Streik in Deutschland: Sie kämpfen, um bleiben zu können

Nr. 45 –

Vor nicht allzu langer Zeit dachten in Deutschland noch viele, ein Spital könne nicht bestreikt werden. In Berlin legten Beschäftigte nun wochenlang den Betrieb weitgehend lahm – und das mit Erfolg. Wie kam es dazu?

An einem verregneten Dienstagmittag Anfang Oktober stehen Hunderte Menschen vor der Volksbühne. Viele haben ihre Regenschirme aufgespannt, während sie auf eine Grossleinwand blicken, die aus dem Innern des Theaters eine Pressekonferenz der «Berliner Krankenhausbewegung» überträgt. Seit knapp einem Monat streiken die Beschäftigten der beiden grossen kommunalen Spitäler Charité und Vivantes, die zusammen die Hälfte aller Spitalbetten im Bundesland Berlin stellen.

Das Ziel ist ein «Tarifvertrag Entlastung», der mehr Personal und wirksame Mittel gegen Überlastung sicherstellt. Zudem soll der in den beiden Häusern geltende «Tarifvertrag für den Öffentlichen Dienst» (TVöD) künftig auch die Beschäftigten aller Tochtergesellschaften von Vivantes, die beispielsweise in der Verpflegung, der Reinigung oder dem Labor arbeiten, umfassen. Seit der Outsourcing-Orgie Anfang der nuller Jahre ist dort ein riesiger Niedriglohnsektor entstanden.

Auf der Leinwand vor der Volksbühne ist Silvia Habekost zu sehen, seit 1988 Krankenpflegerin in Berlin, Gewerkschafterin und Mitglied der Vivantes-Tarifkommission. Ruhig, aber bestimmt erläutert sie den Stand der Verhandlungen. Der Arbeitskampf hat einen kritischen Punkt erreicht: Er dauert länger als erwartet. Die Berliner Abgeordnetenhauswahlen sind gelaufen, die Hoffnung, unter dem Druck des Wahlkampfs noch im September einen Erfolg erringen zu können, hat sich nicht erfüllt. Die Streikenden brauchen Unterstützung.

«Eine harte Auseinandersetzung»

Wenige Tage später ziehen viele Tausend Menschen zum Hauptsitz der SPD, die den nächsten Bundeskanzler und mit Franziska Giffey auch die nächste Berliner Bürgermeisterin stellen wird. Dem Ruf der Krankenhausbewegung sind auch Mietenaktivistinnen, Lehrer und Lieferdienstarbeiter:innen, die selbst gerade streiken, gefolgt. Inzwischen gibt es einen ersten Sieg: Die Charité hat einem «Eckpunktepapier» zugestimmt. Vivantes hingegen mauert nach wie vor, der Streik geht weiter.

Bald darauf wird auch bei Vivantes ein Durchbruch erzielt, noch nicht aber bei den Töchtern: Am längsten werden am Ende jene gestreikt haben, deren Beschäftigungsverhältnisse besonders prekär sind. Doch auch sie erreichen schliesslich ein Eckpunktepapier. Ivo Garbe, Sekretär der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi und Verhandlungsführer für die Vivantes-Töchter, sagt, es sei gelungen, «die Schere der Ungerechtigkeit ein ganzes Stück zu schliessen. Ein erster grosser, wichtiger Schritt.»

Das Ziel – die vollständige Angleichung an den TVöD – sei zwar nicht erreicht worden. Doch gerade die am wenigsten verdienenden Beschäftigten werden grosse Gehaltssprünge machen und teilweise rückwirkend für das laufende Jahr profitieren. Zudem soll der TVöD-Manteltarifvertrag weitgehend übernommen werden. Damit gelten für die Beschäftigten der Töchter «der gleiche Urlaub, die gleiche Arbeitszeit, der gleiche Kündigungsschutz oder die gleichen Regeln bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall wie bei Vivantes», so Garbe.

«Es war schon unerwartet, mit welcher Heftigkeit die Arbeitgeber öffentlicher Krankenhäuser die Streiks und Verhandlungen bekämpft haben – eine sehr harte Auseinandersetzung», resümiert der Gewerkschaftssekretär. Auch Krankenpflegerin Silvia Habekost sagt im Rückblick, es sei härter gewesen als gedacht. Inzwischen ist es Anfang November. Habekost ist sichtlich erholt und gelöst – nach dem Streik war sie erst mal im Urlaub. Die Ergebnisse seien zwar noch nicht in trockenen Tüchern, das Erreichte aber zweifelsohne ein Riesenerfolg. Am Ende habe der Plan der Krankenhausbewegung funktioniert. Aber was war eigentlich der Plan?

Die Grundannahme der bereits organisierten Beschäftigten lautete: Für lebensverändernde Ziele lassen sich Mehrheiten mobilisieren – und Entlastung durch mehr Personal ist lebensverändernd. Wichtig war auch die Erfahrung früherer Streiks. In den letzten Jahren hatten Beschäftigte an Berliner Spitälern, aber auch anderswo in Deutschland, mehrfach die Arbeit niedergelegt. An der Charité etwa war bereits 2015 ein Entlastungstarifvertrag erstritten worden, damals der erste überhaupt. Doch bei der Anwendung wurde schnell klar, dass er noch keine ausreichenden Instrumente zur Vermeidung von Überlastungen bereitstellte. Diese Erkenntnis floss nun in die Forderungen ein.

Ebenfalls aus vergangenen Kämpfen stammt die Erkenntnis, dass die Art der Notdienstvereinbarung wesentlich ist. Weil die Spitalleitungen für Streiktage Notbesetzungen festlegten, die teilweise über der Besetzung an normalen Arbeitstagen lagen, hätten Streiks im Spital früher nicht funktioniert, erklärt Habekost. «Heute streiken wir die Betten leer.» Konkret heisst das: Verdi teile der Geschäftsführung einige Tage im Voraus mit, dass ganze Stationen oder einzelne Betten bestreikt würden, dann liege die Verantwortung bei der Leitung, für die Sicherheit der Patient:innen zu sorgen und Betten nicht neu zu belegen. «Wenn die Betten leer sind, können wir auch keine Patienten gefährden», sagt Habekost.

Während des Berliner Streiks waren rund 1200 Betten gesperrt und über 20 Stationen komplett geschlossen. Doch auch die Geschäftsleitungen wissen, wie wichtig eine solche Vorgehensweise für die Schlagkraft eines Streiks ist. Deshalb weigerten sich Vivantes und Charité, die Notdienstvereinbarungen zu unterschreiben; Verdi hingegen hielt sich daran.

Neu war diesmal, dass Beschäftigte von Vivantes, deren Töchtern und der Charité zusammen einen Arbeitskampf vorbereiteten und ihn auch gemeinsam durchzogen. Dabei nutzten sie die Konzepte der US-Organizing-Ikone Jane McAlevey, deren Buch «Keine halben Sachen» 2019 auf Deutsch erschienen ist. Besonders wichtig: der sogenannte Mehrheitsstreik. Habekost erklärt das so: «Nur durch Mehrheiten kann man auch siegen – das ist das Grundprinzip.» Konkret bedeutete das Aufbauarbeit durch mehrere «Stärketests». Besonders aktive «Teamdelegierte» übernahmen schon Monate vor dem Streik Verantwortung für die Auseinandersetzung und spielten eine wichtige Rolle als Multiplikator:innen. Alle Verdi-Mitglieder an der Charité, bei Vivantes und den Töchtern wurden zu Versammlungen eingeladen, auf denen sie die Kampagne diskutierten. Es folgte eine Petition, bei der es darum ging, die Mehrheit der Beschäftigten für ein gemeinsames Ziel zu gewinnen – mit Erfolg.

Viele neue Gewerkschaftsmitglieder

Die Petition konnte im Mai der Politik übergeben werden – verbunden mit einem hunderttägigen Ultimatum. Danach gingen die Teams in die detaillierte Forderungsfindung: Jeweils mit Mehrheitsentscheid verabschiedeten sie am Ende dieses Prozesses eine auf den jeweiligen Spitalbereich zugeschnittene Forderung. Im dritten Schritt wurde die Streikbereitschaft abgefragt – und bei den Töchtern begannen erste Arbeitsniederlegungen in mehrheitlich organisierten Bereichen. Schliesslich ging es in die Urabstimmung und den unbefristeten Streik. Rund 2200 Personen traten während der Kampagne der Gewerkschaft bei – viele davon auch bei den Töchtern, wo sich die Mitgliederzahlen verdoppelt haben.

Die Teamdelegierten fungierten als Bindeglied zwischen Verhandelnden und Streikenden – und warteten auch während der Verhandlungen selbst teilweise stundenlang vor Ort: Wenn die Tarifkommission Fragen hatte oder sie dazuholen wollte, waren die Delegierten ansprechbar. Zum grossen Ärger der Spitalleitungen verabschiedeten sie die Tarifkommission jeweils lauthals in die Verhandlungen und waren immer noch da, wenn sie wieder rauskam. Jeder Kommissionsbeschluss wurde mit ihnen gemeinsam gefasst.

Es war das erste Mal, dass der Verdi-Vorstand einen solchen Streik genehmigte – doch es wird sicher nicht das einzige Mal bleiben. Denn die Probleme, gegen die die Angestellten in Berlin kämpfen, gibt es überall im Land. Die Folgen zeigen sich in der vierten Coronawelle einmal mehr: Einer aktuellen Umfrage zufolge stehen in drei Vierteln der Spitäler mit Intensivbetten weniger Intensivpfleger:innen zur Verfügung als noch Ende 2020. Die Menschen flüchten aus der Pflege. Die Streikenden haben also auch darum gekämpft, ihren Beruf weiter ausüben zu können. Sie haben gewonnen, um zu bleiben.

Ein wegweisender Etappensieg

Johanna Wenckebach von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung verweist auch auf die feministische Dimension des Berliner Streiks. «Viele Frauen in Care-Berufen erheben sich jetzt», ist sie überzeugt, auch solche, die es bisher noch nicht getan hätten. «Das grosse Thema der Care-Berufe ist ja, dass eine Motivation darin liegt, andere Menschen gut versorgen zu wollen. Sich für Streik zu entscheiden, ist da eine hohe Hürde.» Streik gelte zudem als aufmüpfig, so Wenckebach. «Das ist in allen Branchen so, doch in unserer Gesellschaft ist an Frauen noch stärker als an Männer die Erwartung gerichtet, sich nicht aufmüpfig zu verhalten, besonders dann, wenn ihre Arbeit darin besteht, sich um andere zu kümmern.»

Unter anderem deshalb war in Deutschland lange Zeit die Haltung verbreitet, ein Spital dürfe nicht bestreikt werden, es sei schliesslich keine Fabrik, in der Autos zusammengeschraubt, sondern ein Ort, an dem Menschen versorgt würden. Gerade das, was die oft frauendominierten Berufe so wichtig macht, wurde also gegen die Beschäftigten gerichtet: Angeblich könnten diese nicht für ihre Rechte eintreten, da sie damit die ihnen anvertrauten Menschen gefährdeten.

Genau hier setzten organisierte Beschäftigte schon vor einigen Jahren an. Sie münzten das, was angeblich am Streiken hindere – das Patientenwohl – in ein Argument für ihre Arbeitskämpfe um. Slogans wie «Mehr von uns ist besser für alle» oder «Nicht der Streik gefährdet die Patienten, sondern der Normalzustand» gehören bei Streiks inzwischen zum festen Repertoire.

Die Pandemie hat offenbart, wie zutreffend diese Slogans sind – auch Beschäftigten, die sich bislang nicht getraut haben, die Schwelle zum Streik zu übertreten. Und auch der Öffentlichkeit. «Die Systemrelevanzdebatte hat eine wichtige Rolle gespielt», sagt Johanna Wenckebach. «Durch die zusätzliche Belastung ist bei vielen einfach das Fass übergelaufen. Anderen ist klar geworden, wie gross die Diskrepanz zwischen den Arbeitsbedingungen und der Bedeutung der Berufe ist. Gesellschaftlicher Rückhalt spielt immer eine wichtige Rolle in Tarifauseinandersetzungen – den hat es diesmal gegeben.»

Das sagt auch Silvia Habekost: «Wir haben die Auseinandersetzung nicht nur durch den Streik gewonnen, sondern auch durch die Stimmung in Öffentlichkeit und Medien. Wenn jeden Tag in der Zeitung steht, der Streik gefährde die Patienten, wird es schwer. Aber diesmal gab es kaum negative Berichterstattung.»

Habekost und ihre Kolleg:innen richten nun den Blick auf die Zukunft: Nächstes Jahr ist wieder TVöD-Runde, bei der es unter anderem um Lohn geht; bescheiden werden sie da nicht reingehen. Und in den kommenden Wochen müssen die erkämpften Eckpunktepapiere in Tarifverträge übersetzt werden. Das 2004 eingeführte Fallpauschalen-Finanzierungssystem, das die Probleme in den Spitälern massgeblich verursacht, existiert allerdings fort. «Das gehört abgeschafft, die Gewinnorientierung und der Wettbewerb müssen aufhören», sagt Habekost. Hier sei die Politik gefragt. So betrachtet, hat die Berliner Krankenhausbewegung auch nur einen Etappensieg errungen – allerdings einen wegweisenden.