Bundesasylzentren: Grundsatzkritik am System

Nr. 42 –

Nach Recherchen von WOZ und «Rundschau» über Gewaltvorfälle in Bundesasylzentren kündigte das Staatssekretariat für Migration eine externe Untersuchung an. Nun liegt der Bericht vor. Er benennt gravierende Mängel im bestehenden Sicherheitsregime.

Diplomatisch verpackt, politisch brisant: Altbundesrichter Niklaus Oberholzer an der Medienkonferenz in Bern. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Während fünf Monaten hat Altbundesrichter Niklaus Oberholzer Gewaltvorfälle in den Bundesasylzentren untersucht; am vergangenen Montag präsentierte er in Bern vor den Medien seinen hundertseitigen Bericht. Mit ihm im Medienzentrum sassen Mario Gattiker, Chef des Staatssekretariats für Migration (SEM), und dessen Kommunikationschef. «Es gibt keine Hinweise auf eine systematische Missachtung der Rechte von Asylsuchenden», resümierte Gattiker. «Die Grund- und Menschenrechte der Asylsuchenden werden grundsätzlich eingehalten.» Der Staatssekretär war sichtlich darum bemüht, den Bericht wie eine Entlastung aussehen zu lassen. Doch das ist er mitnichten.

Massgeblicher Auslöser der Untersuchung war eine gemeinsame Recherche der WOZ und der SRF-«Rundschau» vom Mai dieses Jahres (siehe WOZ Nr. 18/2021 ). Diese förderte eine Reihe von Gewaltvorfällen in Bundesasylzentren zutage. Zuvor hatten bereits verschiedene Organisationen Kritik am Sicherheitsregime in den Bundesasylzentren geübt.

Überforderte Sicherheitskräfte

Die Untersuchung von Altbundesrichter Oberholzer bestätigt auf den ersten fünfzig Seiten die Vorwürfe und Tathergänge, wie sie die WOZ rekonstruiert hatte. Für seinen Bericht untersuchte er sieben Gewaltvorfälle. Die Erkenntnis in Kürze: In drei der untersuchten Fälle stellte Oberholzer unverhältnismässige und rechtswidrige Gewaltanwendung fest, in einem Fall war das Vorgehen der Sicherheitskräfte zumindest zweifelhaft. Insgesamt, so Oberholzer, lasse sich aber kein klares Muster erkennen, das auf eine «systematische Missachtung der Rechte von Asylsuchenden» hindeuten könnte. Diesen Vorwurf hatte zuvor die Menschenrechtsorganisation Amnesty International erhoben.

Politisch brisant ist der zweite Teil des Berichts. Diplomatisch verpackt in insgesamt zwölf Empfehlungen übt Oberholzer fundamentale Kritik am bestehenden Sicherheitsregime in den Bundesasylzentren und fordert das SEM zum Handeln auf. Als zentralstes Problem betrachtet er die Auslagerung der Sicherheitsaufgaben an private Sicherheitsfirmen: «Ich empfehle dem SEM, das System der Ausgliederung des Sicherheitsregimes an private Dienstleister zu überdenken.»

Die untersuchten Einzelfälle haben aus Oberholzers Sicht eine Gemeinsamkeit: die Überforderung der verantwortlichen Sicherheitskräfte. Diese durchlaufen in der Regel eine Ausbildung von nur wenigen Tagen. Das sei «unzulässig» für die Arbeit in einem derart sensiblen Bereich wie einem Bundesasylzentrum. Oberholzer fordert, die Ausbildung von Sicherheitskräften sollte mindestens gleichwertig sein wie diejenige von Vollzugsangestellten, die fünfzehn Wochen dauert. Dafür solle das SEM die Aus- und Weiterbildung der Sicherheitskräfte selber an die Hand nehmen: «Wenn es beim heutigen System der vollständigen Auslagerung an private Sicherheitsfirmen bleiben sollte, wäre das aus meiner Sicht zwingend.» Bereits Anfang Jahr hatte die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) empfohlen, das Sicherheitspersonal besser für den Einsatz in Asylzentren auszubilden und Asylsuchende so besser vor Gewalt zu schützen.

Fehlende Rechtsgrundlagen

Oberholzer geht einen Schritt weiter und schlägt vor, das SEM solle die Auslagerung an private Sicherheitsfirmen teilweise rückgängig machen und Schlüsselpositionen in den Bundesasylzentren mit Angestellten des Bundes oder der Kantone besetzen. «Den Mitarbeitenden von privaten Organisationen verbliebe eine rein unterstützende Funktion.» Als Vorbild könnte die Zürcher Ausnüchterungs- und Betreuungsstelle dienen, wo ein ähnliches System bereits in Kraft ist. Zudem kritisiert Oberholzer verschiedene weitere Praktiken, die in den Bundesasylzentren an der Tagesordnung sind: etwa das vorübergehende Unterbringen von sogenannt auffälligen Asylsuchenden in «Besinnungsräumen» oder die gängige Praxis, dass in Konflikte involvierte Mitarbeiter:innen die Ereignisrapporte im Anschluss selber verfassen. Leibesvisitationen im Eingangsbereich, so seine Empfehlung, sollen nur noch bei konkretem Verdacht erfolgen.

Zudem – und das ist vielleicht die für das SEM beunruhigendste Feststellung – stellt Niklaus Oberholzer die rechtliche Basis für das Vorgehen der Sicherheitskräfte infrage. Es fehle eine «formell-gesetzliche Grundlage für die Disziplinierung von asylsuchenden Personen». Zudem verfügten die Sicherheitskräfte über keine Kompetenzen zur Anwendung von polizeilichem Zwang. Oberholzer fordert das SEM deshalb dazu auf, eine «klare gesetzliche Grundlage» zu schaffen sowie «eine vollständige Überarbeitung des Disziplinarrechts in die Wege zu leiten».

«Wir nehmen das sehr ernst», sagte Mario Gattiker nach der Präsentation des Berichts vor den Medienschaffenden. Das SEM will die vorgeschlagenen Massnahmen möglichst schnell und gründlich prüfen. Gattiker betonte, dass das SEM bereits im vergangenen Jahr erste Verbesserungsmassnahmen getroffen habe: «Wir sind dran.» Er liess aber durchblicken, dass er es für wenig realistisch hält, das gesamte Sicherheitspersonal durch Bundesangestellte zu ersetzen.

Nachtrag vom 7. Juli 2022 : An Katzenhaaren herbeigezogen

Anfang Mai 2021 berichtete die WOZ in einer Korecherche mit der «Rundschau» und RTS über Übergriffe von Sicherheitsangestellten auf Asylsuchende in den Bundesasylzentren in Altstätten SG, Boudry NE und im Bässlergut in Basel-Stadt. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) versuchte, die Recherchen zu verzögern und mit einer medialen Gegenkampagne kurz vor der Veröffentlichung zu diskreditieren. Angeblich hätten Linksradikale eine im Bässlergut beschäftigte SEM-Mitarbeiterin brutal bedroht. «Linker Mob macht Jagd auf Asyl-Betreuerin», schrieb der «Blick» daraufhin. Und weiter: «Privatadresse veröffentlicht, Katze gequält, Bremsventil manipuliert».

Und nun, ein gutes Jahr später? Derweil eine externe Untersuchung die Tathergänge, wie sie WOZ und SRF rekonstruiert hatten, im vergangenen Oktober bestätigte und in drei Fällen rechtswidrige Gewaltanwendung feststellte, verlieren die Schuldzuweisungen des SEM zunehmend an Glaubwürdigkeit. Zu diesem Schluss kommt ein letzte Woche veröffentlichter Artikel der «Republik».

Polizeidokumente würden erhebliche Zweifel an den Darstellungen der Bundesbehörde wecken. So an der Behauptung, dass der Katze der besagten Mitarbeiterin «bei lebendigem Leib teilweise das Fell abgezogen» worden sei. Dazu hielt die Kantonspolizei Solothurn in einem Bericht fest: «Damit man sie (die Katze) operieren konnte, musste man natürlich vorher die entsprechende Stelle an ihrem Körper rasieren. Der Tierärztin und der Familie war jedoch bekannt, dass dies erst in der Klinik passiert und nicht durch die unbekannte Täterschaft zugefügt wurde.» Grund für die OP war eine von einem Streifzug mitgebrachte Schwanzverletzung ungeklärter Ursache.

Auf die Frage der «Republik», wie das SEM dazu gekommen sei, derart an den Haaren herbeigezogene Geschichten zu verbreiten, schwieg das SEM. Im März wurde das Strafverfahren der Bundesanwaltschaft gegen die Hauptverdächtige eingestellt und das Verfahren gegen unbekannt sistiert.

Adrian Riklin