Anarchismus und Judentum: Hier, nicht erst im Himmel

Nr. 7 –

Was verbindet die Religion mit der radikalen Theorie? Mehr, als es scheint. Ein Buch erzählt sechs Lebensgeschichten.

Er war der Hunter S. Thompson der Weimarer Republik: Jack Bilbo (1907-1967), egozentrischer Berliner Künstler, Journalist und Schriftsteller. Wie der US-amerikanische Starjournalist Thompson schrieb Bilbo am liebsten Reportagen über Gangster, Mafiosi und Verrückte, dazu atemberaubende Romane, die er als wahre Erlebnisberichte verkaufte. Er stammte aus einem grossbürgerlichen Haus, Sparen war nicht seine Sache. Wenn er in Geldnot kam, fuhr er auch Taxi oder verkaufte Teppiche und Kosmetik. 1933 wurde er von den Nazis gefoltert, die er schon vorher gehasst hatte («Man diskutiert mit ihnen ebenso wenig wie mit einem Haifisch»), konnte jedoch nach Mallorca entkommen. Später zog er weiter nach England und wurde Maler und Galerist, bevor er, verarmt und gesundheitlich angeschlagen, 1955 nach Berlin zurückkehrte.

Aus ganz anderen Verhältnissen kam Isak Aufseher: Geboren 1905 in Kuty, Galizien (heute Ukraine), konnte er die Schule nur zwei Jahre lang besuchen, dann kam der Erste Weltkrieg. Die Armut trieb ihn in den zwanziger Jahren nach Berlin, dort wurde er Kommunist, später Anarchist. Nach der Machtergreifung der Nazis 1933 flüchtete er nach Paris und weiter nach Barcelona, dort erlebte er 1936 den Militärputsch mit, gefolgt von Revolution und Bürgerkrieg. Als Pazifist ging er nicht an die Front, aber unterstützte die antifaschistischen Kämpfer-Innen von Barcelona aus. Als die StalinistInnen alle die zu bekämpfen begannen, die ihren Führungsanspruch nicht akzeptieren wollten, schaffte er es mit viel Glück zurück nach Paris und landete schliesslich in Basel, wo er heiratete, Buchhändler wurde und sich in der Wohnbaugenossenschaftsbewegung engagierte.

Von der Religion zur Subversion

Diese völlig unterschiedlichen Männer hatten zwei Dinge gemeinsam: Beide waren Juden, und beide verstanden sich als Anarchisten. Zufall? «Auf den ersten Blick scheint Judentum und Anarchismus wenig miteinander zu verbinden», schreiben Siegbert Wolf und Werner Portmann in ihrem Buch «Ja, ich kämpfte ...», das sechs Lebensgeschichten erzählt. «Einerseits eine Bevölkerungsgruppe mit ihrer messianischen, traditionellen und rituellen Religiosität, andererseits eine subversive Idee und sozialrevolutionäre Lebenshaltung, im Allgemeinen atheistisch und materialistisch.»

Doch bei genauerem Hinschauen gibt es viele verbindende Elemente: So hat die libertäre Utopie des freien Zusammenlebens «ohne Chef und Staat» eine grosse Ähnlichkeit mit dem jüdischen Glauben an die Zeit der Ankunft des Messias, wenn Frieden und Gerechtigkeit herrschen werden und die überlieferten religiösen Verbote dahinfallen. Gemeinsam ist ihnen auch die Betonung der neuen Welt im Diesseits, nicht erst im Himmel. Bestimmt hat auch die Ausgrenzung vielen Jüdinnen und Juden den Blick für Ungerechtigkeiten geschärft und die Sehnsucht nach einer Welt ohne Nationalismus verstärkt.

So erstaunt es nicht, dass einige der bekanntesten AnarchistInnen jüdischer Herkunft waren: Erich Mühsam, Emma Goldman, Gustav Landauer. Doch auch unter den weniger Berühmten waren viele Jüdinnen und Juden. Werner Portmann und Siegbert Wolf porträtieren sechs von ihnen, vier Männer und zwei Frauen. Tragisch ist die Geschichte von Cilla Itschner-Stamm: In grosser Armut in der Nähe von Lwow aufgewachsen und von der Familie verstossen, kam sie mit fünfzehn in die Schweiz, bekam früh ein Kind von einem unzuverlässigen Freund und hatte auch mit ihrem Ehemann Hans Itschner nicht viel mehr Glück. Zwischen München, Zürich und Bern war sie rastlos aktiv für den Anarchismus und träumte von freier Liebe, landete jedoch in der Psychiatrie und lebte 36 Jahre lang einsam in der Klinik Rheinau, von ihren Genoss-Innen vergessen - psychische Krankheit war und ist für die meisten Linken ein Tabuthema. Mehr Glück hatte Milly Witkop, die ebenfalls aus der Ukraine stammte, aber den grössten Teil ihres Lebens in England, Deutschland und den USA aktiv war. Im Londoner East End engagierte sie sich für die Rechte der armen jüdischen ArbeiterInnen, die zu Zehntausenden nach England gekommen waren. Sie gab Zeitungen heraus, unterstützte Streikende und engagierte sich in Frauengruppen. Witkop lebte mit ihrem deutschen Mann Rudolf Rocker wohl die romantischste Liebe in der Geschichte des Anarchismus.

Die weiteren Porträtierten sind Robert Bodanzky, ein gefeierter Librettist an der Wiener Oper, der, vom Ers-ten Weltkrieg tief erschüttert, zu anarchistischen Poeten wurde und in Armut starb, und der Schriftsteller und Philosoph Carl Einstein.

Gerettete Geschichten

Werner Portmann und Siegbert Wolf haben sich jahrelang mit den Porträtierten beschäftigt, stöberten in Archiven und Nachlässen und konnten mit mehreren inzwischen verstorbenen Nachkommen Gespräche führen. Es ist ihr grosses Verdienst, Geschichten von beinahe Vergessenen aufgezeichnet zu haben, die in einem verrückten Jahrhundert zwischen Kriegen und Katastrophen für eine gerechtere Welt kämpften. Formal hat ihr Buch allerdings Schwächen: Die Lebensgeschichten sind streckenweise reine Aufzählungen von Aktivitäten, manches wird mehrmals wiederholt, während andere Informationen fehlen. So erwähnen die Autoren immer wieder die Ideen, die Carl Einstein beeinflussten, etwa die Lehren des Philosophen Baruch Spinoza und den Gnostizismus. Doch sie unterlassen es, diese Ideen kurz zu umreissen. Wer kein Vorwissen darüber hat, versteht auch nachher nicht viel mehr davon. Und die vielen Rechtschreib- und Grammatikfehler sind ärgerlich. Mit einem sorgfältigeren Lektorat und Korrektorat hätte dieses wichtige Buch noch viel gewinnen können.

Werner Portmann und Siegbert Wolf: Ja, ich kämpfte. Von Luftmenschen, Kindern des Schtetls und der Revolution. Unrast Verlag. Münster 2006. 314 Seiten. Fr. 33.60