Prozess in Bern: Erdogans langer Arm in die Schweiz

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Ein Transparent erregte das Gemüt des türkischen Präsidenten. Nun stehen vier Beschuldigte vor Gericht. Das Aussendepartement zeigte auffällig viel Interesse an den Ermittlungen.

Das Transparent des Anstosses bei der Demonstration in Bern im März 2017. Foto: Peter Klaunzer, Keystone

Am 27. März 2017 schlugen die türkischen Hacker:innen zu. Es waren keine allzu ambitionierten Angriffsziele. Und so kam es, dass auf der Website der Badi Wülflingen für einen knappen Tag die Umrisse der Schweiz zu sehen waren – versehen mit dem türkischen Halbmond. Die Badi Wülflingen war zum Zufallsopfer einer internationalen Affäre geworden.

Zwei Tage zuvor hatten auf dem Bundesplatz mehr als tausend Personen für mehr Demokratie in der Türkei demonstriert. Anlass der bewilligten Platzkundgebung war das bevorstehende Verfassungsreferendum, das die Machtbefugnisse des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan erweitern sollte.

Kurz nach 14 Uhr schloss sich der Kundgebung eine Demonstration mit mehreren Hundert Teilnehmer:innen an, die zuvor durch die Berner Innenstadt gezogen war. Mit dabei war ein Stück Stoff, das in den darauffolgenden Monaten zu einer diplomatischen Krise führen sollte. Darauf zu sehen: ein Porträt des türkischen Präsidenten, daneben eine Pistole und die Aufschrift «Kill Erdogan with his own weapons!».

Am Tag der Demonstration war das Transparent kein Thema. Weder die Polizei noch der Organisator der Kundgebung griffen ein: Niemand ahnte, dass Bilder des Banners in den nächsten Tagen um die Welt gehen würden.

Fünf Tage nach der Demonstration erkundigte sich die türkische Botschaft in einem Schreiben an die Berner Staatsanwaltschaft nach dem aktuellen Stand des Verfahrens. Ob schon vor dieser Anfrage ermittelt wurde, ist unklar. In Ankara wurden der Schweizer Botschafter und die Vizebotschafterin einbestellt. Es war nur der Anfang einer Reihe von Versuchen, die Schweiz und die Berner Justiz unter Druck zu setzen.

Lange zog sich das Verfahren hin. Nun stehen nächste Woche vier Aktivisten vor dem Regionalgericht Bern-Mittelland. Wegen des «Kill Erdogan»-Transparents wird ihnen «Öffentliche Aufforderung zu Verbrechen oder Gewalttätigkeiten» vorgeworfen. Gegen eine Verurteilung mittels Strafbefehl zu geringen Geldstrafen hatten die Beschuldigten zuvor Einsprache erhoben. Die Beweislage sei dünn, sagt Anwalt Bernard Rambert, der einen der Beschuldigten vor Gericht vertritt: «Die Polizei hat sich alle Leute herausgesucht, die sie kennt und die sich während der Demonstration im Umfeld des mitgeführten Wagens aufhielten.» Daraus zu konstruieren, diese Personen seien für das daran angebrachte Transparent und dessen Inhalt verantwortlich, sei keine überzeugende Beweisführung.

Türkische Kriegsverbrechen

Thomas Bächtold* und Severin Schmid* sind zwei der Beschuldigten, die nächste Woche vor Gericht stehen. Zum Transparent wollen sie sich aus Verfahrensgründen nicht äussern. Für sie sollten vielmehr die Verbrechen des türkischen Regimes im Zentrum stehen. «Die Türkei setzt mittlerweile Giftgas im Nordirak ein, ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. Die Punkte, die anlässlich der Demonstration bereits kritisiert wurden, sind noch dringlicher geworden», sagt Schmid.

So sieht es auch Thomas Bächtold: «Erdogan ist Hauptverantwortlicher für die Vertreibung der kurdischen Bevölkerung, er führt den Krieg in Syrien weiter, und er unterstützt dschihadistische Milizen in Syrien und in der Türkei. Er ist verantwortlich für Attentate, die es auch in der Türkei gegen die linke Bewegung gegeben hat.»

Eines dieser Attentate ist der Anschlag in der türkischen Stadt Suruc 2015. Dabei kamen 34 Aktivist:innen ums Leben, die beim Wiederaufbau der syrisch-kurdischen Stadt Kobane helfen wollten. Der Anschlag wird dem IS zugeschrieben. Vor Gericht wird auch eine Aktivistin aussagen, die den Anschlag überlebt hat. Die Zeugin könne so aus erster Hand berichten, wie sie das Attentat erlebt habe, sagt Bächtold: «Insbesondere dass die türkische Polizei die Rettungskräfte lange Zeit daran gehindert hat, überhaupt an den Attentatsort zu kommen.» Diese Vorfälle müsse man schon in ein Verhältnis setzen. «Auf der einen Seite ist ein Banner, auf der anderen allerdings die Tatsache, dass in der Türkei ein Diktator und Kriegstreiber mit Blut an seinen Händen regiert.»

Diplomatischer Druck

Der Prozess zum «Kill Erdogan»-Transparent sei in mehrerer Hinsicht einzigartig, meint der erfahrene Strafverteidiger Rambert. Im Laufe des Verfahrens stieg der Druck Ankaras auf die offizielle Schweiz immer mehr, wie der «SonntagsBlick» publik machte. In knapp eineinhalb Jahren gab es insgesamt fünf Telefonate hochrangiger Beamter des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten (EDA) an die Staatsanwaltschaft. Telefonat um Telefonat erkundigte sich das EDA nach dem aktuellen Stand des Verfahrens und begründete dies mit dem stark zunehmenden Druck seitens der Türkei. Noch im Januar 2020, knapp drei Jahre nach dem Vorfall, begründete es ein Auskunftsgesuch mit einem bevorstehenden Treffen der Staatssekretärin Livia Leu mit einem hochrangigen Regierungsmitglied der Türkei. Bei diesem würde vermutlich die Demonstration vom 25. März 2017 thematisiert werden.

Die Staatsanwaltschaft blockte die Auskunftsbegehren ein ums andere Mal ab und verwies auf die Gewaltenteilung und das noch laufende Verfahren. Sie machte das EDA beim letzten Telefongespräch jedoch darauf aufmerksam, dass es möglich sei, ein schriftliches Akteneinsichtsgesuch zu stellen. Ob das EDA ein solches einreichte, will es auf Anfrage der WOZ nicht beantworten. Die fünf telefonischen Anfragen an die Staatsanwaltschaft kommentiert es folgendermassen: «Wir haben in keiner Art und Weise Einfluss auf das Verfahren genommen, geschweige denn Druck auf die Justizbehörden ausgeübt. Das EDA hat sich lediglich über den Stand des Verfahrens informieren lassen. Die Unabhängigkeit der Justiz wurde dabei zu keinem Zeitpunkt tangiert oder infrage gestellt.»

Geheime Aktionen

Der türkische Staat fällt in der Schweiz immer wieder mit regen Aktivitäten seines Geheimdiensts MIT auf. Aufsehen erregte etwa im Jahr 2016 der Versuch, einen mutmasslichen Gülen-Anhänger zu entführen. Der MIT bespitzelt zudem immer wieder politische Gruppierungen aus dem linken oder dem kurdischen Umfeld. Gegen eine Person, die versuchte, die kurdische Bewegung auszuspionieren, läuft momentan ein Verfahren wegen des Verdachts des politischen Nachrichtendiensts, wie die Bundesanwaltschaft auf Anfrage der WOZ bestätigt.

Wegen der starken nachrichtendienstlichen Tätigkeit der Türkei haben die Anwälte der Angeklagten den Antrag gestellt, dass das Gericht vor und während der Hauptverhandlung geeignete Massnahmen zum Schutz der Beschuldigten trifft. So soll unter anderem die Anonymität der Beschuldigten gewahrt werden. Das Gericht nahm den Antrag an. Auch das hat Seltenheitswert.

* Name geändert.