Essay: Jedem sein eigener Putin

Nr. 18 –

Der Schriftsteller Michail Schischkin über die «Dorfdenkweise» und andere Missverständnisse.

Es war schon seit Jahren so: Wenn ein Taxifahrer irgendwo auf der Welt erfuhr, dass ich Russe bin, kam sofort ein freudiges Lächeln: «Putin!», und Daumen hoch. Ich konnte diese Liebe der Taxifahrer für Putin nie nachvollziehen. Es war mir nur klar, dass es hier um verschiedene Putins ging. Meinen konnte man nicht lieben. Und der Taxifahrer schuf den Putin zu seinem Bild.

Warum man meinen Putin hasst, liegt auf der Hand. Der KGB-Agent hat die Präsidentenkarriere mit dem blutigen Opfer seiner Landsleute gestartet: Zum Vorwand für den Tschetschenienkrieg wurden Moskauer:innen in ihren Wohnblöcken in die Luft gesprengt. Dann ging es nur in eine Richtung: zum Überfall auf die Ukraine am 24. Februar. Aber all die Jahre wurden andere Putins von vielen Menschen auf der Welt bewundert.

Im russischen Chaos der Neunziger wollte die gebeutelte Bevölkerung endlich Ordnung schaffen und das erniedrigte Vaterland «von den Knien aufstehen» sehen. Man hoffte auf einen neuen Herrscher mit eiserner Hand. Generationen von Sklav:innen identifizierten sich mit der Grösse ihres Imperiums. Putin versprach, die nationale Wunde zu heilen: Die Zeit des Chaos sei vorbei, Russland komme zurück an die Weltspitze.

Auf dem Planeten «Russki Mir»

Das von der Propaganda geschaffene Image vom omnipotenten Herrscher und Erlöser seines Volkes kam an. Der böse Westen wolle uns vernichten, und nur der gute Zar könne unseren «Russki Mir», die russische Welt, retten. Die «Rückführung» der Krim zum Heiligen Russland brachte der Bevölkerung zwar keine besseren Strassen oder Wasserleitungen und beheizte Klos in die Dörfer, dafür aber die Möglichkeit, stolz auf ihren Putin zu sein.

Das Schlüsselwort der putinschen Ideologie ist «Russki Mir», dabei bedeutete das Wort «Mir» ursprünglich die russische Dorfgemeinde. Die Mentalität einer mittelalterlichen Dorfgemeinde prägt die Psyche breiter Bevölkerungsschichten auch heute. Schrie jemand «Die Unsrigen werden geschlagen!», rannte man sofort mit Stöcken und Heugabeln los, ohne nachzudenken, ob «die Unsrigen» recht haben oder nicht. So schreit die putinsche Propaganda nun seit Jahren: «Die Unsrigen werden in der Ukraine geschlagen!»

Diese Besonderheit der «Dorfdenkweise» erklärt auch, warum so viele Russ:innen, die im Westen leben, Putin und seinen Krieg unterstützen. Körperlich lebt man in Berlin, Zürich oder Larnaka, mental aber lebt man im «Russki Mir». Der berühmte Schauspieler Sergei Bodrow, eine Kultfigur in Russland (im Kassenschlager «Bruder 2» spielte er einen guten russischen Banditen, der nach Amerika kommt und Amerikaner zu Dutzenden tötet), hatte es in einem Interview klar formuliert: «Während des Krieges kann man nicht schlecht über seine eigenen sprechen. Auch wenn sie falschliegen.»

Auf dem Planeten «Russki Mir» besetzte Putin die Nische eines guten siegreichen Zaren im Krieg des bösen Westens gegen «die Unsrigen». Nun zu seiner Nische auf dem Planeten Erde. Die zahlreichen beruflichen Putin-Versteher:innen im Westen, die ihr Brot als Russlandexpert:innen verdienen, interessieren mich nicht. So wie die korrumpierten Politiker: Heute bist du Kanzler Deutschlands, morgen Putins Lakai. Doch die unentgeltliche Bewunderung von Putin ist erklärungsbedürftig.

Nicht nur auf indischen oder lateinamerikanischen Onlineplattformen wurde Putin als Held gezeichnet, der den imperialistischen USA endlich die Grenzen aufzeigt. Nicht nur iranischen und nordkoreanischen Führern hat Putin mit der berühmten Kampfansage an die USA im Jahr 2007 in München aus dem Herzen gesprochen: «Eine monopolare Welt, das heisst: ein Machtzentrum, ein Kraftzentrum, ein Entscheidungszentrum. Dieses Modell ist für die Welt unannehmbar. Es ist vernichtend, am Ende auch für den Hegemon selbst.» Das Prinzip «Der Feind meines Feindes ist mein Freund» vereinte Linke und Rechte auf der ganzen Welt.

Ein Spiegelbild der Sehnsüchte

Gründe, Putin zu lieben, gab es auch in westlichen Demokratien genug. Der Mann stehe für moralische Werte wie Christentum, Schutz der Familie, Kampf gegen die Homoehe und Schwulenparaden. Man bewunderte ihn für seine demonstrative Freiheit von jeglicher Political Correctness, für seine offene Anti-Wokeness. Als Statthalter echter Maskulinität stehe Putin für breitbeinige Männlichkeit und verteidige die Welt gegen den «Genderwahn». Der «knallharte Typ aus dem Osten» hinterfragte stillschweigend die westliche Gesellschaft in der «Cancel Culture»-Zeit: «Warum sollen Männer sich schämen, Männer zu sein, warum sollen Weisse sich mit einer rassistischen Erbsünde belastet fühlen, weil sie Weisse sind?» Für viele Leute, auch in demokratischen Ländern, wirkte sein Machogehabe imponierend.

Für Brigitte Bardot war Putin derjenige, der mehr für die Natur und die Erhaltung der Wildtiere getan habe als alle Präsidenten Frankreichs zusammengenommen. Manche waren von seiner kraftstrotzenden Pose mit nacktem Oberkörper beeindruckt. Und Roger Köppel hat die Putin-Bewunderung der Taxifahrer der Welt auf den Punkt gebracht: «Putin entlarvt den hohlen Moralismus seiner Gegner und die Dekadenz des Westens.» Der Geheimdienstler mit der «geheimnisvollen russischen Seele» scheint nur ein Spiegelbild der westlichen Sehnsüchte gewesen zu sein.

Nun hat Putin seine Bewunderinnen und Bewunderer auf der ganzen Welt enttäuscht. Kein brutaler Macho im Sattel, sondern ein aufgedunsener Zwerg, der sich hinter einem unendlich langen Tisch versteckt. Kein westlicher Politiker hat mehr für die Nato-Osterweiterung getan als Putin: Weitere Länder werden jetzt ins Verteidigungsbündnis drängen. Statt Wildtiere samt Klima zu retten, lässt er Städte bombardieren, Frauen vergewaltigen, Kinder töten. Moralische christliche Familienwerte sehen anders aus.

Die Suche nach dem echten Zaren

Auch der «Russki Mir» ist aufs Tiefste enttäuscht. Die verfluchten russischen Fragen «Wer ist schuld?» und «Was tun?» quälten nur die Intellektuellen, für das einfache Volk stellte sich die wichtigste russische Frage anders: «Ist der Zar echt oder falsch?» Diese Frage konnten nur Siege entscheiden. Stalin war echt, er wird bis heute verehrt. Gorbatschow verlor sowohl den Krieg in Afghanistan als auch den Kalten Krieg gegen den Westen, «Gorbi» war klar ein falscher Zar und ist in Russland bis heute verpönt und wird gehasst.

Mit dem Krimanschluss hat sich Putin in den Augen der Bevölkerung als echter Zar legitimiert. Aber das Fehlen des Sieges im ukrainischen Feldzug unterminiert drastisch seine Legitimität. Die oppositionellen patriotischen Telegram-Kanäle mit Hunderttausenden Abonnent:innen schreien bereits vom Hochverrat und verlangen den Sieg bis zum bitteren Ende. Je mehr Särge aus der Ukraine nach Russland zurückkehren, desto lauter ist der Aufschrei: «Die Unsrigen werden geschlagen!» Die Suche nach dem echten Zaren hat bereits begonnen.

Man wurde von einem konkreten Mann enttäuscht, weil er den Vorstellungen seiner Bewunderinnen und Bewunderer nicht entsprechen konnte. Der Mann verschwindet, aber seine Verehrer:innen mit ihren Vorstellungen und Erwartungen bleiben. In Russland wird die Entputinisierung von einem neuen Putin mit einem anderen Namen durchgeführt werden. Im Westen wird auch nach Putins Verschwinden jemand durch sein Machoimage begeistern und dem US-amerikanischen Imperialismus trotzen müssen. Jemand muss ja gegen die Homoehe, gegen die Nato, gegen die US-Hegemonie halten! Ist das Bedürfnis der Menschen nach politischer Maskulinität überhaupt heilbar?

Putin wird verschwinden, aber die in ihn projizierten Sehnsüchte werden sich nicht in Luft auflösen. Der Schauspieler, der all diese Putins auf der historischen Bühne spielte, hat in jeder Hinsicht versagt. Die Rolle wird nun auf eine Neubesetzung warten.

Scharfsinniger Kritiker

Michail Schischkin (61) gehört zu den profiliertesten russischen Schriftsteller:innen der Gegenwart, seine Romane wurden vielfach ausgezeichnet. Nach dem Germanistik- und Anglistikstudium in Moskau arbeitete er als Journalist, seit 1995 lebt er in der Schweiz. Am WOZ-Fest vom kommenden Samstag, 7. Mai, wird Schischkin an einem Podium zum Krieg gegen die Ukraine sprechen.