Italien: In Riace ist wieder Stille eingekehrt

Nr. 45 –

Einst war das kalabrische Dorf Riace in der ganzen Welt bekannt für seine offene Politik gegenüber Geflüchteten. Seit der Verhaftung des ehemaligen Bürgermeisters herrscht Katerstimmung.

Mittlerweile sind die Pforten zur Welt wieder geschlossen: Exbürgermeister Domenico Lucano (links) mit Geflüchteten 2019 in Riace. Foto: Alessandro Serranò, AGF

Es ist nicht einfach dieser Tage, mit Domenico Lucano zu sprechen. Sein Handy funktioniert oft nicht richtig, Geld für ein neues hat er keines. Dies, obwohl der ehemalige Bürgermeister des kleinen kalabrischen Dorfes Riace gemäss der Zeitschrift «Fortune» zu den wichtigsten Führungsfiguren der Welt zählt. Doch in Kalabrien, der ärmsten Region Italiens, gelten andere Spielregeln. Der 63-Jährige, den hier alle Mimmo nennen, musste sich Ende September vor einem Gericht in Locri verantworten, das sonst für seine Prozesse gegen Bosse der kalabrischen Mafia ‘Ndrangheta bekannt ist. Dreizehn Jahre Haft wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder und Beihilfe zur illegalen Migration, lautete schliesslich das Urteil, gegen das Lucano Berufung einlegen will.

An diesem Tag beginnt 350 Kilometer westlich von Riace in Palermo ein anderer Prozess. Vor Gericht steht der ehemalige italienische Innenminister Matteo Salvini. Dem Lega-Politiker wird wegen der Blockade eines Rettungsschiffs Freiheitsberaubung und Amtsmissbrauch vorgeworfen. Bei einer Verurteilung drohen ihm bis zu fünfzehn Jahre Haft. Wer glaubt, Lucano könnte sich darüber freuen, dass sein ehemaliger Widersacher vor Gericht steht, liegt falsch. Mimmo sieht niedergeschlagen aus. Er sitzt auf einer Treppe vor der Taverna Donna Rosa und sagt, dass er nicht in der WOZ zitiert werden möchte.

Mehrere Bars und Geschäfte im Zentrum von Riace sind an diesem Samstagvormittag geschlossen. Auf der Via Roma, die von der Piazza ins Dorf hinabführt, sind nur wenige Passant:innen unterwegs. Dass in Riace in den letzten zwei Jahrzehnten mehr los war als in der Gegenwart, davon erzählen zahlreiche Graffiti im oberen Teil des 2100 Einwohner:innen zählenden Dorfes. Wie viele andere kalabrische Gemeinden leidet auch Riace seit mehreren Jahrzehnten unter der Abwanderung der lokalen Bevölkerung. Doch im Gegensatz zu anderen Orten, die mit Geldprämien versuchen, neue Einwohner:innen zu gewinnen, hatte Riace seine Pforten zur Welt geöffnet. Von 1998 bis 2018 lief in dem Dorf, das in einen Teil am Berg und in einen am Meer geteilt ist, ein einzigartiges gesellschaftliches Experiment.

Die kalabrische Journalistin Tiziana Barillà, die sich wie kaum jemand anders mit Riace und seinem von 2004 bis 2018 amtierenden Bürgermeister auseinandergesetzt hat, erzählt: «Als 1998 kurdische Geflüchtete mit dem Boot am Strand von Riace ankamen, gab es noch überhaupt keine Aufnahmestrukturen in Italien. Und Riace war ein Geisterdorf.» Also habe Domenico Lucano, damals noch Lehrer, zum Telefon gegriffen und die aus Riace ins Ausland emigrierten Menschen gefragt, ob er ihre leer stehenden und maroden Häuser benutzen dürfe. Über die Jahre hinweg entwickelte er mit seinem Verein «Città Futura» (Zukunftsstadt) ein Projekt, das Hunderten Geflüchteten im kleinen Riace eine Perspektive gab und gleichzeitig das Dorf wiederbelebte.

Doch die Euphorie ist verflogen, über Riace liegt eine spürbare Anspannung. An der Theke der Bar Gervasi stehen ein Gast vor seinem Bier und der Barmann, der Geschirr abwäscht. Auf die Frage, was er vom Urteil gegen Domenico Lucano halte, reagiert er gereizt: «Sie sehen, dass ich viel Arbeit zu erledigen habe.» Inzwischen haben die Riacesi einen Politiker der rechtsnationalen Lega zum Bürgermeister gewählt. Eine Folge der von Salvini gegen Lucano geführten Hetzkampagne, wie eine Freundin von Lucano meint.

Lucano wurde 2018 unter Hausarrest gestellt und als Bürgermeister entlassen, zwischenzeitlich musste er Riace gar verlassen (siehe WOZ Nr. 41/2018 ). Lucanos Wohnung sei von Journalist:innen belagert worden, ein Reporter sei gar aufs Dach geklettert, um Fotos vom Innern des Hauses zu machen, erinnert sich Barillà. «Sie stilisierten Domenico zum Kontrahenten Matteo Salvinis hoch.» Das Dorf sei als Schlachtfeld inszeniert worden. Eine Schlacht, die der ehemalige Bürgermeister verlor: Das «Modell Riace» wurde 2018 wegen des Haftbefehls gegen Lucano zwangsweise beendet, viele Geflüchtete mussten Riace wieder verlassen.

Mafia und Rigatoni

Auch wenn das «Modell Riace» in Riace selbst vorbei ist, haben doch einige kalabrische Gemeinden wie Caulonia oder Gioiosa Ionica nach dem Vorbild Lucanos ähnliche Projekte lanciert. Möglich machte dies ein 2009 eingeführtes Gesetz in Kalabrien, das die Aufnahme von Geflüchteten im Zusammenhang mit der kulturellen und sozialen Wiederbelebung der Dörfer fördert. Doch um zu verstehen, welche gesellschaftlichen Gegebenheiten dem «Modell Riace» seine Sprengkraft verleihen, hilft eine Fahrt ins Landesinnere.

Es holpert, wenn man durch Kalabrien fährt. Die Strassen sind marode, viele Baustellen zieren die wichtigste Verkehrsachse des Südens, die A2 Salerno–Reggio Calabria, an der seit 1962 gebaut wird und die immer noch nicht ganz fertig ist. Über 25 Milliarden Euro wurden insgesamt in den Bau investiert – ein Sechstel des Jahresumsatzes der ‘Ndrangheta. Bei der Fahrt von Riace in Richtung Tyrrhenisches Meer auf der nordwestlichen Seite Kalabriens säumen etliche Bauruinen die Strassen, durchsetzt mit Unkraut. Wohnhäuser, Kirchtürme, Parkhäuser – viele Gebäude stehen seit Jahrzehnten in Baugerüsten.

Die zentralsten Gründe: Die ‘Ndrangheta vergibt Bauaufträge, erpresst Unternehmen und zieht Schutzgeld ein, kontrolliert Betonfirmen und liefert schlechten Zement. Je länger Bauarbeiten dauern, desto länger kann die Mafia Einfluss ausüben. Dann ist da die Abwesenheit des Staates in Süditalien. Die Regierung schafft es nicht, eine bessere Arbeits- und Auftraggeberin als die ‘Ndrangheta zu sein. Die Jugendarbeitslosigkeit in Kalabrien beträgt um die fünfzig Prozent, die Bevölkerungszahl nahm zwischen 2014 und 2019 um 100 000 Menschen ab. Zudem spürt Kalabrien den Klimawandel in voller Härte: Die mediterranen Hitzewellen in diesem Sommer führten zu Rekordtemperaturen und Waldbränden, Dürreperioden nehmen zu und werden länger. Zwischen den malerischen Orangenplantagen sieht man viel verbrannte Erde.

Bedroht ist auch der Nationalpark Aspromonte im Landesinneren, sechzig Kilometer von Riace entfernt. Er beginnt am Hang des Berges, wo das Dorf San Giorgio Morgeto liegt. 3000 Einwohner:innen leben noch im Dorf, das etwas grösser ist als Riace und sich mit denselben Problemen konfrontiert sieht. Der Unterschied: San Giorgio Morgeto hat das «Modell Riace» nicht angewandt. Während in Riace immer noch etwa hundert Geflüchtete leben, lassen sich die Zugezogenen hier an einer Hand abzählen: zwei Senegales:innen und eine pakistanische Familie, erzählen mehrere Sangiorgesi auf Nachfrage.

Dabei hat es auch hier viel Platz: Jede Familie, die geht, hinterlässt ein leeres Haus. Doch diejenigen, die belebt sind, sprühen vor Gastfreundschaft. Bei einem Abendessen wird für die Gäste aus der Schweiz gross aufgetischt. Bruschette, Rigatoni, Arancini, Cotolette, Birra, Caffè. «Mangia!», ruft es aus der Küche. Am Esstisch wird diskutiert, während im Hintergrund der Fernseher läuft. Angesprochen auf Domenico Lucano, fallen auch kritische Worte. Man wisse nicht, ob er sich nicht doch bereichert habe, sagt etwa jemand am Tisch. Dass in der kalabrischen Lokalpolitik Selbstbereicherung und Korruption keine Seltenheit sind, trägt zum schlechten Ansehen von Politiker:innen bei.

Von San Giorgio nach Olten

Einer, der weiss, wie das Leben im Ort funktioniert, ist der ehemalige Dorfpolizist von San Giorgio, Rinaldo De Maria. «Das Problem sind nicht die Menschen, sondern die Institutionen», sagt der Pensionär beim Gespräch in seinem zweiten Haus am Hang des Dorfes, wo er sich heute der Malerei widmet. «San Giorgio Morgeto wird in wenigen Jahrzehnten wegen des Bevölkerungsrückgangs ausgestorben sein.» Während er den weiten Ausblick über die Campagna bis hin zum Tyrrhenischen Meer zeigt, spricht er über die Gastfreundschaft seiner Heimat. Denn: Die Sangiorgesi wüssten selbst am besten, was es bedeutet, von zu Hause weggehen zu müssen.

San Giorgio Morgeto ist die vielleicht kleinste Weltstadt überhaupt, die Sangiorgesi leben auf der ganzen Welt verstreut. Jede:r im Dorf kennt mindestens eine Person in Kanada, Belgien, Norditalien, Frankreich oder der Schweiz. Einer, Mauricio Macri, hat es sogar zum argentinischen Präsidenten geschafft. Seit der Massenauswanderung in den 1950er und den 1960er Jahren leben viele Emigrant:innen aus San Giorgio vor allem in Olten, zuerst als Gastarbeiter:innen, dann als Besitzer:innen von Restaurants oder Gründer:innen des bekanntesten Nachtclubs der Stadt, des «Terminus». Der erste sangiorgesische Emigrant in Olten sei sein Grossonkel gewesen, sagt De Maria. Er habe dort 1920 ein Obstgeschäft eröffnet und andere dazu motiviert, seinem Beispiel zu folgen und nach Norden zu ziehen. «Heute bestehen immer noch ähnliche Bedingungen, die junge Menschen zwingen, in die Schweiz, nach Norditalien und in andere Teile der Welt auszuwandern», sagt De Maria, der selbst einmal für ein paar Jahre in Olten lebte.

Gerade deshalb müsse man Domenico Lucano aus Riace applaudieren, obschon er milde Straftaten begangen habe, meint De Maria. «Es wäre ein grosses Glück für uns, wenn in San Giorgio ebenfalls das umgesetzt würde, was in Riace passiert ist», sagt er und verweist auch auf die wirtschaftliche Dynamik, die damit angestossen werden könnte. «Wenn Familien und Kinder von ausserhalb hierherkommen und leben würden, könnten neue Geschäfte eröffnet und Arbeitsplätze geschaffen werden.»

Traumberuf Polizistin in San Giorgio

Die dreizehnjährige Kashaf möchte irgendwann genau wie Rinaldo De Maria Carabiniere in San Giorgio werden. Zusammen mit ihren Eltern und zwei Geschwistern lebt sie in einer Wohnung in der einzigen Häuserzeile im Dorf, die mit Bauplanen bedeckt ist. Die pakistanische Familie muss bald gehen, weil die Kommune das Haus umbauen will. Wohin, wissen sie nicht.

Kashaf sitzt nach vorne gelehnt und übersetzt sorgfältig die Worte ihrer Mutter. Ihr Mann sei bereits vor neun Jahren vor den Taliban nach Italien geflüchtet und seither von Region zu Region weitergeschoben worden. Seit nun vier Jahren ist die ganze Familie in San Giorgio, wobei sie bisher weder im Ionischen Meer schwimmen waren noch das tausendjährige Castello über San Giorgio gesehen hätten.

Im «Globalen Dorf» in Riace leben heute nur noch etwa hundert Geflüchtete. Foto: Simon Muster

«In Pakistan haben wir keine Verwandten mehr», erzählt der Vater, der inzwischen auch nach Hause gekommen ist. Und während er mit seinen Fingern eine Pistole formt, übersetzt Kashaf ruhig weiter. «Das Leben ist hart. Es gibt keinen Bus weg von hier, wir haben kein Auto und keine Arbeit.» Die Familie hält sich mit den Gelegenheitsjobs des Vaters über Wasser: Orangen pflücken, Kartoffeln ernten, Häuser putzen. Eines betont die Mutter aber während des ganzen Gesprächs: «Alles wäre einfacher, wenn wir endlich ein Haus hätten, in dem wir auch bleiben dürfen.»