleere Wildnis wie im Nationalpark soll hier also nicht entstehen. «Die Wildnis im Calancatal ist keine kanadische Wildnis», sagt Bang. «Der Park ist ein Ort, an dem Menschen leben und arbeiten.»


Eine davon ist Lucia Rigonalli. Mit ihrem Partner Nathan und ihrer Mutter Dorothea führt sie in Cauco einen kleinen Biohof mit Mutterkühen, Geissen, Hühnern, Schweinen und Katzen. Auf der anderen Talseite ragt eine zweihundert Meter hohe Felswand in die Höhe. Die Sonne geht auch am längsten Tag erst um neun auf und verschwindet abends um sieben hinter den Baumspitzen. Im Sommer arbeitet Rigonalli zusätzlich in einer Bottega, wo sie lokale Produkte an BesucherInnen verkauft.

«Ich habe zwiespältige Gefühle», erklärt sie. «Natürlich ist es für den Tourismus gut. Aber für uns Bauern bringt es auch Probleme.» Früher sei das Calancatal unbekannt gewesen; sie konnte die Einsamkeit geniessen. «Jetzt kommen manche einfach her, um es von der Agenda abzuhaken.» Gerade im letzten Sommer machten sich viele Menschen auf den Weg zum Lagh de Calvaresc, um ein Foto zu machen. «Dort muss man jetzt hochgehen, nur um sagen zu können, dass man oben war», kritisiert sie. «Aber dann gehen sie am Abend wieder nach Hause und bringen dem Tal nichts.»

Tatsächlich treffe ich auf meinem Weg zum See nur zwei Frauen. Beide sind am Morgen mehrere Stunden mit dem Auto angereist, um sich den See anzuschauen. Am Abend wollen sie wieder zu Hause sein. Ist das der «sanfte Tourismus», den man sich hier erhofft? Wie viele Menschen jedes Jahr im Tal übernachten, weiss niemand genau. Eine Kurtaxe wurde erst vor kurzem eingeführt.

«Ich hoffe, dass dank des Parks Menschen kommen, die sich wirklich für das Tal interessieren, lokal einkaufen und uns unterstützen», sagt Rigonalli. «Und ich wünsche mir, dass der Park kleine Projekte fördert, die dem Tal verbunden bleiben.» Nicht nur von ihr höre ich immer wieder das Motto des Parks: «klein, aber fein». Der Park soll den Charakter des Tals nicht verzerren. Alles soll beim Alten bleiben – einfach ein bisschen lukrativer und attraktiver.

Mit Wildnis kann Lucia Rigonalli nicht viel anfangen. Sie sieht vor allem die Vergandung der Alpwiesen, weil immer weniger Bauern und Älplerinnen hier wirtschaften. «Das tut weh. Wenn ich die zerfallenen Hütten und Mauern im Wald sehe, denke ich daran, was die Menschen hier früher alles geleistet haben.» Heute sei vieles überwuchert und zerstört. Und der Wald drücke enorm. «Früher gab es in Rossa 700 Geissen. Da hast du keinen Baum gesehen.»


Wildnis? Was ist damit überhaupt gemeint? Einige denken an Abgeschiedenheit und Einsamkeit. Für andere sind damit wilde Bäche und schroffe Berge ästhetisch konnotiert. Und wieder andere machen Wildnis an der Abwesenheit menschlicher Einflüsse fest. In der Praxis bedeutet Wildnis hierzulande fast immer einen Siegeszug des Waldes. Die landwirtschaftliche Nutzung geht zurück, die Extensivierung nimmt zu – insbesondere in den Südtälern der Alpen. Als Erstes werden die schwierig zu bewirtschaftenden Flächen aufgegeben: Steilhänge und jene, die wenig Ertrag liefern. Auch im Calancatal ist die Zukunft vieler Betriebe unsicher.

Dann zieht sich die Schlinge des Waldes enger. Zwischen 1983 und 2004 nahm die Waldfläche in der Schweiz um rund 100 000 Hektaren zu. Neunzig Prozent der Zunahme fand in den Alpen und auf der Alpensüdseite statt. Historische Luftaufnahmen verdeutlichen diesen Effekt im Calancatal. Einige Maiensässe sind von Wald umzingelt, andere sind gleich ganz unter den Baumkronen verschwunden. Junge Erlen und Birken machen sich breit und wachsen durch die Steindächer der Ruinen. Sieht so die ersehnte Wildnis aus?

Für die einen ist Wildnis eine Gefahr für den Erhalt von Kulturland und alpinen Gemeinschaften; andere wittern eine Chance, um der Natur wieder mehr Raum zu geben. Weil unsere Umwelt überall vom Menschen geprägt sei, brauche es mehr Wildnis, wo sich der Mensch aus der Gleichung entferne. In einer Studie von 2019 kam Mountain Wilderness Schweiz zum Schluss, dass vor allem in den Südtälern der Alpen noch grosse Gebiete mit hohem Wildnispotenzial sind – auch im Calancatal. Solche Gebiete gelte es vor dem um sich greifenden menschlichen Einfluss zu schützen: neue Strassen und Wege, Lichtverschmutzung, Windturbinen, Wasserkraftwerke, zugängliche Berghütten, Hängebrücken und Klettersteige. All das macht der Wildnis zu schaffen. Für Mountain Wilderness Schweiz ist der Mensch natürlich ein Teil der Natur, der Wildnisgebiete auch erleben dürfe. Aber der Mensch sei dort zu Gast, resümiert die Studie: «Der Zugang wird durch eine minimale Infrastruktur an Wegen und ohne technischen Ausbau geregelt.»


Von Cauco führt mein Weg zur Alp Piöv di Fuori. Kaum aus dem Dorf, stosse ich auf alte Trockenmauern und Ruinen. Ein paar Geissen springen aus dem Weg, ihnen ist es auf der Alp noch zu kalt. Bald bin ich in der Maiensäss-Siedlung Cavaionc – eine kleine Lichtung von 200 Metern Breite und 100 Metern Länge, umgeben von Fichten und Lärchen. Das Gras ist hüfthoch, die Sonne scheint freundlich. Am Himmel kreist ein Steinadler und am schneebedeckten Cima de Nomnom hängen die letzten Wolkenfetzen.

Nach einer steilen Stunde erreiche ich eine weitere Lichtung, wo der eiskalte Rià del Böc unter einer Holzbrücke durchsprudelt. Er entspringt hoch oben unter dem Piz di Campedell, rauscht über dessen schimmernde Gneisplatten und mäandert dann durch kleine Auen, bevor er sich ins Tal stürzt. An jeder zweiten Lärche wachsen Ameisenhaufen empor. Ich könnte jauchzen, so einsam, ruhig und märchenhaft ist es hier.

Und dann sitze ich schon mit Magnus Furrer am Holztisch. Seit dreissig Jahren kommt der 54-jährige Zimmermann aus dem Bernischen immer wieder hierher «z Alp». «Nach so vielen Jahren Alpwirtschaft im Calancatal entwickelt man eine Affinität und eine Liebe zu diesem Tal», erklärt er. Im Hintergrund bimmeln seine Geissen, zwei Hühner picken im Gras, drei Alpenschweine liegen im Schatten. «Ich habe mein Herz an dieses spezielle, wilde Tal verloren. Es ist für mich eine zweite Heimat.»

Im Park sieht Furrer eine Chance für die hier lebenden Menschen, eine gemeinsame Identität zu finden. «Ich hoffe, dass die Leute gemeinsam Freude an ihrem Tal haben und dass sie durch den Park diese Freude nach aussen tragen können», sagt er. «Frei nach dem Motto: Das ist unser Tal. Hier wollen wir gemeinsam etwas aufbauen und zusammenleben.»

Natürlich sieht er auch in der Wildnis und im Tourismus Potenzial. «Aber die Idee einer völligen Wildnis hier oben ist blauäugig, ein völliger Witz. Es kann nicht sein, dass man hier alles einfach verwildern lässt.» Natürlich gebe es im Calancatal Wildnis. Orte, wo ausser ihm und ein paar Jägern niemand mehr durchkomme. Aber mehr Wildnis bedeute mehr Wald – und das wiederum einen Verlust an Biodiversität. Und für eine nachhaltige Ernährung sei auch die Alpwirtschaft unverzichtbar. «Die Menschen hier wollen keinen Nationalpark, in dem man nichts mehr machen darf», sagt Furrer. «Aber die Vision, eine gewisse Form der Wildnis zu postulieren und zu erhalten, ist an diesem Ort fraglos eine gute Wahl.»

Der Weg von der Alp Piöv di Fuori zur Alp Naucal ist zwar markiert, aber trotzdem manchmal kaum zu finden. Ich steige unter den schroffen Felswänden des Torrone Alto hindurch zur verlassenen Alp Piöv di Dent – zwei Ruinen inmitten einer Geröllhalde. Unter dem Camin de Biancalan wachsen Erlen zwischen den Lawinenverbauungen. Kaum bin ich durchs enge Felsfenster durchgekrochen, öffnet sich der Blick auf die hintere Talseite mit dem Zapporthorn – der Abschluss des Tals und des Parks. Der Wald kriecht hier förmlich die Hänge empor. Auch die Klimaerhitzung leistet ihren Beitrag. Als ich wieder einmal den Weg verliere, stapfe ich durch ganze Felder von Alpenrosen – für die 300 Geissen der Alp Naucal gäbe es einiges zu tun.


Am nächsten Tag bin ich in Braggio verabredet. Das Dorf auf 1300 Metern über Meer liegt an einem sanften Hang auf der gegenüberliegenden Talseite – einzig erreichbar durch eine vollautomatische Seilbahn aus dem Jahr 1961. Seit vierzig Jahren lebt auch die Zürcherin Agnese Berta im Dorf – eine von vielen DeutschschweizerInnen, die es ins Calancatal verschlagen hat. Gemeinsam mit ihrem Mann Luciano hat sie einen agrotouristischen Betrieb aufgebaut – einen kleinen Biohof mit sechs Milchkühen und zwanzig Schafen, dazu vier Ferienhäuser und einen Seminarraum. Mittlerweile hat die 34-jährige Tochter Aurelia den Betrieb übernommen. Auf dem Schoss sitzt mit der vierjährigen Mia bereits die nächste Generation.

«Der Park ist für das Tal ein Hoffnungsträger», sagt Agnese Berta. «Aber ich habe auch Angst, dass die Bevölkerung ihre Eigenverantwortung jetzt delegiert.» Ein guter Park funktioniere nur, wenn die Bevölkerung Verantwortung übernehme und Eigeninitiative mitbringe. «Es braucht eine gewisse Risikobereitschaft und neue Ideen.»

Berta ist noch skeptisch. «Ich spüre noch nicht genau, in welche Richtung es gehen soll», sagt sie. Sie wünscht sich mehr Kommunikation über Umsetzung und langfristige Ziele der Projekte und vermisst die Wertschätzung für die Arbeit der BäuerInnen: «Sobald wir die Wiesen nicht mehr mähen und bewirtschaften, steht der Wald vor der Haustür. Dann gibt es hier keine Orchideen mehr, keine Schmetterlinge.» Sie frage sich, ob gewisse Projekte zu einem Freiluftmuseum werden, wie etwa die Maiensässsiedlung Carnalta oder die historische Terrassierung Scatta oberhalb von Rossa. Wo früher Wald und Büsche standen, wurde gerodet, und die alten Trockenmauern wurden repariert. Für den Förster Orio Guscetti ist der Ort ein «kostbares Zeugnis traditioneller regionaler Bauernkultur». Und ohne den Park wäre es nicht möglich gewesen, dieses wieder freizulegen.

«Solche Projekte brauchen eine langfristige Perspektive», meint Aurelia Berta. Finde sich niemand, der sie bewirtschafte, ergebe das Ganze wenig Sinn: «Wird es auch in Zukunft Menschen geben, die bereit sind, in diesem steilen Gelände zu arbeiten? Es wäre schön, wenn die Hilfe des Zivildiensts den Weg für die Ansiedlung junger Bauernfamilien bereiten könnte.»

Ein paar Häuser weiter vom modernen Mehrzweckraum und dem fein säuberlich geordneten Schaugarten der Familie Berta liegt Braggios einziges Restaurant. Ich treffe hier den Filmemacher und Jäger Mario Theus. Der 42-Jährige ist im Val Müstair aufgewachsen und bezeichnet sich als «eine Art Aussteiger». Die Mutter führt das Restaurant, der Vater ist Gemeindepräsident von Calanca. Theus schätzt die radikale Wildnis und steht doch voll und ganz hinter dem Park: «Er bringt nur Vorteile. Die Idee ist ja, dass die Menschen im Park so denken und wirtschaften, dass sie sich gegenseitig unterstützen und fördern.» Er beschreibt Kreisläufe, die durch den Park möglich würden: das Restaurant, das bewusst mit lokalen Lebensmitteln kocht. Geführte Blumenwanderungen mit anschliessendem Alpbesuch. Ein Selbstbedienungskiosk mit Alpkäse und Kunsthandwerk. Ein Gewinn für alle Seiten. «Für mich ist der Park eine Art Hilfe zur Selbsthilfe für das Tal», meint Theus. «Er könnte dabei helfen, als Einheit wieder stärker zu werden. Aber das muss aus der Bevölkerung kommen. Die Leute müssen ihre Ideen und ihr Engagement mitbringen.» Das ginge nicht sofort in alle Köpfe. «Manche denken, dass sie beim Park klingeln können und ein Couvert mit Geld kriegen.»

Und was ist jetzt mit der Wildnis im Park? Theus wird nachdenklich. «Ich kann mit dem Gedanken, dass kein Mensch mehr in diesem Tal lebt und nur noch die Natur regiert, auch gut leben.» Aber Wildnis als nie von Menschen beeinflusste Umwelt gebe es hier ohnehin nicht – man finde sie im ganz alltäglichen Sinn. «Hier herrschen die Hirsche, die Gämsen, die Steinböcke. Der Mensch ist ein Nebendarsteller», glaubt Theus. Die Fläche, die der Mensch hier wirklich kontrollieren könne, sei sehr klein. Er sei so sehr damit beschäftigt, die von ihm geschaffenen Freiflächen zu verteidigen. «An vielen Orten, wo vor hundert Jahren noch Kulturland war, dominiert heute die Natur. Sie entfaltet sich wieder frei, ohne in erster Linie den Menschen zu dienen.»

Vielleicht könnte man sagen: Wildnis ist ein Kontinuum. Menschen bewegten sich schon immer in ihr – sie lebten in ihr, kultivierten sie und überliessen sie irgendwann wieder sich selbst. Und auch im Calancatal wird die Wildnis nicht in absehbarer Zeit überhandnehmen. Der Spagat könnte gelingen.