Aufhebung der Covid-Patente: «Wenn nicht alle sicher sind, ist niemand sicher»

Nr. 25 –

Die Mitglieder der Welthandelsorganisation (WTO) haben sich auf eine Aussetzung der Patente von Covid-Impfstoffen geeinigt. Das sei zu wenig, sagt die Altbundesrätin und Expertin für globale Gesundheitsfragen Ruth Dreifuss. Und sie kritisiert die Schweizer Regierung.

Ruth Dreifuss
«Die Pharmaindustrie müsste verpflichtet werden, ihr ganzes Know-how zur Impfstoffproduktion auf den Tisch zu legen»: Ruth Dreifuss. Foto: Anne Morgenstern

WOZ: Frau Dreifuss, erleben wir mit dem WTO-Entscheid zur Aussetzung der Patente auf Covid-Impfstoffe von letztem Freitag die lang erwartete internationale Solidarität im Kampf gegen das Virus?
Ruth Dreifuss: Ich würde eher sagen, dass es sich bei der Einigung der WTO-Mitgliedstaaten um einen Minimalkompromiss handelt. Denn er beschränkt sich auf die Coronaimpfung und schliesst Medikamente und Tests nicht ein. Dabei hatten Indien und Südafrika das gefordert, und wir wissen aus Erfahrung, wie wichtig gerade Tests und Diagnosemöglichkeiten in der Pandemiebekämpfung sind. Positiv ist, dass die WTO bereits für kommendes Jahr einen Verhandlungstermin anberaumt hat, um diese Themen anzugehen. Die jetzige Einigung bringt aber selbst in Bezug auf die Impfpatente nicht viel Neues: Die beschlossene Aufhebung des Patentschutzes geht in der Praxis nicht weit über die Massnahmen hinaus, die Regierungen im Interesse der Weltgesundheit heute schon treffen können.

Erklären Sie das bitte.
Die Erklärung von Doha aus dem Jahr 2001 gewichtet die Weltgesundheit höher als den restriktiven Schutz des geistigen Eigentums. Seither ist es den Mitgliedstaaten der WTO ausdrücklich erlaubt, Medikamente und Impfungen mittels Zwangslizenzen zugänglich zu machen – ohne Zustimmung der Pharmaunternehmen, die dafür eine gerechte finanzielle Entschädigung erhalten. Der aktuelle Entscheid zur vorübergehenden Aufhebung der Patente bei Covid-19-Impfstoffen bedeutet lediglich, dass Regierungen in einem vereinfachten Prozess, und nicht mehr nur bilateral, Produktionslizenzen erteilen können. Darin sehe ich wahrhaftig keinen grossen Schritt in der Bekämpfung der Pandemie.

Die Patente werden also nicht automatisch aufgehoben. Kritisiert wird von Ländern des Südens und NGOs zudem, dass die Pharma nicht zu einem Technologietransfer verpflichtet ist.
Für die Länder des Globalen Südens stellen bei der Impfstoffherstellung nicht nur die Patente auf die Rezeptur ein Hindernis dar. Die Pharmaindustrie müsste auch verpflichtet werden, ihr ganzes Know-how zur Produktion auf den Tisch zu legen, denn die Herstellung von Impfstoffen ist aufwendig und kompliziert. Es bräuchte zum Beispiel Informationen zu den verschiedenen Tests und Versuchen, die gemacht werden. Ansonsten nimmt der Aufbau der Produktion an neuen Standorten zu viel Zeit in Anspruch.

Die Pharmalobby argumentiert, dass eine Aufhebung der Patente auf die Coronaimpfstoffe ohnehin zu spät komme, weil inzwischen genug Impfstoff auf dem Markt sei.
Es stimmt, dass es inzwischen in den reichen Ländern eine Überproduktion von Impfstoffen gibt, die sogar dazu geführt hat, dass abgelaufene Impfdosen zerstört werden. Aber in den ärmeren Ländern gibt es noch immer nicht genügend Impfstoff. Das hat einerseits mit den Preisen zu tun und andererseits damit, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO nicht sehr erfolgreich darin war, Medikamente aufzukaufen und zu verteilen. Ihre Covax-Initiative bleibt weit hinter den Erwartungen zurück. Dazu kommen die Herausforderungen bei den Impfkampagnen in den einzelnen Ländern. Wenn die Pharmalobby nun argumentiert, die Aufhebung des Patentschutzes sei mittlerweile ohnehin nicht mehr nötig, ist das aber noch aus einem anderen Grund absurd: Es tauchen immer neue Virusvarianten auf, die neue Impfstoffe erfordern. Man darf also nicht nur von der bereits erfolgten Produktion sprechen, sondern muss auch nach vorne blicken.

Obwohl kein Schweizer Unternehmen einen Covid-Impfstoff entwickelt hat, setzte sich das Land vor dem Gipfel prominent gegen eine Aufweichung des Schutzes von geistigem Eigentum ein …
Da möchte ich gleich einschieben: Als die Pharmaindustrie Anfang des letzten Jahrhunderts noch in der Entwicklungsphase und ihre Lobby noch nicht so stark war, war die Schweiz auch noch nicht so auf den Schutz des geistigen Eigentums fixiert.

Wirtschaftsminister Guy Parmelin fand, man dürfe den Pharmaunternehmen, die viel Geld in Forschung investierten, nicht die Anreize dafür wegnehmen.
Natürlich investiert die Pharmaindustrie in die Forschung, aber nicht alleine. Ich möchte betonen, dass gerade bei den neuen Impfstoffen ein sehr grosser Teil der Forschung nicht von der Pharmaindustrie bezahlt wurde, sondern mit öffentlichen Mitteln. Und für die frühen Bestellungen, bevor die Effizienz der Impfstoffe bestätigt war, haben die Staaten das Risiko der Unternehmen übernommen. Die entsprechenden Länder sollten ihre Investitionen auch ärmeren Ländern zugutekommen lassen. Stattdessen profitiert einzig die Pharmaindustrie und macht horrende Gewinne.

Die Pandemie drängt sich mit neuen Varianten wieder in unser Bewusstsein zurück. Wie kommen wir je aus dieser Situation heraus?
Wir müssen uns auf unsere geteilte Vulnerabilität besinnen. Es gibt nur eine Welt. Und für alle Pandemien gilt: Wenn nicht alle sicher sind, dann ist niemand wirklich sicher. Solange das Virus sich fortpflanzen, solange es mutieren kann – und das tut es –, bleibt die Gefahr, dass die Pandemie immer wieder aufflammt.

Die Impfbereitschaft stagniert in den Industriestaaten auf tiefem Niveau, auch weil die Impfung aufgrund der neuen Varianten an Wirkung verliert. Wie sollen Menschen in den ärmeren Ländern da noch von der Impfung überzeugt werden?
Sobald man über dieses Nord-Süd-Gefälle spricht, muss man natürlich auch über Armutsbekämpfung sprechen, das ist ebenso wichtig wie Impfstofflieferungen. Das Schöne an den Impfungen aber ist, dass sie eine direkte Wirkung in sehr kurzer Zeit haben. Ich möchte betonen, dass die Erfindung von Impfstoffen einer der grössten Fortschritte für die Weltgesundheit ist. Sie haben mehr gebracht als alle anderen medizinischen Errungenschaften der Neuzeit. In dem Sinn finde ich das Argument, dass sich die Menschen im Globalen Süden doch ohnehin nicht impfen lassen wollten, zynisch. Natürlich gibt es dort wie überall auch Ideologien, die Impfkampagnen erschweren. In Pakistan etwa wurden einst bei der Auslieferung von Vakzinen gegen die Kinderlähmung Mitglieder eines Impfteams von Islamisten ermordet. Meist fehlt es aber nicht am Willen, sondern an den Möglichkeiten. Die praktischen Schwierigkeiten, etwa das Lagern von Impfdosen in heissen Klimazonen, sind real und müssen angegangen werden.

Sie engagieren sich schon sehr lange für den globalen Zugang zu Impfstoffen und Medikamenten. Sehen Sie über die Covid-Herausforderungen hinaus Fortschritte?
Seit der Unterzeichnung der Doha-Erklärung haben wir leider wenige konkrete Fortschritte erzielt. Das Mittel der Zwangslizenzen wird kaum genutzt. Einerseits weil die Hürden im Einzelfall hoch sind: Ein Medikament ist oft verbunden mit Dutzenden, wenn nicht Hunderten Patenten. Um sie auszusetzen, muss man jedes einzelne kennen und jeweils der WTO melden. Der ehemalige Uno-Generalsekretär Ban Ki-moon sagte einmal, das sei eine praktisch unmögliche Aufgabe.

Und andererseits?
Die westlichen Staaten schützen die Pharmaindustrie. Nehmen wir die Schweiz. Wir sind zwar eines der wenigen Länder, das ein Gesetz für die Erlassung von Zwangslizenzen zum Export von Medikamenten und Impfstoffen in ein Land mit gesundheitlichem Notstand geschaffen hat. Ich war damals bei der Ausarbeitung dabei und freute mich sehr über den Erfolg. Angewandt wurde das Gesetz bislang aber nie. Im Gegenteil: Als Kolumbien eine Zwangslizenz für ein Krebsmedikament von Novartis anstrebte, setzten die Schweizer Behörden das Land unter Druck. Die ärmeren Länder schrecken aus Angst vor wirtschaftlichen Konsequenzen oft vor dem Mittel der Zwangslizenz zurück, während von den westlichen Staaten, soweit ich mich richtig erinnere, lediglich Kanada einmal eine solche für ein Aidsmedikament für Ruanda erteilt hat.

Glauben Sie, dass der Patentbeschluss bei den Covid-19-Impfstoffen eine Signalwirkung für die Zukunft der Weltgesundheit haben könnte?
Wie gesagt: Die Verhandlungen gehen nächstes Jahr weiter, das ist vielleicht das wichtigste Ergebnis. Der jetzige Entscheid hat aber einen symbolischen Wert. Er wiederholt den Grundsatz der Doha-Erklärung, die die Gesundheit höher bewertet als den Schutz des geistigen Eigentums.

Was fordern Sie vom Bundesrat im Hinblick auf die nächsten Verhandlungen?
Es gibt Situationen, in denen die Gesundheit als höchste Priorität betrachtet werden muss. Der Bundesrat muss endlich die Pandemiebekämpfung höher gewichten als die Interessen der Schweizer Pharmalobby – auch aus Eigennutz.

Die Uno-Expertin

Ruth Dreifuss (82) war von 1993 bis 2002 Mitglied des Bundesrats, 1999 wurde sie als erste Frau Bundespräsidentin der Schweiz.

Nach ihrem Rücktritt leitete sie auf Ersuchen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die Kommission, die 2006 den Bericht «Public Health, Innovation and Intellectual Property Rights» (Öffentliche Gesundheit, Innovation und geistige Eigentumsrechte) veröffentlichte. Im Auftrag des damaligen Uno-Generalsekretärs Ban Ki-moon war sie Kopräsidentin jenes hochrangigen Gremiums, das der Uno 2016 den Bericht «Zugang zu medizinischen Produkten» vorlegte.

Heute ist Ruth Dreifuss in mehreren internationalen Nichtregierungsorganisationen aktiv, unter anderem in der Weltkommission für Drogenpolitik und der Internationalen Kommission gegen die Todesstrafe.

Hohe Fallzahlen, tiefe Impfquoten : Nicht nachlassen in der Pandemiebekämpfung

Die Zahl der Coronainfektionen steigt derzeit weltweit wieder an. Grund sind die Omikronuntervarianten BA.4 und BA.5. Erste Studien weisen darauf hin, dass beide noch einmal ansteckender sind als die ursprüngliche Omikronvariante des Virus. Gemäss Expert:innen gilt das in besonderem Mass für die Variante BA.5 – die derzeit in Portugal trotz einer der höchsten Impfraten der Welt für rasant steigende Ansteckungszahlen sorgt. Auch im übrigen Europa wird eine Sommerwelle erwartet.

Gegen die neuen Virusvarianten bieten die Covid-Impfungen kaum Ansteckungsschutz – doch schützen sie gemäss Studienergebnissen bislang noch immer vor schweren Verläufen. Noch weitgehend unklar ist hingegen, ob BA.4 und BA.5 wie ihre Omikronvorgängervarianten weniger Long-Covid-Fälle zur Folge haben als frühere Coronamutationen.

Die rasch aufeinanderfolgenden Virusmutationen stellen die Impfstoffhersteller:innen vor Herausforderungen: Zwar können die Vakzine relativ rasch an neue Varianten angepasst werden. Dennoch werden die für Ende Sommer angekündigten Impfstoffe von Pfizer/Biontech und Moderna von den neuen Varianten bereits überholt sein. Derweil ist die Impfquote im Globalen Süden noch immer enorm tief: In den ärmsten Ländern, etwa im Jemen, in Haiti und der Demokratischen Republik Kongo, liegt sie zwischen einem und zwei Prozent. In zahlreichen afrikanischen und asiatischen Ländern liegt sie zwischen zehn und zwanzig Prozent. An entsprechend vielen Orten kann das Virus uneingeschränkt mutieren. Die WHO warnt die Länder deshalb eindringlich davor, «im Kampf gegen die Pandemie nachzulassen», und fordert globale Strategien. Und Virolog:innen sind sich einig, dass in diesem Sinne auch der Kampf für globale Impfgerechtigkeit verstärkt geführt werden muss.

Sarah Schmalz