Sulukule: Auf der Langstrasse von Istanbul

Nr. 26 –

Sie leben schon länger am Bosporus als die TürkInnen, und doch werden die Roma nun aus ihrem alten Quartier an der Stadtmauer vertrieben. Für die türkische Gesellschaft ist dieser Umgang mit Minderheiten nicht neu - das Problem, das sind immer nur die anderen.

Wer nach Sulukule kommt, dem fällt der alte Spruch ein: Einmal kein Fortschritt, das wäre einer! Dabei ist das Viertel alles andere als schön, es ist nicht einmal folkloristisch oder, wie UrlauberInnen aus Westeuropa vielleicht sagen würden, authentisch. Aber TouristInnen kommen sowieso nicht mehr nach Sulukule, obwohl das Viertel vor rund fünfzehn Jahren den meisten Reisenden bekannt war – so, wie viele die Langstrasse in Zürich oder die Reeperbahn in Hamburg kennen.

Sulukule heisst Wasserturm, und wahrscheinlich gab es in diesem Stadtteil im Schatten der Stadtmauern ein Wasserdepot. Später wurde das Quartier zum einzigartigen Vergnügungsviertel Istanbuls, hier herrschte einst eine andere Stimmung als in der sonst eher ernsten und verschlossenen Stadt.

Denn Alkohol gab es damals längst nicht in allen Restaurants, und allenfalls in ein paar Touristenhotels schwang eine Bauchtänzerin ihre Hüften, wenn dies ein Reiseveranstalter rechtzeitig organisiert hatte. Nicht selten kam dann die Tänzerin aus Sulukule. In Sulukule selbst war überall Musik, der Alkohol floss in Strömen, die hübschen Mädchen schüttelten ihre langen schwarzen Haare beim Tanz, und wer spendabel war, konnte sich bis zum Morgengrauen vergnügen.

Heute ist Sulukule einfach dreckig und heruntergekommen, es gibt kaum ein Haus, an dem auch nur ein einziger Fensterladen gerade hängt. Wer vor der byzantinischen Stadtmauer Konstantinopels steht und auf die niedrigen und krummen Häuser blickt, die zwischen den alten Mauerdurchbrüchen hervorschauen, kann hin und wieder einen der Bewohner beobachten, der sich zwischen den Steinen des alten Verteidigungswalles ein Plätzchen sucht, um seine Notdurft zu verrichten. In manchen Häusern gibt es keinen Wasseranschluss mehr, erfahre ich später.

Wie lange hält man es in so einem Viertel aus? Nicht lange – so hofft offenbar die Stadtverwaltung, die alle Häuser dieses Stadtteils abreissen lassen will. Sie praktiziert seit Jahren die türkische Version eines Entmietungsprogramms. Dabei sind die, die da rausgemobbt werden sollen, keine MieterInnen, sondern im Grundbuch eingetragene Haus- und WohnungsbesitzerInnen.

Den neuen Plänen zufolge sollen die EinwohnerInnen von Sulukule einem Wohnbezirk der besonderen Art weichen: Vorgesehen ist eine Mischung aus Disneyland im gefälligen osmanisch-europäischen Stil: Teure Villen mit farbigen Holzfassaden, Apartment-Hotels, Einkaufszentren, da und dort ein Swimmingpool und eine Zufahrt zu einer Tiefgarage. Neu ist dieser Plan nicht. Neu ist, dass die Abrissbirne inzwischen zum ersten Mal zugeschlagen hat und das von ihr angerichtete Trümmerfeld den übrigen BewohnerInnen droht.

Vom Tanzlokal auf die Müllhalde

«Kommen Sie rein», sagt die Romafrau Gülsüm Öztürk, die gerade die Treppe in ihrem Haus schrubbt. Gülsüm sagt, sie sei 54 Jahre alt, «genau weiss ich das nicht». Aber sie weiss, dass schon ihr Grossvater in diesem Haus geboren wurde – und zuletzt, vor achtzehn Jahren, ihr jüngster Sohn, mit dem sie noch immer zusammenlebt. «Er hat die Zeit nicht mehr erlebt, als alle Urlauber nach Sulukule kamen. Denn hier herrschte nicht nur eine andere Stimmung als im Rest der Stadt – hier war auch alles billiger als in den noblen Hotelbars.» Bier und Döner zum Beispiel kosteten nicht einmal die Hälfte dessen, was man in einem Hotel dafür bezahlte.

Gülsüm hatte damals in den Kneipen von Sulukule T-Shirts verkauft und Hosen, so wie ihre Mutter. Fast alle BewohnerInnen von Sulukule verdienten mit der Unterhaltung der Reisenden aus Europa und dem Vergnügen freigebiger Istanbuler ihren Lebensunterhalt, die Mädchen bekamen allein fürs Tanzen umgerechnet fünfzehn Franken in der Stunde. Aber jetzt, sagt Gülsüm, «gibt es keine Arbeit mehr für uns. Der Junge bewirbt sich überall, aber wenn er sagt, wo er herkommt, dann schicken sie ihn wieder fort.» Also jobben die meisten als GelegenheitsarbeiterInnen, waschen Autos oder laufen auf den Autobahnen mit Getränken und Blumen zwischen den Fahrzeugen herum, wenn sich wieder mal ein Stau gebildet hat. Sie spielen bei Hochzeiten und anderen Festen auf, sammeln Lumpen oder wühlen in den Müllbergen der Stadt nach Bierdosen und anderem Material, das sich verkaufen lässt.

Ihr Sohn Özkan, das steht für Gülsüm fest, wird ein Mädchen aus dem Quartier heiraten – etwas anderes habe sowieso keinen Sinn. Die Familie ihres Mannes, der nicht aus Sulukule kam, hatte sie nie akzeptiert; deshalb lebt sie jetzt allein mit ihrem Jüngsten. Sie nimmt ihr Kopftuch ab, zieht die Beine auf dem Sofa unter den Körper und zündet sich eine Zigarette an. «Ich habe keine andere Heimat als dieses Viertel. Hier kann ich wenigstens so leben, wie ich will.» Anderswo würden die Frauen sie nur anstarren wie eine unwürdige Greisin, brummt sie.

«Was man uns als Entschädigung anbietet, ist ein Hohn», sagt Gülsüm. 500 Lira, umgerechnet 460 Franken, zahlt ihr die Stadtverwaltung pro Quadratmeter; wollte oder könnte sie ihr Haus auf dem freien Markt verkaufen, bekäme sie mindestens das Vier- bis Fünffache. Aber sie will nicht, und sie könnte auch nicht mehr, seit die Stadt die Finger drauf hat. «Und dann, so habe ich gehört, wollen sie mir auch noch die Abrisskosten in Rechnung stellen. Dabei können wir für das Geld nirgends eine neue Unterkunft finden.»

Rund zwei Millionen Roma leben in der Türkei, wie viele davon in Istanbul, das weiss niemand genau. Im Viertel Sulukule sind es zwischen 10 000 und 15 000, aber hier rechnet man in Familien, nicht in Einzelpersonen. In Ankara wurde kürzlich ein Romaviertel abgerissen, 170 Familien wissen seither nicht wohin. In der Stadt Bursa am Marmarameer mussten vor nicht allzu langer Zeit hundert Romabaracken einem neuen «Kulturpark» weichen, ein Romaviertel in Istanbul (Kagithane) wurde im vergangenen Jahr geschleift, in Sulukule bangen rund 1500 Familien um ihr Zuhause.

Wer gibt einer Zigeunerin Kredit?

«Wie sollen wir leben, wenn man uns hier vertreibt?», fragt Gülsüm Öztürk. «Schauen Sie, ich habe Asthma, ich bin nicht versichert, und Özkan hat zurzeit keine Arbeit. Jetzt kauft mir mein Nachbar die Medikamente. Ich kriege beim Krämer an der Ecke auch Brot, wenn ich mal kein Geld habe; er weiss, dass ich meine Schulden bezahle. Wer hilft denn sonst einer Zigeunerin oder gibt ihr Kredit?» Viele BewohnerInnen der bereits abgerissenen Häuser hatten zunächst in einem Pferdewagen auf der Strasse geschlafen, bis die Stadtverwaltung dies untersagte. Nun haben etliche bei FreundInnen und Verwandten Unterschlupf gefunden.

Aber was für einen Unterschlupf! Weil die meisten ihre Wasser- und Stromrechnungen nicht bezahlen können, hat die Stadtverwaltung die Leitungen gesperrt. Sogar öffentliche Brunnen wurden abgestellt, damit die Armen nicht doch noch irgendwie zu Wasser kommen. «Die halten uns für dumme Zigeuner, weil wir nicht lesen und schreiben können», schimpft Gülsüm, «aber wir können denken.»

Eine Lobby haben die Roma nicht, das war schon immer so. In den ersten Jahren der türkischen Republik stellte ein sogenanntes Ansiedlungsgesetz die Roma auf eine Stufe mit «Anarchisten, Spionen und solchen, die der türkischen Kultur nicht angehören». In keinem der Programme, die die Parteien für die Wahl im kommenden Monat vorgelegt haben, taucht das Wort Roma auf. Jetzt sammeln Hilfsorganisationen manchmal Lebensmittel und Medikamente für sie – wie für Erdbebenopfer oder Kriegsflüchtlinge.

Klarinettenklang und Trommeln in der Ferne: Die Musiker üben für ihren Auftritt am Nachmittag. Manche Häuser sind über und über mit Zetteln markiert, auf denen die im Grundbuch eingetragenen Parzellennummern der Grundstücke stehen, welche die Stadtverwaltung für ihren neuen Bebauungsplan beansprucht. «Wir haben bei einigen Häusern die Kennzeichnung wieder abgerissen», sagt Özkan Öztürk. «Das macht einen doch fertig, wenn man den ganzen Tag auf diese weissen Zettel schauen muss.»

Protest auf wackliger Bühne

Es gibt zwar die Zusage der Stadtverwaltung, dass das eine oder andere Haus stehen bleiben werde – aber kaum jemand glaubt das. «Wie soll das gehen? Wenn da ein komplett neues Viertel entsteht, passt doch kein altes Haus dorthin – und wie sollen die alten Bewohner dort weiter wohnen können mit diesen neuen Nachbarn?» Mit solchen Versprechungen wolle die Stadtverwaltung nur die gemeinsame Opposition gegen den Abriss torpedieren.

Auf einem leeren Parkplatz steht eine wackelige Bühne. Die Musiker spielen auf. In den Zigarettenpausen greift sich einer das Mikrofon des Sängers und fordert die Bevölkerung von Sulukule auf, ja nicht auf die Zusagen der Stadtverwaltung hereinzufallen. Dann wird wieder getanzt, die Bühne ächzt und wankt. Ein japanisches Fernsehteam weicht einer Tänzerin mit langen schwarzen Haaren nicht von der Seite, ein Journalist aus Kanada will von seinem Übersetzer den Text des Liedes erfahren, das gerade gespielt wird. Sükrü Pündük, der Vorsitzende des Romakulturvereins, hat sie eingeladen.

Er kennt den Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz, der schon 1998 alle Staaten aufgefordert hat, bei Stadterneuerungen auch auf die Rechte der Sinti und Roma zu achten. Er weiss, wie viele Klagen von Sinti und Roma aus Bulgarien und Rumänien beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anhängig sind. Und er ist bedrückt, dass türkische Stadtverwaltungen in den letzten Monaten trotzdem – und von niemandem behelligt – Hunderte Romafamilien in die Obdachlosigkeit treiben konnten. «Hören Sie die Musik?», fragt er. «Die klingt für Sie fröhlich – und so sind wir ja auch. Aber wer uns kennt, der kann auch heraushören: So ausgelassen wie früher können selbst unsere Musiker nicht mehr spielen.»

Dieter Sauter – er war von 1992 bis 2005 Leiter des ARD-Studios in Istanbul – schreibt regelmässig für die WOZ. Von ihm erschien das Buch «Türkisches Roulette. Die neuen Kräfte am Bosporus» (Herbig-Verlag, München).

Das Mosaik von Istanbul

Anfang der neunziger Jahre waren die meisten meiner Freunde und Bekannten aufrichtig bemüht, ihr Mitleid nicht allzu offen zu zeigen, wenn ich ihnen meinen neuen Wohnort nannte: Istanbul. Heute gelingt es nicht allen, einen Anflug von Neid zu verbergen. Eine Künstlerin aus den USA, die ich auf einer Kunstmesse am Bosporus kennenlernte, schwärmte von Istanbul gar als «dem neuen New York Europas».

Europas? Alle wissen zwar, dass die Grenze zwischen Asien und Europa mitten durch die Stadt verläuft. Aber das war nicht immer so. Als Istanbul die Residenz byzantinischer Kaiser war, gehörten auch die Küsten Kleinasiens unzweifelhaft zu Europa. Und später, unter den osmanischen Sultanen, reichte der Orient fast bis vor die Tore Wiens.

Heute jedoch ist die Stadt ein Grenzort – keine Metropole des alten Europa wie Paris oder Rom, aber noch nicht das Morgenland, das den EuropäerInnen nach wie vor fremd ist. Istanbul ist ein Mosaik, zusammengesetzt aus verschiedenen Kulturen, Sprachen und Religionen.

In der Vergangenheit war es gleichzeitig der Sitz des Kalifen, des Beschützers aller MuslimInnen der Welt – und ein Zentrum der Christenheit. Noch Ende des 19. Jahrhunderts lebten rund 500000 ChristInnen (und nur 400000 MuslimInnen) in der Stadt – und nach wie vor ist sie, grob formuliert, der Sitz des orthodoxen Vatikan, also das Zentrum der rund 350 Millionen orthodoxen ChristInnen der Welt. Daneben hält die grosse Gemeinde der armenischen ChristInnen ihre eigenen Gottesdienste ab, assyrische ChristInnen sind am Bosporus zu Hause, ChristInnen aus Bulgarien haben eine eigene eiserne Kirche am Goldenen Horn errichtet, und die deutschen ProtestantInnen sind stolz, dass sie die älteste ausländische Kirchengemeinde bilden.

Istanbul war auch Zufluchtsort Abertausender von Juden und Jüdinnen, die Stadt die einzige Metropole Europas, in der es nie ein antisemitisches Pogrom gab. Schon vor über 600 Jahren hatten sich viele JüdInnen vor der spanischen Inquisition in Istanbul in Sicherheit gebracht – wie später JüdInnen, die vor den Nazis flohen.

Viele Roma zogen bereits zu Zeiten der byzantinischen Kaiser vom Balkan an den Bosporus und leben noch heute an der alten Stadtmauer. Reiche Araber (vor allem aus Ägypten) bauten vor 150 Jahren herrschaftliche Sommerresidenzen an der alten Wasserstrasse – heute verhandeln arabische Manager mit der Stadtverwaltung über den Kauf von Grund und Boden im Wert von rund einer Milliarde US-Dollar. Die PerserInnen haben ihr eigenes Stadtviertel und die PolInnen ein ganzes Dorf am Stadtrand, das früher Adampol hiess und heute einfach Polendorf genannt wird.

Anfang des 20. Jahrhunderts flohen schliesslich viele RussInnen vor der Oktoberrevolution an den Bosporus und gründeten ihre eigene Gemeinde. Sie wollten im Ausländerviertel Beyoglu das alte St. Petersburg wieder erstehen lassen. Noch immer sind ihre traditionsreichen Restaurants mit den besonderen russischen Speisen ein Anziehungspunkt.

Die AlevitInnen, eine besondere islamische Glaubensrichtung, haben ihre wichtigsten Kultureinrichtungen am Bosporus, und die vier Millionen KurdInnen sind mittlerweile die zahlenmässig wohl grösste ethnische Minderheit am Bosporus.

Doch das Mosaik ergibt selten ein schönes Bild. Es gibt nicht nur ein Kurdenproblem, es gibt auch ein Christen-, ein Aleviten-, ein Griechen-, ein Polen-, ein Roma-, ein Russen- und ein Araberproblem. Eigentlich aber, sagt Dogu Ergil, «gibt es ein Türkenproblem». Der Politikwissenschaftler aus Ankara befasst sich seit Jahrzehnten mit den Minderheiten in der Türkei. «Wir haben eine Staatsangehörigkeit, die sich auf das Türkentum beruft, der türkische Nationalismus ist ein Grundpfeiler unserer Politik. Und je mehr wir diesen türkischen Nationalismus hochhalten, umso mehr fühlen sich die anderen Kulturen und Religionen ausgegrenzt», sagt Ergil.

Da helfe auch kein Minderheitenstatus: «Normalerweise bedeutet ein Minderheitenstatus ja, dass die Minderheit besonders geschützt wird. Aber nicht hier in der Türkei. Werden denn die Griechen oder die Armenier, die offiziell als Minderheiten anerkannt sind, bei uns besonders geschützt? Nein, im Gegenteil, bei vielen wurde das Hab und Gut beschlagnahmt. Gibt es einen einzigen armenischen oder griechischen Staatsbeamten? In diesem Land ist es wirklich nichts Wünschenswertes, zu einer anerkannten Minderheit zu gehören.»

Istanbul hatte einst viele Namen. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts trug die Stadt den Beinamen Dersaadet: «Die Pforte der Glückseligkeit.» Etlichen würde es heute wohl schwerfallen, Istanbul so zu nennen.

Die Banlieue-Serie

Dies ist der vierte Beitrag unserer Serie über die Banlieues/Slums/Innercity-Ghettos der Welt.

Die Hoffnung der Opposition : Erdbebensicher und die Farbe Rot

WOZ: Herr Sükrü, seit wann lebt Ihre Familie hier?
Sükrü Pündük: Unsere Familie lebt seit 600 Jahren hier, ich kann etwa sechzig Generationen zurückverfolgen. Damals kamen zwei Brüder und ihre Schwester aus dem heutigen Bulgarien hierher. Das war Anfang des 15. Jahrhunderts, noch bevor die Türken die Stadt eroberten.

Einige der 570 Häuser, die abgerissen werden sollen, sind schon weg. Viel Zeit bleibt Ihnen nicht mehr.
Vor zwei Monaten sagte die Stadtverwaltung: In zwei Monaten wird weiter abgerissen. Jetzt sagt sie wieder: in zwei Monaten. Klar ist nur, sie wollen auf jeden Fall abreissen. Die Bewohner der bisher abgerissenen Häuser haben eine Sondervereinbarung akzeptiert, weil sie dachten, dass sie überhaupt kein Geld bekommen, wenn sie jetzt nicht zustimmen. Die Stadt hat einfach die Unerfahrenheit und, sagen wir es ruhig, auch die Dummheit der Menschen ausgenutzt. Wer hier hat schon das Geld für einen Rechtsanwalt?

Aber viele Häuser sind in einem wirklich schlechten Zustand.
Das ist Absicht. Zuerst hat uns die Stadt verboten, unsere Häuser zu renovieren, ja, auch nur irgendwas an ihnen zu verändern. Das sei ein denkmalgeschütztes Gebiet, hiess es. Und jetzt sagen sie: Das ist alles heruntergekommen, das muss weg! Das ist wie mit unseren Kneipen, die sie zwischen 1992 und 1994 geschlossen haben. Sie haben uns keine Lizenz für den Betrieb erteilt – und dann haben sie unsere Gaststätten zugemacht, weil sie illegal seien. Schon damals gab es den Plan, hier ein neues Viertel zu bauen.

Warum will man Sie vertreiben?
Die Lage unseres Viertels ist einzigartig. Es liegt direkt an der alten Stadtmauer. Von hier zum Flughafen sind es nur gut zehn Minuten, es gibt wichtige Schulen und Krankenhäuser in der unmittelbaren Umgebung, wir haben sogar einen Autobahnanschluss. Ausserdem haben Forschungsinstitute herausgefunden, dass das Viertel eines der erdbebensichersten Gebiete der Stadt ist. Was haben wir hier schon für Erdbeben erlebt – aber kein einziges Haus ist eingestürzt.

Sind Sie also dafür, dass alles so bleibt wie es ist?
Wir wollen, dass die Stadt uns hilft, unsere alten Häuser hier zu renovieren. Wenn wir sie wieder herrichten könnten, dann wären sie etwas Besonderes. Dass das geht, zeigt die Stadtverwaltung ja in anderen Quartieren, wo sie zusammen mit den Bewohnern alte Häuser renovieren lässt. Wir wollen, dass man Rücksicht nimmt auf unsere Kultur und unsere Geschichte. Diese Gemeinde hier hat über Jahrhunderte zusammengelebt. Alle kennen sich, helfen sich. Wir machen keinen Unterschied zwischen Tscherkessen, Lasen, Griechen, Roma, Türken. Wir finden es schön, wenn alles bunt ist. Wenn die ganze Welt nur eine Farbe hätte, und sei es auch die schönste Farbe, das wäre schrecklich.

Und was wäre die Farbe der Roma?
Rot. Unsere Kultur, das ist Musik, Tanz, Unterhaltung und Vergnügen. Schon unsere Kinder wachsen damit auf. Wir sehen die Welt wie durch eine rosarote Brille. Und tatsächlich ist es doch auch so: So wie Sie auf die Welt blicken, so sehen Sie sie auch.

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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