Dänemark auf Abwegen: Mit Ghettos, Stacheldraht und viel Zynismus

Nr. 41 –

Die dänische Regierungschefin Mette Frederiksen verfolgt eine «Null-Flüchtlinge-Politik». Wie es dazu kam, dass die dänischen Sozialdemokrat:innen derart weit nach rechts aussen rückten – und warum der Kurs bei den Schwesterparteien im Norden auf Unverständnis stösst.

Mette Frederiksen hält eine Flasche Bier in der Hand und lässt sich ein Wurstbrötchen schmecken, von dem Ketchup zu Boden tropft. Zu ihren Füssen kniet eine ältere Frau mit Kopftuch, die den von der Regierungschefin hinterlassenen Müll beseitigt. «Ist an der Zeit, dass du dich ein wenig nützlich machst», sagt Frederiksen zu ihr. Mit dieser Karikatur kommentierte Dänemarks liberale Tageszeitung «Politiken» Anfang September auf ihrer Titelseite eine neue «Reform» der Regierung in Kopenhagen.

Mit dieser soll eine «Arbeitspflicht» eingeführt werden, die in Frederiksens eigenen Worten «speziell auf nichtwestliche Einwandererfrauen» zielt. Wenn diese über längere Zeit Arbeitslosenunterstützung bezogen haben oder neu nach Dänemark kommen, sollen sie verpflichtet werden, 37 Stunden pro Woche «für die Gesellschaft nützliche Arbeiten» zu verrichten. Was Wirtschaftsminister Peter Hummelgaard an Beispielen präzisierte: «Am Strand oder im Park Zigarettenkippen oder Plastikabfall aufsammeln.» Es gehe darum, «die Versorgungsmentalität durch Arbeitslogik zu ersetzen». Bei einer Weigerung sollen Geldleistungen gestrichen werden.

Kritiker:innen erwarten von einer «Arbeitspflicht» weder einen positiven Beschäftigungs- noch einen Integrationseffekt. Sie warnen, die Situation der betroffenen Frauen könne sich eher verschlechtern, weil sie sich diskriminiert, gestresst und bestraft fühlten. Politiker:innen rechtspopulistischer Parteien in anderen Ländern griffen die Idee begeistert auf. Von einem «absolut vernünftigen Vorschlag» sprach Jimmie Akesson, Vorsitzender der Schwedendemokraten. Georg Pazderski, Vorsitzender der AfD-Fraktion im Berliner Abgeordnetenhaus, forderte ebenfalls, Migrant:innen zur Säuberung «dreckiger und verwilderter Orte» einzusetzen. In der «Bild»-Zeitung zeigten auch mehrere CDU-Politiker Sympathie für den dänischen Vorstoss.

Katalog der Grausamkeiten

Mittlerweile ist es nichts Besonderes mehr, dass Dänemarks regierende Sozialdemokrat:innen für ihre Migrationspolitik Applaus von rechts aussen erhalten. Im Januar bekräftigte Ministerpräsidentin Frederiksen, die auch Parteivorsitzende ist, in einer Parlamentsdebatte das Ziel ihrer Partei und der Regierung: Sie wolle eine «Null-Flüchtlinge-Politik».

Bereits als Oppositionspartei hatten die Sozialdemokrat:innen von 2015 bis 2019 im Prinzip alle Verschärfungen der Flüchtlings- und der Ausländerpolitik der rechtsliberalen Regierung mitgetragen. So beispielsweise das «Ghettogesetz», mit dem man für städtische Wohnviertel mit einem hohen Anteil an Migrant:innen ausgerechnet den Begriff «Ghetto» einführte und die Strafen für mögliche kriminelle Handlungen von Einwohner:innen dieser Stadtteile verdoppeln wollte. Oder das «Schmuckgesetz», aufgrund dessen syrische Flüchtlinge bei der Einreise durchsucht wurden, um mit Geld oder Wertgegenständen ihren Aufenthalt in Dänemark mitzufinanzieren – was manche Medien Parallelen zur Nazizeit ziehen liess.

Auf dem Weg zur Nullvision ist Dänemark schon ein gutes Stück vorangekommen. Zwischen 2017 und 2019 nahm das Land keinen einzigen «Quotenflüchtling» aus Uno-Flüchtlingslagern auf. 2020 waren es 30 statt der von der Uno dringend erbetenen 500. Nur noch rund 1500 Geflüchtete haben 2020 einen Asylantrag in Dänemark gestellt, 600 wurden anerkannt, die niedrigste Zahl seit 1992. Die Sozialdemokrat:innen stünden mit den schon verwirklichten und noch geplanten Massnahmen für die einschneidendsten Änderungen der dänischen Flüchtlingspolitik seit 1951, sagt Martin Lemberg-Pedersen, Dänemarks führender Experte für europäische Asyl- und Migrationspolitik.

Damit möglichst gar keine Asylsuchenden mehr ins Land kommen, soll der gesamte Asylprozess in Länder ausserhalb der EU ausgelagert werden. Die Regierung ist derzeit vor allem in Afrika auf der Suche nach «willigen» Ländern, die bereit sind, für Dänemark Flüchtlingslager einzurichten. Dabei scheint Kopenhagen keine Skrupel zu kennen, mit welchen Regimes man zusammenarbeitet. Mit Ruanda, Äthiopien und Marokko wurde bereits verhandelt.

Viele Jurist:innen halten den Plan für unvereinbar sowohl mit der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch mit der Genfer Flüchtlingskonvention. Anfang August verurteilte die Afrikanische Union den Versuch, die Grenzen Dänemarks nach Afrika auszuweiten, als «völlig inakzeptabel». Die dänische Idee sei ein «Ausdruck von Fremdenfeindlichkeit». Doch Migrationsminister Mattias Tesfaye verteidigte die Pläne und versuchte zynisch, sie als Humanismus zu verkaufen: «Wir wollen doch nur, dass die Flüchtlinge die gefährliche Reise über das Mittelmeer gar nicht erst antreten.»

Als erstes europäisches Land stufte Dänemark auch Teile Syriens, darunter die Hauptstadt Damaskus, als «sicheres Rückkehrland» ein. Geflüchtete aus Syrien, denen man sowieso nur einen zeitweiligen Aufenthaltsstatus eingeräumt hatte, sollen so schnell wie möglich wieder abgeschoben werden.

Nimmt man die Umfragewerte zum Massstab, scheint Dänemarks Sozialdemokratie mit ihrem migrationspolitischen Rechtsruck alles richtig zu machen. Mit rund dreissig Prozent liegt sie auf einem seit 1998 nicht mehr erreichten Niveau. Die meisten europäischen Schwesterparteien können von solchen Werten derzeit nur träumen. Haben die dänischen Genoss:innen ein Rezept gefunden, das sich die anderen zum Vorbild nehmen sollten?

Blockbildung als Ursache

Die dänischen «Socialdemokraterne» haben die Dreissigprozenthürde erstmals 1920 genommen und im 20. Jahrhundert selten unterschritten. In ganz Nordeuropa war es die Arbeiter:innenbewegung gewesen, die die Wohlfahrtsstaaten aufbaute. Die Sozialdemokratie dominierte die Politik dieser Länder. In Dänemark begann die Erosion der Sozialdemokratie Ende der 1990er Jahre. Und sie fiel zeitlich mit dem Aufstieg der Dansk Folkeparti (Dänische Volkspartei, DF) zusammen, der ersten rechtspopulistischen Partei Europas, deren Programm und Rhetorik den Widerstand gegen Einwanderung mit einer Verteidigung der Errungenschaften des Wohlfahrtsstaats  – aber eben nur für Dän:innen  – kombinierten.

Die Partei konnte angesichts der parlamentarischen Situation, die in Dänemark seit der Jahrtausendwende herrschte, entscheidenden politischen Einfluss gewinnen. Politik wird in Dänemark traditionell in Blöcken gedacht. Mit dem Auftauchen der DF, mit der keine andere Partei eine formelle Koalition eingehen wollte, gab es im Parlament weder für den «roten» noch für den rechten, «blauen» Block eine Mehrheit. Die drei konservativ-rechtsliberalen Minderheitsregierungen, die das Land zwischen 2001 und 2011 regierten, stützten sich auf die rechtspopulistische Partei als parlamentarische Mehrheitsbeschafferin. Sie waren dafür bereit, ihre Stimmen mit immer neuen ausländerrechtlichen Verschärfungen und sozialpolitischen Einschränkungen für Migrant:innen zu erkaufen. Die Folge: Das einst relativ liberale Dänemark hatte 2011 das restriktivste Ausländerrecht in der Europäischen Union.

Der Rechtskurs sei endlich vorbei, das «anständige» Dänemark habe wieder eine Chance, lautete die Einschätzung vieler Medien, als nach der Parlamentswahl von 2011 die Sozialdemokratin Helle Thorning-Schmidt erste Ministerpräsidentin des Landes wurde. Es kam anders. Eine konzeptlose und chaotische Politik und eine von Skandalen und ständigen Regierungsumbildungen geprägte Legislaturperiode trugen dazu bei, dass die Sozialdemokrat:innen schon nach vier Jahren die Regierungsmacht wieder verloren. Die Wahl vom Frühjahr 2015 brachte ein Schockresultat: Die Dänische Volkspartei verdoppelte ihr Ergebnis auf 21 Prozent und wurde zweitstärkste Partei des Landes.

Gesellschaftswissenschaftler:innen bieten zwei Erklärungen an, warum die DF auch viele sozialdemokratische Stammwähler:innen anzulocken vermochte. Die erste besagt, dass es den Rechtspopulist:innen gelungen war, deren Unzufriedenheit aufzugreifen und die Zuwanderung zur grössten Gefahr für den Sozialstaat aufzubauschen. Die zweite, dass der Verlust der Sozialdemokrat:innen ein Resultat ihres neoliberalen Kurses ist, den sie ähnlich wie die anderen sozialdemokratischen Parteien im Norden zunehmend eingeschlagen hatten.

Die Parteiführung der dänischen Sozialdemokratie zog jedenfalls den Schluss, sie müsse die Rechtspopulist:innen nicht nur kopieren, sondern sie übertrumpfen. Ein innerhalb der Partei durchaus umstrittener Kurs, der seinen programmatischen Ausdruck 2018 in einem «Plan für eine faire und realistische Ausländerpolitik» fand. Darin heisst es einleitend: «Leider gibt es zu viele, die nach Dänemark gekommen sind, ohne ein Teil von Dänemark zu werden. Diese Entwicklung muss umgekehrt werden.»

Die Parlamentswahl von 2019 wurde dann angesichts des alles überschattenden Themas der Erderwärmung eine «Klimawahl». Migrationsfragen spielten keine Rolle. Die Dänische Volkspartei stürzte auch wegen interner Skandale mit 8,7 Prozent auf ihr schlechtestes Ergebnis seit zwei Jahrzehnten ab. Die Sozialdemokrat:innen schrumpften ebenfalls weiter, kamen aber dank parlamentarischer Unterstützung durch drei gestärkte links-grüne Parteien trotzdem wieder an die Regierung. Und sie zogen verhängnisvolle Schlussfolgerungen.

«Die Katastrophenwahl für die Rechtspopulisten verstanden sie als Sieg für ihre eigene konfrontative Integrationspolitik, und sie sehen sich nun als legitime Erben des Gedankenguts dieses zusammengebrochenen Rechtsextremismus», analysierte der Schriftsteller und Journalist Carsten Jensen. Die «Socialdemokraterne» präsentierten sich jetzt als Verteidiger:innen eines Wohlfahrtsstaats, dessen immanenter Bestandteil «eine Nulltoleranz gegenüber der Migration» sein soll.

Vorbild Ungarn

Kritik gab es auch von den Schwesterparteien aus den anderen nordischen Ländern. «Bornierter und engstirniger geht es nicht. Dazu Heuchelei am Fliessband und ein Verstoss gegen fundamentale sozialdemokratische Werte», urteilte Jan Egeland. Der frühere sozialdemokratische Vizeaussenminister von Norwegen leitet heute die Flüchtlingshilfe im Land. «Um kurzfristiger politischer Gewinne willen» betrieben Dänemarks Sozialdemokrat:innen «grenzenlosen Populismus». Es drohe ein Dominoeffekt: Das Beispiel Dänemark lasse den Druck einer migrationsfeindlichen Opposition auch in den Ländern wachsen, «die noch versuchen, für internationale Ideale einzustehen und ihre Grenzen möglichst offen zu halten». Man müsse Dänemark an den Pranger stellen, so ähnlich, wie man das in der Vergangenheit mit Ungarn gemacht habe.

Migrationsminister Mattias Tesfaye, der selbst Sohn eines eritreischen Geflüchteten ist und sich zum Hardliner in der dänischen Regierung entwickelt hat, spricht mittlerweile tatsächlich von Ungarn als einem Vorbild. Es sei falsch gewesen, Ungarn wegen des Grenzzauns zu kritisieren, den Viktor Orban 2015 an der Grenze zu Serbien hatte errichten lassen, erklärte der Migrationsminister Ende August im dänischen Fernsehsender TV2: «Mauern sind ein Teil der Lösung.» Die dänische Regierung sei «für starke Grenzen», sie werde deshalb anderen Ländern helfen, Mauern zu bauen, und habe bereits Stacheldraht nach Litauen geschickt, damit es seine Grenze zu Belarus besser schützen könne: «Däne mark muss sich für die Migration interessieren, bevor sie an der deutsch-dänischen Grenze steht.»

Der norwegische Politiker und Diplomat Jan Egeland sieht in Dänemark nur noch ein «Schreckensbeispiel». Auch führende sozialdemokratische Politiker:innen aus Deutschland, Spanien, Portugal und Italien haben den Gedanken weit von sich gewiesen, Dänemark könne ein Vorbild sein. Das Land handle unsolidarisch, man brauche gemeinsame und keine nationalen Lösungen, erklärte Boris Pistorius, sozialdemokratischer Innenminister in Niedersachsen. Man könne «doch nicht die DNA der deutschen Sozialdemokraten für einen Wahlerfolg hergeben». Der Journalist und Schriftsteller Carsten Jensen meint, Dänemark stehe für eine Zukunft, in der sich die EU in «völliger Auflösung befinde, und ein isolationistisches, zersplittertes Europa jegliche politische Bedeutung verloren hat».