Jolanda Spiess-Hegglin: Unter Druck

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Expolitikerin Jolanda Spiess-Hegglin kämpft mit dem Verein Netzcourage gegen digitalen Hass. Nun streicht ihr der Bund die Mittel. Hat der Hass gewonnen?

Noch immer landen in ihrem Briefkasten haufenweise Briefe voller Beleidigungen, Drohungen und Gewaltfantasien: Jolanda Spiess-Hegglin.

Eine Mutter von zwei kleinen Kindern wird von ihrem Ex belästigt. Er bedroht sie an der Tramhaltestelle, obwohl er mit einem Kontakt- und Rayonverbot belegt ist. Er schaltet Sexanzeigen auf ihren Namen im Internet, lockt Freier spätnachts zu ihrer Wohnung. Er stellt ihre Telefonnummer ins Netz, sie erhält Penisbilder unbekannter Männer. Die Polizei wimmelt sie ab: Man könne doch nicht das ganze Netz nach einer Sexanzeige absuchen. Sie flüchtet zu ihrer Schwester und später in ein Frauenhaus, derweil versucht der Mann, sich in die Mail-Accounts und elektronischen Geräte ihrer engsten Familie zu hacken. Die Polizei? Stellt einen Termin zur Besprechung der Sachlage in Aussicht – in zwei Wochen.

Erst als die verzweifelte Mutter die Anlaufstelle Netzambulanz einschaltet, tut sich etwas. Jolanda Spiess-Hegglin, Geschäftsführerin der Netzambulanz, schreibt auf Facebook: «Wenn heute wieder nichts passiert und keine U-Haft für K. angeordnet wird, dann erzähle ich euch, wo sich das abgespielt hat. Und wenn der Frau etwas passiert, so wirds eine PUK geben.» Der Beitrag wird hundertfach geteilt, und tags darauf sitzt der Mann in Untersuchungshaft.

Der Weg zu Netzcourage

Druck wirkt, Druck bewegt. Auch Dinge, die scheinbar unverrückbar festsitzen. Manchmal übt sie Druck aus, Jolanda Spiess-Hegglin, oft genug lastet er auf ihr. Gerade spürt sie den Druck wieder intensiv. Ihr Briefkasten ist gefüllt mit Briefen voller Beleidigungen, Drohungen, Gewaltfantasien. «Immer wenn etwas über mich in den Medien erscheint, passiert das», sagt sie.

Was dieses Mal über sie in den Medien stand? Der Bund strich die Subventionen für das Projekt Netzambulanz. Erst Mitte Mai 2021 hatte das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) 192 000 Franken gesprochen, die, verteilt über zwei Jahre, den Aufbau der Organisation unterstützen sollten. Am 8. Dezember, ein gutes halbes Jahr später, stoppte das EBG die Auszahlung der Gelder. Dazwischen liegen ein Like unter einem missglückten Satirebeitrag auf Twitter, viele Medienberichte und eine Angriffskampagne, orchestriert von verurteilten Stalkern und dem SVP-Nationalrat Andreas Glarner.

Es ist die jüngste Welle, die über sie hereinbricht. Die erste kam nach der Zuger Landammannfeier Ende Dezember 2014. «Hat er sie geschändet?», titelte der «Blick» damals an Heiligabend und nannte die damalige Zuger Kantonsrätin Jolanda Spiess-Hegglin sowie einen Parlamentskollegen von der SVP mit Namen. Was genau jedoch damals am späten Abend des 20. Dezember 2014 geschah, ist bis heute ungeklärt. Im folgenden Jahr erscheinen in Schweizer Medien über 600 Folgeartikel, die oft Spekulationen anstellen und manchmal rechtliche Grenzen überschreiten. 2019 wird der Ringier-Verlag wegen «schwerer Persönlichkeitsverletzung» und «krassem Eingriff in die Intimsphäre» verurteilt. Das Urteil wird 2020 vom Zuger Obergericht weitgehend bestätigt, Ringier-CEO Marc Walder entschuldigt sich im eigenen Blatt. Auch der damalige «Weltwoche»-Redaktor Philipp Gut wird aufgrund eines Textes verurteilt.

Eine weitere Welle rollt an, als die heutige Ko-Chefin des Ressorts Leben beim «Tages-Anzeiger», Michèle Binswanger, ein Buch über die Ereignisse von 2014 ankündigt und Spiess-Hegglin dagegen juristisch vorgeht. Der Fall liegt derzeit beim Bundesgericht. Wieder erscheinen Dutzende Artikel und Hunderte übergriffige Beiträge auf Facebook, Twitter und anonymen Blogs. Niemand in der Schweiz dürfte digitalem Hass derart ausgesetzt sein wie Jolanda Spiess-Hegglin.

Sie hätte daran kaputtgehen können. Aber sie analysierte die Zerstörungskraft dieser Wellen und die darunter liegenden Mechanismen. Schliesslich entstand daraus der Verein Netzcourage und eine Reihe von Werkzeugen, um in diese Mechanismen einzugreifen. Im letzten Frühling lancierte der Verein «Netzpigcock», ein Tool, das nach dem Erhalt eines Penisbilds automatisch eine Anzeige generiert. Die Nachfrage danach ist riesig. Schon im ersten Monat wurden mit dem Generator über tausend Strafanträge gestellt. Dazu leisten Spiess-Hegglin und ihre Unterstützer:innen Aufklärungsarbeit an Schulen, organisieren sogenannte Lovestorms, wenn jemand im Netz durch Trolle in Bedrängnis gerät. Vor allem betreiben sie die schweizweit einmalige Anlaufstelle Netzambulanz, eine Art schnelle Eingreiftruppe bei massiven digitalen Übergriffen, wo sich die Behörden oft hilflos oder zögerlich zeigen.

Ein missglückter Like

Die Netzambulanz liegt nun aber selber auf der Krankenstation, und ob sie sich wieder aufrappelt, ist ungewiss. Seit dem Entzug der Subventionen klafft ein Loch in der Kasse. 300 000 Franken beträgt das Jahresbudget. Der Bund hätte rund 90 000 Franken pro Jahr übernommen. Weitere Aufbauhilfen wie jene des Kantons Basel-Stadt sind ausgelaufen. Spiess-Hegglin sagt: «Wir werden das Geld schon zusammenbekommen, und wenn nicht, arbeite ich halt wieder einmal ein paar Monate ohne Lohn.» Ein Rückschlag, aber hat sie solche nicht schon oft weggesteckt?

Am Anfang der verhängnisvollen Entwicklung rund um die Netzambulanz steht ein satirischer Beitrag auf Twitter, der sich über die Selbstbezeichnung der «Tages-Anzeiger»-Journalistin Michèle Binswanger als «Jeanne d’Arc der Pressefreiheit» lustig machte. Ein Teil des Beitrags ist eine Fotomontage, in der statt des abgetrennten Kopfs von Louis XVI jener von Binswanger prangte.* Spiess-Hegglin versah den Beitrag mit einem Like. Dass sie sich sofort entschuldigte, half dann auch nichts mehr. Vor allem die Titel der TX Group lancierten Artikel um Artikel, zwei Presseratsbeschwerden sind deswegen hängig. Und das Eidgenössische Gleichstellungsbüro (EBG) verschickte ein Schreiben in ernstem Ton und mit vielen Forderungen. Ein Kommunikationskonzept müsse her und ein Zwischenbericht, dazu müsse die Organisation professionalisiert werden. Es folgten Mahnungen und neue Aufforderungen. Schliesslich traten im Oktober die beiden Kopräsidentinnen von Netzcourage, Tamara Funiciello (SP) und Greta Gysin (Grüne), wegen «Differenzen in der strategischen Ausrichtung» zurück, und im Dezember stoppte das Gleichstellungsbüro die Finanzierung. Funiciello und Gysin wollen sich heute nicht mehr zu den Vorgängen äussern.

Das ist die eine Sicht auf die Ereignisse. Die andere: Netzcourage und der Staat, das konnte nicht gut gehen. Wer Bundesgelder erhält, legt sich ein formalistisches Korsett an. Netzcourage aber reagierte oft ungenügend auf die Forderungen der Behörde, und als schliesslich das Kopräsidium abtrat, informierte Spiess-Hegglin das EBG nicht über das weitere Vorgehen. Dazu kam ein nicht geklärtes Rollenverständnis: Ist Spiess-Hegglin operativ verantwortlich oder strategisch? Sie sagt zu den Versäumnissen: «Wir hatten ab Juli unüberschaubar viele Ambulanzfälle, dann kamen die Sommerferien und zu Hause warteten drei Schulkinder. Diese kurz angesetzte Frist mit einem solchen administrativen Overload hat uns das Genick gebrochen.»

Ihr Tagesgeschäft reicht seit Monaten und Jahren in einen Bereich hinein, den man am präzisesten als «Sumpf» bezeichnet. In den sieben Jahren, seit Jolanda Spiess-Hegglin vom «Blick» an die nationale Öffentlichkeit gezerrt wurde, ist auf der einen Seite ein Netz von loyalen Unterstützer:innen entstanden, die sich besonders auf Social Media aktiv und laut hinter die Netzaktivistin stellen. Auf der anderen Seite steht ein ganzes Heer an User:innen, die teils mit Klarnamen, teils anonym praktisch jede öffentliche Äusserung von Spiess-Hegglin und jeden Artikel über sie in den sozialen Medien kommentieren. Mehrheitlich sind es eher ältere Männer, einige davon offensichtliche SVP-Sympathisanten. Ihr Ton in den Kommentarspalten ist nicht selten aggressiv oder gar von Sexual- oder Gewaltfantasien begleitet. Gegen rund 120 von ihnen hat Spiess-Hegglin in den letzten Jahren Strafanträge gestellt.

Und dann gibt es einen Blog, dessen Name hier nicht erwähnt sein soll. Annähernd 200 Artikel sind seit April 2019 darauf über Jolanda Spiess-Hegglin publiziert worden, darunter etwa ein gefälschtes Interview mit ihrem Ehemann, Bildmontagen mit pornografischem Inhalt oder Titel wie «Pleiten, Suff und Pannen». Das sogenannte Trolling, das Verfassen von unterschwellig provokanten Nachrichten, ohne direkte Beleidigungen auszusprechen, nimmt hier obsessive Züge an. Massgeblich an diesem Blog beteiligt sind zwei Männer, die Spiess-Hegglin seit mehreren Jahren nicht nur trollen, sondern auch stalken, wie gerichtlich festgestellt ist. Der eine hat ein Verbot auferlegt bekommen, mit Drittpersonen über Spiess-Hegglin zu sprechen, beim anderen wurde diesen Sommer ein Kontakt- und Rayonverbot nach Gewaltschutzgesetz verfügt.

Beim einen der beiden Männer führte die Polizei Ende 2019 eine Hausdurchsuchung durch, sicherte dessen Computer. Obwohl sich der Mann in der Einvernahme unwissend gab, macht ihn die Polizei mitverantwortlich für die Inhalte auf dem Blog. Die beiden Trolle pflegen engen Kontakt zum Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner. Hier vermengt sich der Sumpf mit politischer Macht. Als sich einer der Männer über einen Mitarbeiter von Netzcourage beschwert, verspricht Glarner auf Facebook: «Ich werde beim Bund intervenieren und dafür sorgen, dass entweder der gute Mann ausgewechselt wird – oder dieser ‹Verein› keine Bundesgelder mehr erhält.» Später wird Glarner mit einem Antrag im Nationalrat scheitern, dem Gleichstellungsbüro die Finanzhilfe an die Netzambulanz vom Budget abzuziehen. Glarner stellt den Kontakt mit den Trollen nicht in Abrede, hält aber fest: «Ich erinnere mich nicht, je einen der beiden persönlich getroffen zu haben.»

Die ökonomische Dimension

Die Trolle sind auch mit Journalist:innen vernetzt. Der begründete Vorwurf steht im Raum, dass sich etwa Tamedia-Redaktorin Michèle Binswanger mit ihnen austauschte: Ende Oktober 2021 veröffentlichte einer der Männer einen Auszug aus der Bundesgerichtsbeschwerde von Jolanda Spiess-Hegglin im Rechtsstreit um die geplante Buchveröffentlichung von Binswanger. Nach Auffassung der Seite Spiess-Hegglin kann er diese nur von Binswanger erhalten haben. Als sich die Anwältin der Zugerin bei Tamedia darüber beschwerte und Massnahmen verlangte, damit das nicht wieder passiere, dementierte Konzernanwalt Matthias Seemann nicht, wie aus Unterlagen hervorgeht, die der WOZ vorliegen. Er spielte den Ball zurück: Es sei Spiess-Hegglin gewesen, die über CH Media immer wieder Informationen aus dem Rechtsstreit verbreitet habe. Zuvor hatte allerdings schon ein Anwalt von Binswanger in einem Gerichtsdokument eingeräumt: Es sei «nicht weiter überraschend», dass Binswanger mit einem der Trolle im Rahmen ihrer Recherchen zum Buch gesprochen habe. Die Journalistin selber äussert sich nicht dazu.

Hier erhält der Fallkomplex eine ökonomische Dimension. Jolanda Spiess-Hegglin steckt mit Tamedia wie auch mit Ringier im Rechtsstreit. Mitte Januar entscheidet ein Gericht, wie viel Geld der «Blick» mit den rechtswidrigen Artikeln über Spiess-Hegglin verdient hat. Ringier will nicht einmal 2000 Franken mit den vier beklagten Artikeln eingenommen haben, die Gegenseite behauptet einen Betrag, der um ein Vielfaches höher ist. Die Bewertung des Gerichts wird Präzedenzcharakter haben – und auch für Tamedia von grosser Bedeutung sein. Es geht um Grundsätzliches in der Boulevardbranche. Nämlich, dass das Geschäft mit Persönlichkeitsverletzungen nach diesem Urteil in sich zusammenfallen könnte.

In dieser Auseinandersetzung liegt der Schlüssel zum Verständnis der Geschichte von Jolanda Spiess-Hegglin und ihrem Kampf, den sie unablässig führt. Persönlichkeitsverletzungen, digitaler Hass und Hetze haben ihren Preis. Und zwar nicht nur für die Opfer.

* Korrigendum vom 6. Januar 2022: In der Printversion sowie in der alten Onlineversion schrieben wir fälschlicherweise, Michèle Binswangers Kopf sei an Stelle des Kopfs von Jeanne d’Arc ins Bild montiert worden.