Durch den Monat mit Patrícia Melo (Teil 3): Warum bleibt die Rache nur ein Traum?

Nr. 33 –

In Brasilien ist die Vergewaltigung indigener Frauen eine gezielte Strategie von Landräubern. Die Autorin Patrícia Melo erzählt, wie sie beim Schreiben mit einem Kniff für die Bestrafung der Täter sorgt.

«Ich wollte nicht, dass die Frauen dieselbe Sprache der Gewalt brauchen wie die Männer»: Patrícia Melo.

WOZ: Patrícia Melo, Ihr neustes Buch «Gestapelte Frauen» spielt zu einem grossen Teil im Amazonasgebiet in Brasilien. Warum hat Sie gerade diese Region im Zusammenhang mit Femizid und Gewalt an Frauen interessiert?
Patrícia Melo: Mich interessierte die Gewalt gegen indigene Menschen: einerseits innerhalb ihrer eigenen Gemeinschaft, andererseits im gesamtbrasilianischen Kontext. Machismo und Gewalt gegen Frauen sind auch innerhalb von indigenen Communitys ein Problem – allerdings haben diese ihre eigenen ethischen Codes, nach denen Männer bestraft werden, die Gewalt an Frauen ausüben. Andererseits sind die Vergewaltigungen von indigenen Frauen durch Invasoren und Landräuber ein grosses Thema, über das kaum gesprochen wird.

Was passiert da?
Landräuber vergewaltigen gezielt Frauen, um die indigenen Gemeinschaften zu vertreiben: Eine Vergewaltigung wird als eine Schande für die ganze Gruppe angesehen, sie fühlt sich entehrt und verlässt das Land, auf dem sie lebt. So wird es frei, und die Landräuber können es an sich reissen.

Wie im Krieg wird Vergewaltigung also als Waffe eingesetzt?
Exakt. Die Feuer im Amazonasgebiet, von denen wir zurzeit wieder hören, sind der Schlussakt dieser furchtbaren Handlungen. Nachdem die Landräuber die Gemeinschaften vertrieben haben, brennen sie das Land ab. Dieses kann nicht wieder bewirtschaftet werden und wird den Verbrechern zugesprochen, die es teuer weiterverkaufen. Das alles kann nur aufgrund eines totalen Versagens der Politik stattfinden.

Sie beschreiben in Ihrem Buch anschaulich, wie in Brasilien nicht alle dieselben Rechte haben: Das Gesetz kümmert sich kaum um die Gewalt, die indigenen Menschen angetan wird.
Diese Situation hat sich unter Präsident Bolsonaro verschärft: Für ihn sind Indigene faule Menschen, ihre Leben sind für ihn nichts wert. In Bezug auf Femizide ist es leider in Brasilien trotz Gesetzen noch immer so: Wenn du ein reicher, weisser Playboy bist und ein Teenagermädchen aus einer indigenen Community tötest, wirst du freigesprochen – wie ich das in meinem Buch beschreibe.

Im Buch gibt es einen ausführlichen traumartigen Erzählstrang: Die Frauen trinken Ayahuascasaft, der eine psychedelische Wirkung hat, und rächen sich dann in ihrem Drogenrausch ziemlich brutal an den Männern. Warum bleibt die Rache nur ein Traum?
Hätten sie sich real gerächt, hätten sich die Frauen im Buch ja gleich verhalten wie die Männer. Und ich wollte nicht, dass die Frauen dieselbe Sprache der Gewalt brauchen wie die Männer. Deswegen musste ich das auf eine metaphorische Art machen. Dieser Erzählstrang im Buch ist übrigens eine Referenz an den Gründungsmythos der Amazonasregion.

Was besagt dieser?
Der Mythos erzählt, dass europäische Invasoren bei ihrer Expedition im Amazonas auf der Suche nach Gold von nackten Kriegerinnen angegriffen wurden. Als König Carlos I. diese Geschichte hörte, entschied er sich, den Fluss «Amazonas» zu nennen, inspiriert von den griechischen Kämpferinnen.

Als Autorin machte es mir riesige Freude, dass ich während des Schreibens die Macht hatte, mich auf diese Art zu rächen – was im wirklichen Leben ja unmöglich wäre. Wie die Frauen darüber diskutieren, welchen Körperteil des getöteten Mannes sie essen werden, wie sie ihn kochen werden – überhaupt die Art und Weise, wie sie über Männer sprechen … Zum Lesen ist dies der leichte Teil des Buchs, mit viel Humor geschrieben.

Ansonsten ist Ihr Buch eher heftig zu lesen, was nicht nur am Inhalt, sondern auch an der Sprache liegt. Die ist sehr …
… scharf?

Und sehr explizit.
Während des Schreibens habe ich intensiv am Vokabular gearbeitet, um Worte zu finden, die richtig scharf klingen. Ich wollte, dass die Leserinnen und Leser die Gewalt bei der Lektüre spüren. Gleichzeitig will ich aber auch, dass mein Buch gelesen wird. Wenn Leute das Stichwort Femizid hören, sagen sie oft: Oh nein, ich möchte nicht über so ein krasses Thema reden und auch nichts darüber lesen. Die Herausforderung für mich war deshalb, meine Leser für ein so schwieriges Thema einzunehmen.

Gibt es Autorinnen und Autoren, die Sie beim Schreiben inspirieren?
Das ändert immer wieder. Als ich jung war, waren Albert Camus und Fjodor Dostojewski sehr wichtig, wegen der Komplexität ihrer Figuren. Als ich «Inferno» schrieb, waren James Joyce und Louis-Ferdinand Céline wichtige Lehrer für mich. Jedes Buch, das ich lese, lese ich als Studentin – noch heute. Lesen ist ein sehr wichtiger Teil der Arbeit einer Autorin, denn um deine eigene Sprache zu finden, musst du andere lesen. Allerdings höre ich jeweils auf zu lesen, sobald ich ein Buch schreibe: Im Schreibprozess, der ein bis eineinhalb Jahre dauert, möchte ich nicht beeinflusst werden.

Die Autorin Patrícia Melo (58) lebt seit mehreren Jahren in Lugano. In Brasilien gelten ihre Romane als Pflichtlektüre.