Alice im Wunderland: Sturz in den Kaninchenbau: Rein, aber richtig!

Nr. 49 –

Wenn es darum geht, wie jemand in Verschwörungstheorien abgleitet, muss neuerdings meist der Kaninchenbau aus «Alice im Wunderland» als Metapher herhalten. Höchste Zeit für eine Ehrenrettung.

Einer der vernünftigeren Kommentare in Sachen Kaninchenbau kam zuletzt von Arnold Schwarzenegger. Im August war das, als sein Aufruf, sich impfen zu lassen, im Netz die Runde machte. Wenn der Kreis der Leute, denen wir vertrauen, immer kleiner werde, sei das ein Warnzeichen, schrieb Schwarzenegger: Dann seien wir dabei, in einen «Kaninchenbau falscher Informationen» zu stürzen.

Der Kaninchenbau als Hort von Fake News, ein Labyrinth ohne verlässliche Koordinaten? Das ist nicht ganz falsch, wenn man zum Originaltext zurückgeht, auf den Schwarzenegger sich mit der Metapher bezieht: «Alice’s Adventures in Wonderland» (1865), das irrwitzig einflussreiche Kinderbuch von Lewis Carroll. Allerdings zeugt auch Schwarzeneggers Vergleich von einer sträflich verkürzten Optik. Es stimmt zwar, dass Alice nach ihrem Sturz in den Kaninchenbau an bizarre Orte gelangt, wo die gewohnte Ordnung ausgehebelt scheint und in jeder Hinsicht ganz eigene Regeln gelten. Aber es ist auch nicht so, dass Alice dort unten einfach mit falschen Informationen abgespeist würde.

«Was hat ein Rabe mit einem Schreibtisch gemeinsam?», fragt zum Beispiel der Hutmacher im Buch, worauf sich Alice schon auf ein heiteres Rätselraten freut. Aber der Hutmacher und der Märzhase verstricken das Mädchen dann bloss in eine verwirrende Unterhaltung über Gesagtes und Gemeintes und werweissen, ob man eine Uhr mit Butter schmieren oder doch eher in Tee tunken sollte. Als Alice den Hutmacher schliesslich fragt, was denn nun die Antwort auf seine Frage sei, sagt dieser nur: «Ich habe nicht die leiseste Ahnung.» Eine schon absurde Fragestellung, die dann auch gar nirgends hinführt, nicht einmal zu einer Pointe? Schierer Nonsens und eben nicht zu verwechseln mit Fake News.

Flanieren auf Abwegen

Eine statistische Recherche beim «Digitalen Wörterbuch der deutschen Sprache» zeigt: Bis vor etwas mehr als zwanzig Jahren war die Metapher vom Kaninchenbau im deutschsprachigen Raum noch kaum geläufig. Doch seither steigt die Verlaufskurve stark an, das heisst, das Wort taucht immer häufiger in den Medien auf. Und es ist nicht davon auszugehen, dass der Begriff heute vermehrt in seiner wörtlichen Bedeutung benutzt würde, dass der Anstieg also etwa darauf zurückzuführen wäre, dass das mediale Interesse an Kaninchenzuchtverbänden plötzlich markant zugenommen hätte.

Der Anstieg ist wohl eher damit zu erklären, dass der «Kaninchenbau» heute zur populären Formel avanciert ist, um eine neue Art des Flanierens zu beschreiben, von der Lewis Carroll und seine Alice in ihrem viktorianischen England noch gar nichts ahnen konnten: die Erfahrung, dass man vermeintlich nur kurz im digitalen Wunderland stöbern geht, aus schierer Langeweile vielleicht, wie Alice im Buch, oder auch mit einem ganz konkreten Vorhaben – nur um dann, Hunderte von Klicks und Swipes und eine gefühlte Ewigkeit später, zumindest thematisch ganz woanders wieder aufzutauchen. Der Kaninchenbau dient also als Allzweckmetapher für die extreme Form von alltäglicher Zerstreuung, die wir mit diesem imaginären Ort verbinden, den wir seinerseits so selbstverständlich, dass es uns gar nicht mehr auffällt, mit einer Metapher bezeichnen: dem Netz.

Unmöglich? «Nur, wenn man nicht daran glaubt!», sagt der Hutmacher zu Alice. Illustration von John Tenniel von 1865. Foto: © Victoria and Albert Museum, London

«Rabbit Hole», so heisst etwa auch ein achtteiliger Podcast der «New York Times» darüber, wie es passiert, dass Menschen im Netz immer tiefer in ein Paralleluniversum von Verschwörungstheorien abgleiten. Wenn vom Netz als Kaninchenbau die Rede ist, dann ist also oft auch eine gefährlichere Form von Realitätsverlust gemeint. Besonders interessant daran: Das Bild vom Kaninchenbau kursiert nicht nur im negativen Sinn, als Diagnose, wenn jemand auf diese Weise dem Verschwörungsglauben verfällt, sondern es wird von der anderen Seite gerne auch positiv identifikatorisch verwendet, als stolze Selbstzuschreibung, wie das Beispiel des früheren Snowboardprofis Nicolas Müller zeigt, der im Netz zum Verschwörungsfanatiker wurde (siehe WOZ Nr. 32/2020 ). «Ich ging ins ‹rabbit hole›», so erklärte er letztes Jahr gegenüber der WOZ. «Dachte mir, ist doch gut, wenn du möglichst viel weisst. Dachte ich, krass, was ich wieder rausgefunden habe.»

Rote Pille, blaue Pille

Ist doch gut, wenn du möglichst viel weisst, also ab ins «rabbit hole»? Ob der Mann weiss, was er da sagt? In «Alice im Wunderland» läufts ja gerade andersrum: Zwar muss auch Alice nach ihrem Sturz in den Kaninchenbau laufend vermeintliche Gewissheiten revidieren – aber es erwartet sie dann eben gerade kein neues, gesichertes Wissen, nur immer neue Konfusionen. Figuren wie die Grinsekatze bekennen sich freimütig dazu, verrückt zu sein. Und Alice weiss ihrerseits nicht einmal mehr, wer sie ist. Identitäten und andere Ordnungen sind also permanent im Fluss, während der Verschwörungstheoretiker ja im Gegenteil davon überzeugt ist, die heimliche Logik hinter dem Ganzen aufgedeckt zu haben oder ihr zumindest auf der Spur zu sein.

Vermutlich aber docken Leute wie Nicolas Müller auch gar nicht bei «Alice im Wunderland» an, wenn sie von ihren Erweckungserlebnissen im Kaninchenbau sprechen, sondern bei dem Film, der die Sache mit dem «rabbit hole» vor rund zwanzig Jahren nochmals umfassend im populären Bewusstsein verankerte – und der damit wohl auch massgeblich dafür verantwortlich ist, dass die Rede vom Kaninchenbau seit 1999 vermehrt in die Alltagssprache eingegangen ist: «The Matrix». Wie einst Alice folgt Keanu Reeves als Hacker Neo im Film einem weissen Kaninchen, als er ein solches als Tattoo auf dem Oberarm einer Frau sieht – auch jetzt wieder, in «The Matrix Resurrections», dem vierten Teil der Reihe, der demnächst in die Kinos kommt. Doch das «Wunderland», in dem Neo damals in «The Matrix» landete, ist nicht etwa eine surreale Parallelwelt, sondern die «Wüste des Realen», die Welt also, wie sie tatsächlich ist, hinter der Vorspiegelung der digitalen Scheinwelt, die wir für die Wirklichkeit halten.

Als Neo sich dann entscheiden soll, ob er in seinen simulierten Alltag zurückkehren will oder nicht, bekommt er zwei Pillen angeboten, eine blaue und eine rote: «Nimmst du die rote, bleibst du hier im Wunderland, und ich zeige dir, wie tief der Kaninchenbau wirklich geht.» Der Film spielt also explizit mit Motiven aus «Alice im Wunderland», aber unter umgekehrten Vorzeichen. In «The Matrix» ist der Kaninchenbau der Ort, wo Neo die totale Simulation durchschaut und die wahren Verhältnisse dahinter erkennt. Die sind zwar alarmierend dystopisch, aber weil Neo endlich klar sieht, hat das trotzdem auch etwas Tröstliches.

Führte der Kaninchenbau bei Alice noch in ein verwirrendes Reich des höheren Blödsinns, wurde er in «The Matrix» zum Inbegriff einer «tieferen» Wahrheit gewendet. Endlich Klarheit statt fortschreitender Konfusion: So wird auch verständlich, wie die Metapher vom Kaninchenbau im Verschwörungsdenken so breit anschlussfähig werden konnte.

Ähnlich entstellend war aber auch, wie «Alice im Wunderland» in der jüngsten Verfilmung von Tim Burton auf feministisches Empowerment gedreht wurde. Das passive Kind aus dem Buch ist hier zu einer jungen Frau (Mia Wasikowska) herangewachsen, die nach ihrer Rückkehr aus dem Kaninchenbau selbstbewusst den Heiratsantrag des lästigen Adligen zurückweist, der draussen auf sie wartet. Und dann? Besinnt sich Alice auf den Rat des Hutmachers, das «Unmögliche zu denken», und nimmt das als Businessmaxime, um mit der Handelsfirma ihres Vaters nach Fernost zu expandieren. Der ganze Trip durch die absurde Unterwelt wird so rückwirkend zum Motivationsparcours für die kolonialistische Karrierefrau degradiert – bekanntlich gut fürs Business, wenn du ein bisschen crazy bist.

Weg mit dem Kopf!

Was übrigens schon sehr frappant ist, wenn man heute «Alice im Wunderland» liest: wie sehr das Gebaren der Figuren im Wunderland an die Umgangsformen auf manchen Plattformen im Netz erinnert. Schon im Haus des Kaninchens findet Alice es schrecklich, «wie diese Wesen einem das Wort im Munde umdrehen», das sei ja zum Verrücktwerden. Später dann der Auftritt der despotischen Herzkönigin, die dauernd Leute aus ihrer Entourage geköpft sehen will – nur zum Spass zwar, weil sie dann doch nie jemandem den Kopf abschlägt, aber man kann ja nie wissen. Und beim Croquetspiel vermisst Alice jegliches Fairplay, zumal sich alle so entsetzlich zanken und immer alle gleichzeitig reden, sodass man sein eigenes Wort nicht verstehe: «Und dann haben sie gar keine Spielregeln, oder falls es welche gibt, beachtet sie niemand.» Zumindest Letzteres klingt auch einfach wie ein Ausflug auf einen Spielplatz mit sehr nervtötenden Kindern.

Wer immer gleich das «rabbit hole» bemüht, wenn es um Verschwörungsglauben geht, tut Alice und ihrem Wunderland jedenfalls unrecht. Denn wo Verschwörungstheorien – vermeintlich – Ordnung stiften, sorgt Nonsens, wie ihn Alice nach ihrem Sturz in den Kaninchenbau antrifft, erst recht für Verwirrung. Und das ist das Schöne an höherem Blödsinn: Ihm kann man gar nicht aufsitzen, weil er in der Luft hängt wie das Gebiss der Grinsekatze.

«The Matrix Resurrections» kommt am 23. Dezember 2021 ins Kino.