Friedenspolitik: Gegen die Kriegstrommler

Nr. 10 –

Der Krieg gegen die Ukraine lässt auch in der Schweiz die Kalten Krieger Morgenluft wittern. Ob es tatsächlich zu einer verstärkten Aufrüstung kommt, hängt auch von der sich neu bildenden Friedensbewegung ab.

Es braucht eine Rückbesinnung auf das Völkerrecht: An der Antikriegsdemo am 3. März in Zürich. Foto: Michael Buholzer. Keystone

«Meine Mailbox wird derzeit von Dutzenden Mails gesprengt, vorwiegend verfasst von älteren Männern, die während des Kalten Krieges aufgewachsen sind», sagt die grüne Friedenspolitikerin Marionna Schlatter. «Sie fordern – teils beleidigend, teils paternalistisch-belehrend –, dass wir die Unterschriftensammlung gegen den vom Bundesrat geplanten Kauf des US-Kampfjets F-35 stoppen.» Mit diesem Druck könne sie umgehen, so die Nationalrätin. Weit belastender sei das Verhalten vieler bürgerlicher Ratskolleg:innen, die jetzt laut nach zwei zusätzlichen Milliarden Franken für die Armee riefen – statt zu fragen, wie der Krieg gegen die Ukraine möglichst rasch beendet und den Menschen im Kriegsgebiet geholfen werden könne.

«Und ausgerechnet unsere Verteidigungsministerin Viola Amherd befeuert diese Aufrüstungshysterie noch», sagt Schlatter. Die Menschen in der Schweiz hätten berechtigte Ängste angesichts der Ereignisse in der Ukraine, die Botschaft müsste deshalb heissen: «Für die Schweiz besteht keine unmittelbare militärische Bedrohung.» Stattdessen fordere auch Amherd öffentlich dazu auf, die Initiative gegen den Kauf neuer Kampfjets zu stoppen. «Ein unsäglicher Eingriff in die direktdemokratische Kultur dieses Landes», so Schlatter. Natürlich stehe ein solcher Stopp nicht zur Debatte, da seien sich die Initiant:innen um die Grünen, die SP und die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) absolut einig. Denn: «Die 36 neuen US-Kampfjets erhöhen unsere Sicherheit nicht.»

Überall «Zeitenwende»

Unterstützung erhalten die Initiant:innen von der Strasse: Allein in Zürich demonstrierten am Samstag mehrere Zehntausend Menschen für «Frieden jetzt!». Jonas Kampus, politischer Sekretär der GSoA und Klimaaktivist, bezeichnete es in einer Rede als zynisch, dass ausgerechnet jene bürgerlichen Kreise nach Aufrüstung schrien, «die jahrzehntelang die russischen Oligarchen hofierten und die durch eine schamlose Tiefsteuerpolitik klimazerstörende und menschenrechtsverletzende Rohstoffkonzerne nach Zug und Genf lockten». Kampus hofft, dass nun eine Antikriegsbewegung entsteht, die den friedenspolitischen Druck aufrechterhalten kann: «Wir dürfen den bürgerlichen Kriegstrommlern nicht das Feld überlassen.»

Allerdings: Nicht nur Bürgerliche sind empfänglich für Aufrüstung. In Deutschland hat der sozialdemokratische Bundeskanzler Olaf Scholz den Begriff «Zeitenwende» für die jetzige Situation geprägt und angekündigt, der Bundeswehr einen hundert Milliarden Euro schweren Aufrüstungsschub zu verpassen.

Das Wort «Zeitenwende» geistert nun durch die Kommentarspalten. Damit wird nicht nur die Aufrüstung verbunden, sondern generell ein Zurück zu den Gewissheiten des Kalten Krieges. Der abgewählte SVP-Bundesrat Christoph Blocher bringt es in der NZZ so auf den Punkt: «Ich hoffe jedenfalls auf eine politische Zeitenwende, dass diese idealistische, wirklichkeitsfremde, moralistische Vorstellung der letzten dreissig Jahre endlich zu Ende geht.» Will da einer den Ukrainekrieg nutzen, um die Uhren zurückzudrehen?

Jo Lang, einer der profiliertesten Friedenspolitiker:innen der Schweiz, gibt zu bedenken, dass es in den letzten zwanzig Jahren bereits zwei Zeitenwenden gegeben habe: «2003 war der Irakkrieg, der grosse Tabubruch bezüglich des Völkerrechts.» Der Irak wurde mit fadenscheinigen Argumenten angegriffen, ohne Rückendeckung der Uno. Das Völkerrecht sei extrem geschwächt worden, so Lang. Eine zweite Zeitenwende sei, dass die Klimaerhitzung zum Politikum geworden sei: «Und damit die Wahrnehmung, dass dieser Planet existenziell bedroht ist.» Die entscheidende Frage sei nun, in welche Richtung sich die Politik aufgrund des Krieges gegen die Ukraine bewege: Militarisierung oder Klimaschutz, bei dem die Abhängigkeit von russischem Gas auch ökologisch thematisiert werde. Lang hält es für ermutigend, dass die Solidaritätsbewegung von Leuten geprägt ist, die gegen eine Militarisierung und klimapolitisch sensibel sind.

Allerdings ist das nicht überall so klar wie in der Schweiz. In Deutschland etwa gebe es auch Antikriegsdemonstrationen, an denen Leute die Nato-Fahne mit sich trügen, so Jürgen Wagner, Geschäftsführer der Tübinger Informationsstelle Militarisierung. Um herauszufinden, wie man aus der jetzigen Situation herauskomme, sei es wichtig zu wissen, wie man hineingeraten sei, sagt Wagner. «Es braucht eine Rückbesinnung auf das Völkerrecht, das von allen eingehalten werden muss. Auch die Nato muss zugeben: Wir haben Fehler gemacht.»

«Öl ins Feuer»

Die Nato hat sich in den neunziger Jahren gegen Osten erweitert und im Kosovo völkerrechtswidrig interveniert. Das führte gleichzeitig auch zu einer Schwächung der Uno als Institution der friedlichen Konfliktlösung sowie der OSZE, der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Gleichzeitig hat Wladimir Putins Regime in Tschetschenien gewütet und sich in Syrien an Kriegsverbrechen beteiligt. Putin versucht, den jetzigen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit Verweis auf die Nato-Expansion zu rechtfertigen. Wie auch immer man die vorangehende Entwicklung bewertet: Den Krieg gegen die Ukraine und die damit einhergehenden Verbrechen hat er in alleiniger Verantwortung losgetreten.

Soll man deshalb die Ukrainer:innen mit Waffen unterstützen? Eine herausfordernde Frage für die Friedensbewegung. In Deutschland gibt es auch Friedensdemonstrant:innen, die die Waffenlieferungen der Bundesregierung an die Ukraine unterstützen. Jürgen Grässlin, Waffenhandelsexperte und Sprecher der Kampagne «Aktion Aufschrei – Stoppt den Waffenhandel!», die von 150 Organisationen getragen wird, hält das für einen Fehler. Waffenlieferungen an die Ukraine würden, so Grässlin, nur «Öl ins Feuer giessen». Die Behauptung, es seien ja nur Defensivwaffen, hält er für sachlich falsch. «Defensivwaffen gibt es nicht. Sind Waffen ausgeliefert, verliert man die Kontrolle über sie.»

Doch Grässlin betont auch das Einende derjenigen, die gegen den Krieg demonstrieren: die Verurteilung des russischen Regimes und seines Angriffskriegs, die Forderung nach Solidarität mit Geflüchteten, das Drängen auf diplomatische Lösungen.

Priska Seiler Graf, SP-Nationalrätin und Sicherheitspolitikerin, hat keinerlei Verständnis für die Aufrüstungsoffensive ihrer deutschen Schwesterpartei: «In diesem Punkt sind unsere Haltungen total unterschiedlich. Das hat natürlich damit zu tun, dass Deutschland Nato-Mitglied ist und die SPD in Deutschland stärkste Regierungskraft.» Die SP Schweiz sei weit weniger armeefreundlich und rüstungsindustrienah als ihr Pendant im nördlichen Nachbarland. «Aufrüstung ist absolut keine Option für uns. Was es aber braucht, ist eine neue sicherheitspolitische Analyse. Diese muss sich auf Europa fokussieren, auf die Frage: Welche Sicherheitsarchitektur braucht der Kontinent?» Und zwar jenseits vom transatlantischen Militärbündnis Nato. «Der Kauf der US-amerikanischen F-35-Kampfjets würde eine noch viel weiter gehende Annäherung an die Nato bedeuten. Wollen wir das wirklich als neutrales Land? Ich nicht. Und ich kann auch sagen, dass die SP eine Nato-Mitgliedschaft kategorisch ausschliesst, nicht aber Kooperationen.»

Unbequeme Fragen

Eine sicherheitspolitische Grundsatzdebatte scheint unausweichlich. Das progressive, friedenspolitische Lager muss sich dabei auch unbequeme Fragen stellen: Hat man bei aller Kritik an der Nato und dem US-Imperialismus die Kriegsgefahr, die von Putins Regime ausging, unterschätzt? Wie kann man angesichts des Angriffskriegs weiterhin konsistent für Abrüstung plädieren? Dabei muss die Linke keineswegs bei null anfangen. «Der Uno-Vertrag für ein Verbot von Atomwaffen liegt vor. Doch der Bundesrat weigert sich gegen den Willen des Parlaments seit Jahren, diesen Vertrag zu ratifizieren», sagt Marionna Schlatter von den Grünen. Sie hat diesen Montag eine Motion eingereicht, das bis Ende 2022 nachzuholen.

SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf setzt darauf, dass die Schweiz im Juni für die Periode von 2023 bis 2024 in den Uno-Sicherheitsrat gewählt wird. Ihre Hoffnung: «Die Schweiz könnte sich dort dafür einsetzen, dass die Uno als globale, sicherheitspolitische Institution gestärkt wird – und ihrer zugeschriebenen Rolle als neutrale Vermittlerin wirklich gerecht werden.»