20 Jahre 9/11: «Der Terror, der manifest von aussen kommt, trifft auf Angst und Schrecken, die im Inneren latent wirken»

Nr. 36 –

Im Schatten der Explosionen. Ein Versuch, den Terror und den «Krieg gegen den Terror» als Terror in uns zu verstehen.

Wir haben dem Terror als Medium von Macht abgeschworen. Doch das Gefängnis, im Bild Guantánamo, setzt Angst und Schrecken ein, um Gehorsam zu erzwingen. Foto: John Moore, Getty

I. DIE HERRSCHAFT DES TERRORS

Der Begriff des Terrors hat einen bemerkenswerten Weg hinter sich. Ursprünglich diente er zur Beschreibung der Fähigkeit des Staats, durch Schrecken und Strafangst Gehorsam und «Tugend» zu erzwingen. «Regieren» heisst nicht zuletzt, eine Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzen zu können. Und «Regieren» heisst zugleich, einen Schutzschirm des Schreckens um die «grosse Einheit» von Volk, Religion und Nation zu entfalten. Wenn Regieren ohne Terror nicht möglich ist, dann ist Terror andererseits die Vorwegnahme von Regierung für die «grosse Einheit». Jeder Staat (so zivil er sich auf der Aussenseite geben mag) enthält den Terror, der ihn geformt hat, und jeder Terror enthält den (noch so imaginären) Staat, der äussere Form der «grossen Einheit» sein soll.

Regieren ohne Terror ist die demokratische Utopie, von der wir sehr, sehr weit entfernt sind. So wie sich Herrschaft in flüssige Macht aufgelöst hat, hat sich der Terror in unendliche Netzwerke der Gewalt aufgelöst. Möglicherweise liegt eine dialektische Volte nahe: Der Staat braucht nach wie vor den Terror, will er Gehorsam seiner Untertanen (die nun nur noch «Bürgerinnen» und «Bürger» heissen) erzwingen. Er muss ihn allerdings nicht unbedingt selbst ausüben. Denn so, wie Terror Politik werden will, kann Politik auch mit dem Terror gemacht werden. Im Zirkel von Terror und «Krieg gegen den Terror» changiert Macht auf beiden Seiten zwischen der zivilisatorischen und der barbarischen Seite ihres Wesens. Im Terror will sich ein kommender Staat (oder mehr noch: ein kommendes Reich) ankündigen; im Krieg gegen den Terror will sich ein Staat (vielleicht auch als Reich) die Terrorerzählung zurückerobern.

Den Gehorsam erzwingen

In der Französischen Revolution wurde der Begriff «Terror» auf die «Feinde des Volkes» angewandt, das heisst, dass Terror auch als bizarrer Schutz akzeptiert werden kann: als drastischste Praxis der Gerechtigkeit – und Gerechtigkeit als Ergebnis von Terror. Das wurde man so schnell nicht mehr los, auch wenn man sich schliesslich Robespierres und seines Gefolges entledigte, die Bürgerlichkeit im Schatten der Guillotine herstellen wollten. Nach den Erfahrungen mit dem Faschismus als fundamental terroristischem System und nach den Gerechtigkeitsdiktaturen im Osten schworen die westlichen demokratischen Gesellschaften – beinahe hätten wir gesagt: natürlich – dem Terror als Medium von Macht und Regierung ab. Nun freilich musste sich das System, das öffentlich dem Terror entsagte, andere Formen der Macht aneignen, und neben der Entfaltung von «soft power» (Psychologisierung, Ästhetisierung, Teilhabe-Belohnungen, Kommerzialisierung, Quantifizierung, ökonomische Rückkoppelungen usw.) müssen, für den Fall echter Konflikte, auch verdeckte Formen des Terrors vorgehalten werden. Regieren hiess nun: die Systeme des legalisierten und moderierten Terrors verwalten. Schule, Gefängnis, Militär, Psychiatrie, Fabrik, Justiz, Behörde, Polizei, Geheimdienst, Familie, nicht zuletzt die politische Ökonomie des Kapitalismus selbst, sollen Medien sein, um auf kontrollierte Weise Angst und Schrecken einsetzen zu können, um Gehorsam zu erzwingen. Nur im Alltagsspott darf man auch hier von Terror sprechen.

Menschen- und Bürgerrechte wären nur durch den allfälligen und tiefgreifenden Verzicht des Staats und seiner Organe, aber auch aller zivilgesellschaftlichen und sogar der militärischen, polizeilichen, geheimdienstlichen und bürokratischen Instanzen auf jede Form von Terror möglich. Das grosse demokratisch-humanistisch-universalistische Projekt der Nachkriegszeit hätte man vielleicht auf die Hoffnungsformel bringen können: eine Welt ohne Terror. Terror – in diesem Bewusstsein wuchsen mehrere Generationen im Westen heran – gab es nur als Vergangenheit und in der Gegenwart jenseits des «Eisernen Vorhangs» und in den «unterentwickelten» Gesellschaften auf mehr oder weniger dunklen Kontinenten, denen man durch «Entwicklungshilfe» unter anderem den Verzicht auf Terror schmackhaft machen wollte. Aber hat sich die Abschaffung von Terror als Mittel von Macht, Regierung und politischer Ökonomie in den westlichen Demokratien tatsächlich vollzogen? Und wurde die Ächtung und absolute Isolierung jedweden Terrors in der Welt Grundlage einer friedenspolitischen und «gerechten» Aussenpolitik? Die Antwort lautet: eher nicht.

Terror ist die Waffe der Bösen und der Schwachen, so formulierte es einst einer jener Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die sich, schon bevor dies ein fester Begriff werden sollte, einem «Krieg gegen den Terror» widmeten. Aber zur gleichen Zeit entfaltete sich eine Parallelgeschichte, in der immer wieder der eigene Hang zum Terror offenbar wurde: rassistische Übergriffe, Vietnam, Polizeigewalt, Folter als Mittel der Informationsgewinnung, Gewalt und Mord in Gefängnissen, Guantánamo, Irak, Afghanistan …

Ein ketzerischer Gedanke

Vom Medium der (staatlichen) «Gerechtigkeit» wurde Terror zum Mittel des Angriffs gegen vermeintlich ungerechte, unordentliche, bedrohliche und illegitime Formen der Macht. Terror wurde auf der einen Seite internalisiert. Die Gesellschaft, die Terror als allgemeines Ordnungsprinzip ablehnte, duldete Terror in ihren Subsystemen: in religiösen Einrichtungen, in der Pädagogik, in der Psychiatrie, in der Familie – mehr oder weniger. Ganz nebenbei wurde sie auch süchtig nach Traum- und Albtraumbildern vom Terror: «Unterhaltung», so scheint es, ist zu einem nicht geringen Teil Sublimation von Terror, als Angst- wie als Wunschbild (sagen wir: bei James Bond). Der Staat delegiert den Terror also zunächst auf seine Subsysteme, dann auf «die Gesellschaft» und auf die Medienkultur. Nur so ist verständlich, dass die meisten Bilder, die der reale Terror produziert, seinen Adressaten wie die Realisierung längst vertrauter Bilder des kollektiven Bilderflusses erscheint. Der Terror, der manifest von aussen kommt, trifft auf Angst und Schrecken, die im Inneren latent wirken.

Georg Seesslen

Der Traum von der Abwesenheit sozialen Terrors ist so wenig erfüllt worden wie der Traum von der Abwesenheit politischen Terrors. (Der fatale Irrtum der Revolutionen seit 1789 liegt darin, dass man politischen Terror einsetzen muss, um sozialen Terror zu überwinden, während der fatale Irrtum der kapitalistischen Demokratie darin liegt, sozialen Terror zur Abwehr des politischen zu nutzen.) Und man projizierte Terror als Angriff auf die eigene Souveränität. Nicht nur reagierte der Staat auf einen Terror in der Welt und gegen den eigenen Anspruch mit dem «Krieg gegen den Terror»; die Gesellschaften des Westens reagierten gegen die Dissidenz und Kritik im Inneren mit einer drastischen Wiederkehr des sozialen Terrors. Man kann wohl behaupten: Die Generationen des neuen Jahrtausends wachsen im Schatten des sozialen Terrors auf. Und nicht wenige der «neuen» sozialen, medialen, digitalen Kulturtechniken dienen vor allem diesem Zweck: den sozialen Terror zu erhöhen.

Nun ist freilich die dialektische Verbindung zwischen beidem so enorm, dass das eine immer auch wieder das andere hervorbringt. Politischer Terror kann die Antwort auf sozialen Terror sein und umgekehrt. Wir sehen das, sozusagen als mythische Verdichtung, in den Biografien der einzelnen Terroristen (und parallel dazu einzelner Amokläufer und «erweiterter Selbstmörder») immer wieder am Werk und stellen entsprechende Fragen: Wer ist unter welchen Bedingungen mit welchen Folgen empfänglich für die «grosse Tat» des direkten Terroranschlags?

Nur bei den erklärten Faschisten (und in verwandten Bewegungen wie dem «Islamismus») ist es indes eindeutig nachzuweisen, wie sozialer Terror sich zum politischen Terror verhält, wie, nur zum Beispiel, der soziale Terror gegen sexuelle Minderheiten zum politischen Terror gegen «anders Denkende» wird, gegen Feinde allerorten, um schliesslich als Terror der Idee (Terror des Gesetzes) gegen alles Menschliche zum Regime zu werden.

Wir haben uns im Übrigen schon mit der Formulierung dieser Gedanken eines jener Verbrechen schuldig gemacht, die der Terror nur mit Gewalt ahnden kann, nämlich, dass Terror nicht als Revolte gegen die «falsche» Macht, sondern als struktureller Teil jeder Form von Macht wirkt. Der ketzerische Gedanke entspricht einer semantischen Grundordnung, der Beziehung zwischen dem Bezeichnen (der Gewalttat, der Folter, dem Anschlag, dem Mord) und dem Bezeichneten (eine Imagination der grossen Einheit).

Man kann dann zwei grundlegende Modelle voneinander unterscheiden: 1. der terroristische Akt, der als solcher intendiert und inszeniert ist und in seiner Gewalt und seiner Grausamkeit darauf zielt, ein solitäres Ereignis zu bilden; 2. offene und verdeckte Strukturen des Terrorismus, die sich hier und da in blutigen Ereignissen offenbaren. Und die Semantik lässt sich weiter auffächern: Terror im Namen der Gerechtigkeit (der «linke» Terror), Terror im Namen der grossen Einheit und des Reiches (der «rechte» Terror), Terror im Namen des grossen Anderen (der «religiöse» Terror) und Terror im Namen der eigenen Person (der «Subjekt»-Terror).

Terror, so besehen, ist also eine Reaktion auf den Verlust der grossen Einheit – von Ich und Welt, Subjekt und System, Glaube und Realität usw. –, und er kann daher stets von beiden Seiten angesehen werden, vom ausführenden Subjekt und vom «befehlenden» System. (Daher sind die meisten Theorien zum Terrorismus gleichsam naturgemäss einseitig, also falsch.) So wie sich Terror und Krieg gegen den Terror bedingen, bedingen sich auch Tat und öffentliche Aufmerksamkeit. Jeder Terror zwingt den ZeugInnen Mitschuld auf, so oder so. Die utopische Frage wäre daher: Wie kann man mit nichtterroristischen Mitteln auf den Terror reagieren, der einerseits aus einem unverstandenen Aussen, andererseits aber auch aus einem nicht minder unverstandenen Innen kommt? Die Terroranschläge von al-Kaida oder dem IS und die Terroranschläge des NSU oder eines Anders Breivik sind, was ihre Objekte und ideologischen Narrative anbelangt, diametral entgegengesetzt, aber nicht nur in der Phänomenologie und Taktik miteinander verbunden. Es schmerzt angesichts der Toten, des Leidens, der Angst, und doch ist es nicht abzuwenden: Terror ist eine Sprache.

In kleiner Münze wiederum gewöhnte man sich ja an «Terror-Beigaben» der Kommunikation. Man leidet unter Telefon- und Spamterror; die Mieter, die Kids, die Mitarbeiterinnen, die Nachbarn, sie alle machen, kaum klappt etwas mit der Kommunikation nicht mehr so recht, Terror. Es muss uns klar sein, dass wir in einer globalisierten Form der Allgegenwärtigkeit von Terror leben: Terror als einzigartige (aber absehbar erneuerte) Ereignisse und Terror als Alltagserfahrung und Kommunikationspartikel. Mit jeder Faser von Körper, Fantasie und Biografie erfahren wir auf gewisse Weise den Zusammenhang zwischen beidem (das eine, vielleicht, als Entladung der Spannung, die das andere erzeugt), aber zugleich entzieht sich dieser Zusammenhang auch wieder jeder kritischen Analyse. Denn das rationale Interesse hinter dem Terror entsteht aus der fundamentalen Irrationalität der Handlung selbst.

9/11 als Metabild

Der Anschlag auf die Twin Towers in New York vom 11. September 2001 war in gewisser Weise der Terroranschlag des Jahrhunderts. Man erwartete von ihm eine Symbolwirkung, wie sie die Ermordung der Thronfolger einst hatte, das Signal für eine Zeitenwende, nicht obwohl, sondern gerade weil auch diese Tat in sich vollkommen sinnlos war. Kein «Schuldiger» wurde bestraft, kein Feind besiegt, vielmehr wurde in Kauf genommen, dass unter den Opfern Menschen aller Regionen und Religionen waren. «9/11» wurde zum Metabegriff und Metabild aller terroristischen Modelle in einem: der Flugzeugentführung, der Geiselnahme, des Selbstmordattentats, der Explosion und des Chaos, der grösstmöglichen Zahl an Opfern, des medienwirksamen Spektakels. Der darauf ausgerufene «Krieg gegen den Terror» spiegelt vieles davon wider: das Ungerichtete und Verfehlte, die Unverhältnismässigkeit, die symbolischen Akte, das innere Chaos. Die Gründe für den Anschlag (später in Videobotschaften verbreitet) waren so vielfältig und vage wie die Reaktionen; nur zwei einfache Antworten gab es auf die Frage «Warum?»: weil die Attentäter es konnten. Und weil die Objekte und ihre Gesellschaften es nicht verhindern konnten. Es würde sich, erklärt zumindest Hamburgs Verfassungsschutzchef Torsten Voss (im Interview mit der «taz»), nicht wiederholen können, so viel hat man an Antiterrormassnahmen gelernt.

Man kann indes von einer bizarren Dreieinigkeit des extremen politischen Islam ausgehen: al-Kaida als «rein» terroristisches Kommandounternehmen (Terror als Inhalt), IS als terroristisches System (Terror als Zweck für die territoriale Herrschaft, das kommende Reich) und Taliban (Terror als Mittel für eine politische Macht, Regierung). Die Grenzen der drei Terrorformen sind fliessend, der Übergang vom einen zum anderen auch biografisch leicht, und zugleich gibt es auch so fundamentale Unterschiede, dass man gar nicht anders kann, als sich auch wechselseitig mit Terror zu bekämpfen. 9/11 war also tatsächlich so etwas wie der Auftakt einer neuen Terrorerzählung. Terror ist nicht mehr die Störung der Weltordnung, Terror ist die Weltordnung.

Nun, zwanzig Jahre später, beim Rückzug einer geschlagenen Armee und nach dem Anschlag auf den Flugplatz von Kabul, wiederholt sich die Rhetorik, aber sozusagen aus der Negation heraus. Alles scheint auf einen (natürlich vorläufigen) Schlussakt hinzudeuten. Weiter entfernt war man von einer Welt ohne Terror gewiss nie, aber dennoch, so scheint es, wird augenblicklich wieder eine neue Erzählung dazu generiert. Der offene Terror, der mit 9/11 gezeigt hat, dass er die Gesellschaften des sublimierten (ökonomisch-sozial-aussenpolitischen) Terrors in Angst und Schrecken versetzen kann, ist nun vom Antagonisten zum eigentlichen Subjekt der Erzählung geworden.

Gerade konnte man sich zumindest in den USA noch damit herausreden, man habe ja das Kriegsziel erreicht, nämlich die Versicherung, dass aus Afghanistan kein Terrorakt gegen Angehörige der USA (und vielleicht auch ihrer Verbündeten) mehr kommt. Da zeigt genau dieser Anschlag in Kabul, dass der Krieg gegen den Terror tatsächlich verloren wurde und dass selbst die Herrschaft eines terroristischen Systems wie jenes der Taliban wiederum Terror gegen sich erzeugen muss, wenn in der Überbietungslogik des Fundamentalismus noch Platz ist und die unheilige Dreieinigkeit des Terrors es so will (im Übrigen haben wir bei den «Erzkonservativen», den Evangelikalen und den Neofaschisten ganz ähnliche Keimzellen für kommende Terrorismusnarrative in den zerfallenden Gesellschaften des Westens).

Eine Welt ohne Terror

Terror hat drei grosse Ziele: die «Erlösung» des terroristischen Subjekts (die psychoanalytisch-soziologische Ebene), die Erzeugung von Angst und Schrecken durch die Anzahl der Opfer, die Willkür des Zuschlagens, die besondere Grausamkeit der Taten (die semiotisch-«metaphysisch»-politische Ebene) und schliesslich die Erzeugung weiteren Terrors zur Destabilisierung von Territorien, Ordnungen, Kulturen etc. (die strategisch-imperiale Ebene). Das Wesen des Terrors ist seine Absolutheit. Er greift drei Ziele an: den Menschen (der mehr ist als ein Subjekt), die Zivilgesellschaft (die Formen und Orte, an denen sich Menschen ohne Terror zu organisieren versuchen) und die Vernunft (insofern jede Art von Terror darauf gerichtet ist, die mühsame Arbeit der Menschen zu vernichten, dem Leben, der Welt und der Geschichte einen Sinn zu geben). Eine Welt ohne Terror scheint nur möglich, wo sich Humanismus, Zivilgesellschaft und Vernunft zusammenschliessen, um sowohl dem politischen als auch dem sozialen Terror die Grundlagen zu nehmen. Jenseits von Staat und Kapital.

II. DIE SPRACHE DES TERRORS

Wir werden alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einsetzen – alle Mittel der Diplomatie, alle nachrichtendienstlichen Mittel, alle polizeilichen Instrumente, alle Möglichkeiten der finanziellen Einflussnahme und alle erforderlichen Waffen des Krieges, um das Netzwerk des weltweiten Terrors zu zerschlagen und zu besiegen.
(Präsident G. W. Bush in seiner Rede vor dem US-Kongress vom 20. 9. 2001)

Semantisch gesehen ist jeder Terroranschlag ein grosses Fragezeichen. Jede Antwort ist daher erst einmal unsinnig, weil das Fragezeichen gewissermassen total, also ohne einen Fragesatz davor erscheint. Mühsam gelingt es möglicherweise, nach und nach den Tathergang und das Subjekt des Anschlags zu deduzieren, wobei aber eben dieses Subjekt selten eindeutig wird: Usama Bin Laden, Anders Breivik, der NSU … Sollen die armseligen Menschen, die hinter diesen Taten stehen, tatsächlich zu solcher negativen Grösse fähig gewesen sein? Sind «Bekenner» wirklich «Autoren» der Anschläge?

So erweist sich selbst die negative Erhabenheit des Terrors, das Wesen von Monstern und diabolischen Genies betreffend, als Täuschung. Das Schrecklichste am Terror ist, dass seine eigentlichen Subjekte in aller Regel höchst triviale Menschen sind. Sie erhalten die Erklärungen für ihre Taten nur auf diesem trivialen Level. Wirrköpfe, Fanatikerinnen, Paranoiker, gekränkte Narzissten, Psychopathinnen, Sadisten, Todesgetriebene, Ich-schwache Marionetten … Wie die Taten selber, so spuken auch die TäterInnen als Karikaturen, Mythen und Sublimationen durch die Kunst, die populäre Kultur, die Informationskanäle. Und immer wieder entstehen da, weil die «ausführenden» TerroristInnen so furchtbar armselige, triviale Gestalten sind, die Fantasien von allmächtigen, finsteren Hintermännern, unfassbar hyperorganisierten Geheimbünden: Terror und Verschwörungsfantasie gehören zusammen; sie erzeugen einander. Jeder Terroranschlag basiert auf einer Verschwörungsfantasie, und jede Verschwörungsfantasie enthält den Keim für terroristische Akte (und seien es symbolische «Erstürmungen» demokratischer Institutionen). Terror entsteht an den Schnittstellen zwischen semantischen, ökonomischen und politischen Ordnungen. Das terroristische Subjekt ist eines, das mit Gewalt eine verlorene Einheit von Ich, Welt und Sprache wiederherstellen will.

Die vier Stufen des Terrors

Auf eine Phänomenologie des Terrors kann man sich rasch einigen. Wir haben dazu eine Uno-Resolution (es handelt sich um die Resolution 1566 aus dem Jahr 2004): «Terroristische Handlungen sind solche, die mit Tötungs- oder schwerer Körperverletzungsabsicht oder zur Geiselnahme und mit dem Zweck begangen werden, einen Zustand des Schreckens hervorzurufen, eine Bevölkerung einzuschüchtern oder etwa eine Regierung zu nötigen, und dabei von den relevanten Terrorismusabkommen erfasst werden.» Insbesondere der letzte Zusatz zeigt uns sehr deutlich, dass der Terror nicht nur eine politische Sprache ist, sondern auch durch das politische Sprechen bestimmt wird. Etwas, das von keinem Terrorismusabkommen definiert ist, oder etwas, das in einem Terrorismusabkommen definiert wird, dem aber von der politischen Weltsprache keine Relevanz zugesprochen wird, ist auch kein Terror. So scheint es also eher darum zu gehen, eine Macht gegen den Terror einer anderen zu schützen als Mensch, Menschlichkeit und Menschheit gegen den Terror als Strukturelement der Macht. (Vielleicht lässt es sich sogar mathematisch bestimmen, in welchem Stadium ihrer Entwicklung nach oben oder nach unten Macht in Terror umschlagen muss.) Man verkennt dabei, dass man den Terroranschlag als spektakulär-katastrophale Ausnahme nicht bekämpfen kann, wenn man den Terror als gewöhnliche Praxis und Regel nicht bekämpft.

Dabei gibt es möglicherweise vier Stufen:

  1. Der Terrorist als reines Subjekt (einer, der sich allenfalls eine Ideologie oder eine Religion als Ausrede sucht). Es geht um den einsamen Attentäter, der sich selbst (in wer weiss welchen Echokammern) «radikalisiert» hat und der in seiner Tat die Brüche seiner Biografie endgültig bearbeitet. Der Terroranschlag ist der Höhepunkt der Subjektivierung.
  2. Die Terroristin als Vertreterin eines Systems (eine, die so sehr von einem System gefesselt wird – durch sehr unterschiedliche Mittel –, dass sie seine totale und reine Gültigkeit erzwingen will und lieber mit ihren Opfern stirbt, als ausserhalb ihrer Erlösungs- und Wahrheitsgeschichte zu leben). Der Terroranschlag ist der Höhepunkt der Subjektauflösung.
  3. Das System, das strukturell terroristische Subjekte und Praktiken erzeugt. Niemand kann wirklich herrschen ohne terroristische Instrumente, aber es gibt Formen der Herrschaft, deren eigentlicher Inhalt und deren eigentliches Ziel der Terror ist. Der Terror verspricht, die «grosse Einheit» zu stabilisieren.
  4. Das terroristische System. Ein System, dessen dünne ideologische oder religiöse Haut nicht verbirgt, was es wirklich verkörpert. Die Forderung und Förderung des institutionalisierten Terrors. Das System stabilisiert sich in der Organisation des Terrors, die Menschen leben mit einer gewissen Gewöhnung an den Terror. Eine Mehrheit arrangiert sich mit ihm. Der Terror ist die «grosse Einheit».

Natürlich sind auch hier alle Übergänge fliessend. System und Subjekt werden im Terror, gleich ob es sich um einen terroristischen Anschlag oder eine serielle Untat wie die Folter handelt, in der Gewalt vereint, auf beiden Seiten des Fragezeichens. Der Terrorist greift in seiner Tat mit den Menschen das System an, und der Folterer versucht, den Menschen von seinem System zu trennen. Was der Terrorist den Opfern antut, will er für sich selbst. Den Sinn der grossen Einheit.

Verbunden durch Fragezeichen

Welche Erzählmodelle haben wir bei uns dazu entwickelt? Die Väter und Mütter, die ihre Kinder zu TerroristInnen erziehen? Und umgekehrt: die Menschen, die die fundamentale Abwesenheit von elterlicher Autorität dazu bringt, sich terroristisch einer (vielleicht imaginären) Autorität einzuschreiben? Der sadistische Terrorist, der Lust am Quälen, Deformieren, Erniedrigen und Zerstückeln anderer empfindet und sich dafür nur eine passende legitimierende Ideologie sucht? Und die asketische Terroristin, die in panischer Angst vor der eigenen und der Lust der anderen den Körper und die Körperlichkeit zum Schweigen bringen will? Hassprediger, die ihre AdressatInnen von verständigen Mitmenschen in blutrünstige MassenmörderInnen verwandeln (was ihnen umso leichter fällt, wenn diese Mitmenschen soziale Ächtung oder Kränkungen erfahren haben). Systematische Ausbildung zu BefehlsempfängerInnen, die die Erlaubnis zum Terror als Teil ihrer Belohnung ansehen. Empathieverlust als psychosoziale Erkrankung … Obwohl es eine Phänomenologie und eine Mythologie des Terrors gibt, fällt es nach wie vor schwer, so etwas wie einen Typus des Terroristen oder der Terroristin zu definieren. Nicht einmal die Verbindung von Terror und («toxischer») Männlichkeit ist wirklich verlässlich; es gibt auch ein weibliches Gesicht des Terrors, wie wir wissen.

Immer wieder wird versucht, mit den Mitteln der Kunst, mit den Mitteln der Psychologie, mit dem Mittel des Biografismus, mit den Mitteln der Kulturwissenschaften, mit den Mitteln der Ideologiekritik und so weiter in ein «Inneres» des terroristischen Subjekts vorzudringen, und immer wieder scheitern solche Versuche, weil man vor allem auf eine Leere stösst, auf die Abwesenheit dessen, was «Verstehen» unter normalen Umständen zum Material hat. In der Terrorerzählung, deren Dramaturgie und deren Stil man durchaus beschreiben kann, bleibt das ausführende Subjekt eine blinde Stelle. Niemand, der bei Verstand und Moral ist, «versteht», nur zum Beispiel, eine Beate Zschäpe oder einen Anders Breivik. Und doch ist eine Annäherung unumgänglich, wenn man die Utopie der Welt ohne Terror nicht gänzlich aus den Augen verlieren will. Denn das terroristische Subjekt geht niemals vollständig in der Strategie des terroristischen Systems auf.

Hinter dem «wahnsinnigen» Terroristen wird im Allgemeinen eine reale oder ideelle Auftraggeberin vermutet, die, im Gegensatz zum Täter selbst, rational und «kalt» strategisch denkt, ebenso imaginieren wir gern die Mittäterin und den Unterstützer, der womöglich sogar die eigentlich treibende Kraft ist, der es aber versteht, sich «die Hände nicht schmutzig zu machen». Der Täter, die Mittäterin und der Auftraggeber sind durch eine Szene, ein Milieu, eine «Erzählung», ein Modell oder eine Überzeugung verbunden, die sie in diversen Echokammern untereinander austauschen und verstärken.

Der lachende Täter, von dem Klaus Theweleit spricht, ist nicht denkbar ohne das System, das seinen Taten Absolution und Belohnung verspricht. Die Auftraggeberin wiederum, die sich in den Echokammern zum Täter hinbewegt, steht im Dienst eines «grossen Anderen» (zum Beispiel im Dienst eines Gottes oder im Dienst eines «Führers», wiederum Verkörperung und Verdichtung eines grossen Systems oder einer Weltordnung – einer Weltordnung, die immer auch eine Ordnung der Geschlechter, der Klassen und der «races» umfasst). Es ist ein «endgültiger» Zustand, der angestrebt wird, und damit haben wir in der terroristischen Tat eine perfekte Kombination aus dem freudianischen «Todestrieb» und dem politisch-fundamentalistischen Glauben an das «ewige Gesetz» oder das «ewige Reich».

Dass diese Kette übrigens nicht selber wiederum automatisch zu einem Verschwörungsmodell führen muss, zeigt der Umstand, dass alle Teile davon jederzeit auch fiktionalisiert oder simuliert werden können. Die einzelnen Glieder sind ihrerseits durch Fragezeichen miteinander verbunden und voneinander getrennt. Praktisch gesehen ist es gerade die Stärke des realen politischen Terrors, dass er sich nicht ins Modell einer grossen Verschwörung einordnen lässt. Terror geht weder von einem eindeutigen Zentrum aus, noch folgt er einer eindeutigen Struktur. Im Chaos, das er erzeugt, drückt er allerdings auch die Sehnsucht nach beidem aus. Das grosse Andere, das Volk, die «Rasse», der Gott, das Reich, die Idee, das System – in seinem Namen wird die Welt in einen «blutigen Brei», in eben das Chaos verwandelt, gegen das nur die gewaltsame Wiederherstellung der grossen Einheit, des ewigen Reiches, der endgültigen Gerechtigkeit helfen kann.

Die Wahl der «Bühne»

Ein terroristischer Akt braucht zunächst, sehr einfach, die Gelegenheit und die Mittel für seine Ausführung (Waffen, Sprengstoff, Geräte wie Flugzeuge oder Lastwagen), und schon deswegen ist er am Ende doch eher selten ohne «Umfeld» zu denken. Terrorismus als Praxis ist der Einfall in die «schwache Stelle» der verhassten Zustände. Etwas soll weich, schwach, formlos, unordentlich gemacht werden (wo also beginnt der Terror? Mit dem Umkippen eines Abfalleimers? Mit einer willkürlichen Personalüberprüfung?), und gegenüber dem Weichen zeigt man seine Härte, gegenüber dem Schwachen seine Stärke, gegenüber dem Formlosen seine Geformtheit, gegenüber dem Chaotischen seine Ordnung. Und schliesslich braucht er eine Möglichkeit von Kommunikation, eine Bühne, eine Öffentlichkeit. Der terroristische Akt will auslöschen, um sichtbar zu werden. Er ist also sowohl als Spiegel als auch als Bild zu begreifen.

TerroristInnen versprechen sich nicht nur die unendliche Dankbarkeit des grossen Anderen (der Märtyrer, der direkt in den Himmel kommt und dem, kein unwichtiger Nebenaspekt bei einer Anzahl der religiös motivierten Terroristen, alle Schuld vergeben wird; die «Performerin», die ihr Leben lang zur sozialen Unsichtbarkeit verdammt war und die im Sterben und Sterbenmachen ihr Bild hinterlässt; der autoritäre Charakter, der nur im Tötungsakt das Objekt des Autoritätswunsches rekonstruieren kann; die gekränkte Männlichkeit, die sich im Blut der anderen rekonstruiert; und so weiter), sondern auch die Bewunderung der vielen, er will, dass aus der einzelnen Tat die «grosse Einheit» keimt.

Der Selbstmordattentäter will unsterblich werden, so oder so. Er ist also nicht nur bedingt durch die Auftraggeberin, die ihn zum Werkzeug macht, sondern nicht weniger durch sich selbst, in einer Geschichte der Schuld, der Angst und der Abwehr. Er erlöst sich durch die Tat gleichsam selbst, er stellt mit Gewalt die verlorene Einheit mit dem grossen Anderen und der grossen Einheit wieder her. Und umgekehrt haben ihm der grosse Andere (vielleicht in der Verkörperung des «Hasspredigers») und die grosse Einheit (vielleicht in der Verkörperung einer Internetblase) dieses Erlösungswerk nahegelegt. So also haben wir vielleicht einen Ansatz für eine Theorie des Terrors, die aus Semantik, Psychoanalyse und politischer Ökonomie gleichermassen gespeist wird. Ein Kurzschlussgeschehen zwischen Strategien, Psychosen und Spiegel-Bild-Beziehungen.

Darin steckt auch die Möglichkeit, im terroristischen Akt neben dem Opfer und Selbstopfer auch das Motiv einer Rache zu entdecken. Der Terrorist rächt sich an dem, was ihn zurückgewiesen hat, an dem, was sich (wie Jugendliche auf einer Ferieninsel, wie Geschäftstreibende in Zwillingstürmen, wie Konsumierende und Kommunizierende auf einem Basar, wie Lernende in einer Schule, wie Feiernde auf einem Volksfest und so weiter) in einem Zustand gemeinsamen Glücks, nichtterroristischer Selbstorganisation befindet: «Zivilgesellschaft», wie man so sagt. Dort zuschlagen, wo die Menschen sich sicher und wohl fühlen, vielleicht auch in ihrem eigenen Zuhause. Die Wahl der «Bühne» für den terroristischen Akt hat nicht nur die praktische Begründung der Menschenansammlung, sondern auch einen symbolischen Kern.

Aus Terror Kapital schlagen

Im Augenblick des terroristischen Aktes empfindet das Subjekt des Terrors grösstmögliche Macht, das Objekt des Terrors grösstmögliche Ohnmacht. Alles, was sich mit Macht verbinden lässt, spielt dabei eine Rolle: Sexualität, Religion, Ideologie, Psyche, Politik und, man darf es nicht verschweigen, auch Ästhetik. Letzteres hat einige BeobachterInnen gar dazu verleitet, den Terroranschlag mit einem Kunstwerk zu vergleichen. Damit ist nicht nur die grausige «Schönheit» gemeint, sondern auch die letzte Unentschlüsselbarkeit. Der Terrorakt stellt den Sinn der Welt infrage. Es ist der Schock, der allen AdressatInnen sagt, dass nichts von den Gewissheiten, den Normen, den Erwartungen, den Ordnungen wirklich verlässlich ist. So entsteht das furchtbare Dreieck des Terrorismus aus dem Trivialen, dem Strategischen und der negativen Erhabenheit des Ästhetischen. Vernunft allein kann dieses Dreieck nicht erfassen, das eine scheint das andere jeweils unsinnig zu machen.

Die kapitalistische Antwort auf die Barbarei des Terrors ist die Professionalisierung und Kommerzialisierung des Terrors. Man kann nun nicht nur die Mittel zum Terror, man kann auch ausführende Subjekte des Terrors kaufen. So stehen womöglich die Terroristen einer alten Religion (einer alten Reichsidee, einer alten Weltordnung) den Terroristinnen einer neuen Religion (von Geld, Ansehen und Effizienz) gegenüber. Das wird umso deutlicher, wenn man betrachtet, wie weit der «Krieg gegen den Terror» bereits privatisiert ist, outgesourct und als Joint Venture mit diversen Unternehmungen und «Ortskräften» durchgeführt, die den Terror zum Geschäftsmodell gemacht haben. Der Preis für die Professionalisierung des Terrors ist seine Entmythologisierung. Die professionelle Terroristin muss unsichtbar bleiben. Sie soll nicht sterben bei ihrer Tat, aber dadurch wird sie auch nicht, wie der «klassische» Terrorist, unsterblich. Die professionelle Antiterroristin ist in vielem ihrem Gegenüber gleich. Nach dem offensichtlich und unabdingbar verlorenen offenen Krieg gegen den Terror geht der geheime Krieg von Terror und Antiterror in die nächste Phase über. Auch davon produziert unsere Mythologie bereits fleissig ihre Bilder. Dieser Krieg ist nicht entschieden: Das Kapital, das aus Terror Ware und Dienstleistung macht, gegen die Kräfte, die aus Terror Kapital schlagen.

Mit der WOZ Nr. 37/2021 erscheint am 16. September 2021 ein «wobei» zu den Folgen von 9/11 .

Politik und Pop

Georg Seesslen (73) ist Autor, Dozent und Semiologe. Er publiziert thematisch breit zu Kino, Popkultur und Politik, zuletzt etwa «Der Rechtsruck. Skizzen zu einer Theorie des politischen Kulturwandels» (mit Markus Metz; Bertz und Fischer, Berlin 2018) oder «Coronakontrolle. Nach der Krise, vor der Katastrophe» (Bahoe Books, Wien 2020). Seesslen lebt in Kaufbeuren im Allgäu und in Vendone in Ligurien.