Krise um Taiwan: «Letztlich dominiert immer die existenzielle Bedrohung»

Nr. 32 –

Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung? Der geopolitische Machtkampf bindet in Taiwan fast alle politische Energie. Dabei würde die junge Generation viel lieber für eine progressive Gesellschaft kämpfen, sagt der Aktivist Brian Hioe.

WOZ: Brian Hioe, anders als zuvor angedeutet, hat die chinesische Armee ihre Militärübungen in der Meerenge vor Taiwan in dieser Woche fortgesetzt. Macht Sie das nervös?
Brian Hioe: Es gibt schon so lange militärische Drohungen von chinesischer Seite, dass die Menschen sich daran gewöhnt haben. Mir geht es nicht anders. Tatsächlich halte ich es aber für eine reale Möglichkeit, dass sich das Eskalationsmuster weiterzieht. China hat Schiffe ins Gelbe Meer in der Nähe Südkoreas geschickt und weitere in die Nähe der Senkaku/Diaoyu-Inseln, die zwischen China und Japan umstritten sind. China scheint nicht die Absicht zu haben, einen Rückzieher zu machen. Da besteht die Gefahr, dass zum Beispiel die USA etwas unternehmen und dann Japan, Südkorea, die Philippinen oder ein anderes Land in der Region. Und jede Seite handelt im Selbstverständnis, lediglich zu reagieren.

Wurde die jüngste Eskalationsspirale denn tatsächlich durch den Besuch von US-Politikerin Nancy Pelosi letzte Woche in Taiwan ausgelöst? Ist sie verantwortlich für die Zuspitzung der Situation?
Ich denke schon, dass ihr Besuch etwas Rücksichtsloses an sich hatte. Für Taiwan hatte er eigentlich keinen konkreten Nutzen, es war in erster Linie eine symbolische Sache, und die Regierung war möglicherweise gar nicht in der Lage, Nein zu sagen. Gleichzeitig denke ich aber, dass die chinesische Regierung früher oder später einen anderen Vorwand für eine Eskalation gefunden hätte.

Die aktuelle Situation hat auch innenpolitische Komponenten: Sowohl in den USA als auch in China kämpfen führende Politiker:innen in diesem Jahr um den Machterhalt. Ist Taiwan zu ihrem Spielball geworden?
Auf jeden Fall. In den USA dürfte die Demokratische Partei versuchen, vor den anstehenden Zwischenwahlen mit einem harten Auftreten gegenüber China zu punkten. Auf der anderen Seite wird erwartet, dass sich Chinas Präsident Xi Jinping vor dem 20. Nationalkongress der Kommunistischen Partei (KPCh), der noch in diesem Jahr stattfinden soll, eine dritte Amtszeit sichern will. Vielleicht ist eine Machtdemonstration gegenüber Taiwan und den USA genau das, was er dafür braucht.

Wie wird Pelosis Besuch in Taiwan diskutiert?
Ein grosser Teil der Bevölkerung hat ihn als Zeichen der Unterstützung gegenüber der chinesischen Aggression begrüsst. In politischen Kreisen ist man hingegen eher vorsichtig, weil man nicht in diese Art der Eskalation hineingezogen werden will.

Hat Präsidentin Tsai Ing-wen in Ihren Augen richtig reagiert?
Sie hatte gar nicht viele Optionen. Es gab ja eine offene Meinungsverschiedenheit zwischen Pelosi und US-Präsident Joe Biden, der den Besuch für eine schlechte Idee zu halten schien. In dieser Situation kann Taiwan keine der beiden Seiten vor den Kopf stossen, beide sind in der amerikanischen Politik sehr mächtig. Daher hat sich Tsai in dieser Angelegenheit relativ ruhig verhalten und nicht wirklich etwas gesagt.

Auf der anderen Seite wird sich Chinas Regierung ohnehin nicht von ihrem Taiwankurs abbringen lassen.
Man muss hier den historischen Charakter der chinesischen Ansprüche auf Taiwan betonen. Seit dem Ende des chinesischen Bürgerkriegs 1949 und der Flucht der unterlegenen Kuomintang-Regierung (KMT) nach Taiwan beansprucht Chinas Kommunistische Partei die Insel für sich. Aber schon Präsident Mao Zedong hat in den siebziger Jahren verlauten lassen, dass dies für hundert Jahre oder noch länger aufgeschoben werden könne. Zuletzt hat China seinen Anspruch auf Taiwan erneuert. Ich denke, dass dies Teil der Strategie ist, die chinesische Dominanz in Richtung Pazifik zu erweitern. Und jetzt, da dieses nationalistische Narrativ Einzug gehalten hat, wird es schwer sein, die KPCh davon abzubringen.

Was ging Ihnen Ende Februar durch den Kopf, als Russland die Ukraine angriff?
In Taiwan wurde sofort darüber spekuliert, ob nun Taiwan als Nächstes dran ist. Man fragte sich: Wird China den Zeitpunkt nutzen, um uns anzugreifen? Dabei wissen wir, dass China nicht von heute auf morgen in Taiwan einmarschieren wird. Das würde sich schon weit im Voraus abzeichnen, wenn Truppen auf der anderen Seite der Formosastrasse zusammengezogen würden. Zumindest im Moment hat China auch nicht wirklich die Kapazitäten, um genügend Truppen für eine langfristige Besetzung auf die Insel zu bringen. Es ist also nicht genau die gleiche Situation wie in der Ukraine.

Auch vor der russischen Invasion wurde oft gemutmasst, dass eine solche nicht passieren werde, weil das schlicht irrational wäre. Sehen Sie da eine Parallele?
Auf jeden Fall. Tatsächlich wäre es für China nicht rational, jetzt in Taiwan einzumarschieren. Die chinesische Armee, die Volksbefreiungsarmee (PLA), würde unglaublich viele Truppen verlieren: Die Schätzungen gehen nicht einmal nur in die Zehntausende getöteter Soldaten, sondern in die Hunderttausende. Es wäre die grösste Seeinvasion seit dem D-Day im Zweiten Weltkrieg, und die moderne Militärwissenschaft sieht den Angreifer in solch einem Szenario im Nachteil. Einige Analyst:innen sind sogar der Meinung, dass Taiwan in der Lage sein könnte, die PLA ohne Eingreifen der USA aus eigener Kraft abzuwehren.

Brian Hioe
Brian Hioe

Hinzu kämen die wirtschaftlichen Folgen für China.
Genau, Taiwan ist für die Weltwirtschaft so wichtig, dass ein Angriff auf das Land enorme Auswirkungen hätte. Insbesondere für Chinas Wirtschaft, die eng mit jener in Taiwan verflochten ist. Genau wie der Rest der Welt ist China sehr stark von Halbleiterchips abhängig, die hier produziert werden. Gerade nach der Coronapandemie wäre der ökonomische Rückschlag riesig.

Das Problem ist nur: All diese Überlegungen setzen voraus, dass die chinesische Regierung rational und im Interesse der Bevölkerung handelt. Wenn aber Xi seine Macht ausweiten und immer mehr bei sich zentralisieren will, dann könnte ihm eine grosse Krise womöglich dabei helfen. Eine solche würde ein Angriff auf Taiwan auf jeden Fall auslösen.

Taiwans Präsidentin Tsai gehört der DPP an, der sozial-liberalen Demokratischen Fortschrittspartei, die tendenziell unabhängigkeitsorientiert ist. Muss sie entsprechend auch Erwartungen der Öffentlichkeit erfüllen?
Da muss man vorsichtig sein. Historisch gesehen ist die DPP zwar eher in Richtung Unabhängigkeit ausgerichtet, im Gegensatz zur KMT, die sich im letzten Jahrzehnt verstärkt chinafreundlich positioniert hat. Tsai selbst betont aber vor allem die Aufrechterhaltung des Status quo: Das bedeutet de facto die Unabhängigkeit von der Volksrepublik China, nicht aber eine Ausrufung der Unabhängigkeit. Und auch keine Wiedervereinigung mit China. Die Präsidentin ist also keine Falkin und in diesem Sinne derzeit ganz gut für das Amt geeignet.

Sie waren Teil der studentischen Sonnenblumenbewegung, die 2014 die Massen mobilisierte, um eine stärkere wirtschaftliche Verflechtung Taiwans mit China abzuwenden. Warum war es so wichtig, das damals strittige Abkommen zu verhindern?
Es hätte chinesischen Unternehmen erlaubt, in Taiwans Dienstleistungssektor zu investieren. Und das hätte sich möglicherweise auf politische Freiheiten ausgewirkt. Zum Beispiel gab es bereits taiwanesische Medien, die sich selbst zensierten, weil sie von Industrieunternehmen aufgekauft wurden, die Ambitionen auf dem chinesischen Markt hatten. So fürchtete man, dass chinesische Investitionen in den Dienstleistungssektor, der einen grossen Teil der hiesigen Wirtschaft ausmacht, zur Selbstzensur führen könnten. China würde allein mit wirtschaftlichen Mitteln quasi eindringen können. Studentische Aktivist:innen besetzten deshalb wochenlang den Plenarsaal des Parlaments, und ich war vom ersten Tag an dabei. Auf dem Höhepunkt brachte die Bewegung 500 000 Menschen auf die Strasse, etwa zweieinhalb Prozent der gesamten Bevölkerung Taiwans. Und ich würde sagen, wir waren erfolgreich. Mit dem Schwung der Bewegung übernahm Tsai Ing-wen den Vorsitz der DPP und wurde später Präsidentin. Und das Abkommen wurde nicht ratifiziert.

Sind Leute aus der Bewegung auch heute noch aktiv?
Ja, durchaus. Manche gingen in die Politik, andere sind in NGOs aktiv, die sich zum Beispiel gegen den Einfluss Chinas einsetzen oder Geflüchteten aus Hongkong helfen. Ich selbst habe das «New Bloom Magazine» mitgegründet, das ich auch acht Jahre später noch betreibe.

Wie kann man Visionen für ein Land entwickeln, dessen Zukunft immer wieder auf der Kippe zu stehen scheint?
Viele junge Menschen in Taiwan fordern eine fortschrittlichere und gerechtere Gesellschaft. Bereits in den Jahren vor der Sonnenblumenbewegung haben sie sich zum Beispiel für LGBTIQ*-Rechte, gegen Gentrifizierung, für den Umweltschutz, in Arbeitskämpfen und dergleichen eingesetzt. Das sind Anliegen, die sich eigentlich viel eher in einem Links-rechts-Schema positionieren liessen und nicht entlang der Frage zwischen Unabhängigkeit und chinesischer Einheit, die in Taiwan alles dominiert.

In der Sonnenblumenbewegung fand das gewissermassen zusammen. Letztlich hat aber die existenzielle Bedrohung durch China in den politischen Auseinandersetzungen oft doch Priorität. Um eine gemeinsame Front gegen die KMT zu bilden, traten vor einigen Jahren denn auch viele junge Leute der DPP bei – obwohl sie der Partei eigentlich sehr kritisch gegenüberstehen, weil sie nicht fortschrittlich genug oder zu neoliberal ist.

Sind Sie selbst einer Partei beigetreten?
Nein, nie. Ich versuche stattdessen, kulturellen Raum zu schaffen. In einem Arbeiter:innenviertel in Taipeh versuchen wir, eine Gemeinschaft aufzubauen und Leute zu versammeln, um uns gemeinsam mit politischen Ideen auseinanderzusetzen.

Worin bestehen derzeit die dringlichsten Fragen?
Man sollte sich unbedingt auf soziale Themen konzentrieren: Zum Beispiel wächst die Zahl der Einwander:innen sehr schnell, eines von zehn Kindern in der Grund- und der Mittelschule hat einen Elternteil, der in Südostasien geboren wurde. Das gilt auch für mich, ich habe einen Elternteil aus Indonesien. In den Jahren nach der Sonnenblumenbewegung haben ausserdem viele junge Menschen gegen die neoliberalen Arbeitsreformen der derzeitigen Regierung protestiert. Auch das wurde leider verdrängt, weil man gegen die KMT kämpfen musste. Dabei wäre es so wichtig, eine fortschrittliche soziale Plattform zu haben.

Student:innen blockieren im März 2014 den Eingang zum Parlamentssaal in Taipeh
Student:innen blockieren im März 2014 den Eingang zum Parlamentssaal in Taipeh, um eine Öffnung Taiwans für chinesische Investitionen zu verhindern. Foto: David Chang, Keystone

Stattdessen sind Sie nun Militärexperte wider Willen?
Das ist schon seltsam. Als Linker weiss ich tatsächlich überraschend viel über das Militär. Denn es ist wichtig zu hinterfragen, was die Entscheidungsträger:innen behaupten. Der Befehlshaber des Indopazifischen Kommandos der USA etwa hat letztes Jahr gesagt, dass China innerhalb von sechs Jahren in Taiwan einmarschieren werde. In meinen Augen scheinen solche Zeitangaben wenig sinnvoll. Aber es ist eine Möglichkeit, den eigenen Posten relevant zu machen und Militärbudgets zu rechtfertigen. Aufseiten Chinas handelt es sich bei manchen Aussagen um eine Form der psychologischen Kriegsführung, die darauf abzielt, Taiwan einzuschüchtern. Und auch unsere Streitkräfte gilt es übrigens kritisch zu betrachten: Es mangelte in der Vergangenheit oft an Transparenz. Es gab beispielsweise Todesfälle von Kadetten, deren Umstände offenbar vertuscht wurden. Es ist notwendig, die Militärs in der ganzen Region und auf allen Seiten in die Verantwortung zu nehmen.

Der Medienschaffende

Brian Hioe (30) war 2014 Teil der studentischen Sonnenblumenbewegung, die sich in Taiwan gegen die Pläne der damaligen Regierung formierte, die wirtschaftliche Anbindung an China zu vertiefen.

Seither hat er mehrere Medienprojekte gegründet, darunter das Onlineportal «New Bloom Magazine» für Jugendaktivismus in Taiwan und der Region Asien-Pazifik. Hioe schreibt zudem für diverse internationale Publikationen über taiwanesische Politik, darunter etwa die «Washington Post» oder «The Nation» in den USA.