Hans Peter Gansner: Immer wieder bleibt das Herz ein wenig stehen

Nr. 38 –

Wenige Wochen vor seinem Tod ist mit dem Gedichtband «Das gepanzerte Herz» das letzte Werk des Schweizer Schriftstellers Hans Peter Gansner erschienen. Eine längst fällige Würdigung.

Er schreibe «zum Zwecke sozialer Veränderung, und nicht als schöngeistiger Selbstzweck», betonte Hans Peter Gansner. Foto: Peter Pfister

«Sind ihm Zeit, Gesundheit, Durchhaltevermögen und Schaffenskraft während einem oder zwei Jahrzehnten noch gegönnt, wird er auf unser Kollektivbewusstsein, auf unseren helvetischen Selbstfindungsprozess einen ebenso grossen Einfluss ausüben wie Dürrenmatt.» Für einmal hat sich Jean Ziegler geirrt. Doch so unrealistisch hoch er Hans Peter Gansner im Vorwort zu dessen Gedichtband «zeit.gedichte» 1998 in den Himmel hob: Mehr Aufmerksamkeit hätte «HP» Gansner allemal verdient.

Am 1. Mai ist er im Alter von 68 Jahren gestorben (siehe WOZ Nr. 20/2021 ). Er hat ein nicht nur im Umfang beachtenswertes Werk hinterlassen: Romane, Essays, Gedichte, Dramen, Krimis, Hörspiele, Mundarttexte, Übersetzungen. Umso verwunderlicher, wie wenig bekannt er ist – gerade auch in linken Kreisen.

Besuch bei Helen Brügger. Seit dem gemeinsamen ersten Studienjahr 1973 sind sie und Gansner zusammen durch dick und dünn gegangen: als Studierende und AktivistInnen, Theaterkritiker, Gymnasiallehrer und Journalistin in Basel, in den achtziger und neunziger Jahren dann in Genf, sie als Journalistin (unter anderem als Westschweizkorrespondentin der WOZ), er als Autor und Übersetzer – und von 2015 bis zuletzt als freie PublizistInnen in Schaffhausen. Auf dem Tisch stapeln sich Werke ihres Ehepartners. «Nur eine Auswahl», sagt Brügger. Zuoberst sein jüngstes, wie alle seine fünf «Herz»-Gedichtbände im Songdog-Verlag erschienen: «Das gepanzerte Herz».

«tag für tag / stehst du dein herz / trotz wind & wetter / das ist alltagspoesie / vom allerfeinsten …», beginnt das titelgebende Poem. Wer weiss, dass Gansner an einer unheilbaren Herzinsuffizienz litt, mag die abgründige Ironie erahnen. In einem kurzen Nachruf war davon auch in dieser Zeitung zu lesen. Doch so beherzt Andreas Niedermann, sein Verleger, dem Verstorbenen auch nachrief: Für Brügger kamen ob der Kürze des Nachrufs all die dreissig Jahre nochmals hoch, in denen «hpg» ausgerechnet von der WOZ mit keinem Wort mehr bedacht wurde.

Barocker Freigeist

Das ist umso erstaunlicher, als in seinem Werk (etwa im Roman «Die Stunde zwischen Hund und Wolf» von 1991) manches über unterschiedliche Positionen und Widersprüche in der hiesigen Linken zu erfahren wäre – aus der Sicht einer «barocken Persönlichkeit» (so der Theaterregisseur Jean Grädel), die sich ihren Nonkonformismus nie austreiben liess.

Einen ersten Bruch, sagt Brügger, habe es Anfang der achtziger Jahre gegeben. 1981 erschien im Rotpunktverlag «Desperado». Nicht nur, dass der «Roman einer Bewegung» von diversen Achtzigerbewegten als zu bewegungskritisch empfunden wurde; auch in der WOZ gab es Kritik. «Was Gansner sagt, ist höchstwahrscheinlich schon fortschrittlich», schrieb der Rezensent: «Aber wie er’s sagt, beweist, dass auch er der Bewegung in erster Linie zum Zwecke der Kunstproduktion aufgesessen ist.» Worauf Gansner in einem Leserbrief auf den Vorwurf, «dass jemand, der nicht selber aktiv in der Bewegung ist, auch nicht das Recht habe, über die Bewegung zu schreiben», erwiderte: «Ich möchte jedoch für die Autoren das Recht auf Fiktion beanspruchen. Die ‹Kunstproduktion› nämlich geschieht – in meinem Fall zumindest – zum Zwecke sozialer Veränderung, und nicht als schöngeistiger Selbstzweck.»

Weiter Horizont

Als «eine freie, auf Liebe, gegenseitiger Achtung und Gerechtigkeit beruhende Gesellschaft» beschreibt Brügger die Welt, die Gansner anstrebte. Ab den Neunzigern erschienen die meisten seiner Bücher – so auch die Krimis mit Kommissarin Pascale Fontaine – im anarchistischen Berliner Karin-Kramer-Verlag, dann in der Edition Signathur, deren Verleger Bruno Oetterli ihm jahrzehntelang die Treue hielt.

Und unlängst also im Songdog-Verlag «Das gepanzerte Herz» – ein Gedichtband, der in seiner Farbigkeit und Klangvielfalt noch einmal Gansners weiten Horizont öffnet. Florian Vetsch, der die Buchvernissage in St. Gallen organisierte, die wegen Corona erst nach Gansners Tod stattfinden konnte, schreibt zu den «Herz»-Gedichten vom «weiten Verweisungszusammenhang», zu dem François Villon so selbstverständlich zählte wie Gottfried Benn oder die Songs der Beat- und Post-Beat-Ära.

Tatsächlich entwickelt sich das Blättern durch die rund hundert Gedichte zu einem höchst abwechslungsreichen Gang durch verschiedenste Wetterlagen und Themenfelder. Gansners Musikalität und sein vielfältiges Temperament spiegeln sich auch in den Termini, mit denen er einzelne Gedichtgruppen beschriftet: andante allegro, adagio sostenuto, allegro furioso, scherzo, con tremolo. Und immer wieder, nur kurz, bleibt das Herz ein wenig stehen. Zuweilen lesen sich die Gedichte wie lyrische Prosa. Dann wieder hört man eine Ballade – oder wähnt sich mitten in einem Revolutionsgesang. Nicht alles ist von derselben Virtuosität, da oder dort kann der (wenn auch ironisch gemeinte) machistische Gestus nerven – aber bald darauf wird man mit einem neuen Kleinod beglückt. Oft sind es Zeilen, in denen Gansner wieder zu seinem Hauptmotiv zurückkehrt: dem Herz, das da in all den mehr oder weniger stürmischen Zeiten mitschlug. Nur schon dieser lakonische Satz aus dem Gedicht «Pflichten»: «Was ein Herz / heutzutage / alles leisten muss».

Ältere Werke gibt es im Antiquariat Bodanbooks in Dozwil, bodanbooks@yahoo.de.

Gedenkveranstaltung: Samstag, 2. Oktober 2021, 19 Uhr, Stadtbibliothek Schaffhausen.

Hans Peter Gansner: Das gepanzerte Herz. Songdog Verlag. Bern/Wien 2021. 140 Seiten. 20 Franken