Die Mutter aller Krisen: Der tickende Zusammenbruch

Nr. 32 –

Globalisierung, entfesselte Spekulation und eine grenzenlose Beschleunigung waren vor 150 Jahren der Auslöser für die erste Weltwirtschaftskrise.

New York, 13. Oktober 1857, Mittagszeit an der Wallstreet: Wie auf geheimen Befehl drängeln von allen Seiten Menschen auf die Strasse. MitarbeiterInnen der Börse hasten an die Fenster und beobachten, wie die aufgebrachte Menge die Amerikanische Wechselbank stürmt. Kurz darauf zieht der Pulk zum nächsten Geldinstitut. Die SparerInnen wollen ihr Vermögen abheben, in Gold und Silber.

Nach wenigen Stunden sind achtzehn Banken an der Wallstreet pleite. Am nächsten Morgen kapitulieren die übrigen Stadtbanken von New York. Der Bankencrash kam «wie ein Wirbelsturm», schreibt ein fassungsloser Reporter der «New York Times».

Dabei hätte man gewarnt sein können: Im August des gleichen Jahres meldet die New Yorker Filiale der Ohio Life Insurance and Trust Company Konkurs an. Das Finanzunternehmen hat Millionen von US-Dollar in dubiose Eisenbahnprojekte investiert. Ein Grossteil der Gelder ist spurlos verschwunden. FinanzexpertInnen sprechen von einem unbedeutenden Vorfall.

Doch schon kurz darauf verkaufen in New York verunsicherte AnlegerInnen massenhaft ihre Wertpapiere. Was sich versilbern lässt, wird auf den Markt geworfen. Bis Ende August steigen die Zinssätze um mehr als zwanzig Prozent. Weitere Unternehmen gehen in Konkurs, Aktienkurse stürzen, 20 000 Menschen werden arbeitslos.

Neue Technologie

Die 1850er Jahre stehen im Zeichen von Geschwindigkeit und Mobilität. Immer grössere Dampfschiffe, der Ausbau des Eisenbahnnetzes und die Erfindung des Telegrafs haben den Transport von Personen und Daten unfassbar beschleunigt. Um das Börsengebäude an der Wallstreet von New York ragen unzählige Masten in den Himmel. Das Netz der Telegrafendrähte ist so dicht, dass nicht einmal eine Schwalbe hindurchfliegen kann. Seit 1844 wird diese neue Technologie an der New Yorker Börse genutzt. Zuvor konnten Aktien nur in New York selbst gehandelt werden, nun geht dies parallel auch an zahlreichen anderen Börsen weltweit.

1851 verlegen die BritInnen ein erstes Telegrafenkabel durch den Ärmelkanal. «Sie haben aus dem Ozean eine Gedankenautobahn gemacht», jubelt die Zeitschrift «Scientific American». Begriffe wie «Web», «World Brain» und »Weltkommunikation» werden populär. Der Telegraf wird zum Symbol für den Zukunftsoptimismus. Doch plötzlich rasen Horrornachrichten aus New York über die elektronischen Datenautobahnen und katapultieren die Katastrophe nach London - und in alle Welt.

Am stärksten brechen im August 1857 die Eisenbahnaktien ein. Eine Branche, die besonders viele Spekulant-Innen angelockt hat. Staringe-nieure wie Isambard Kingdom Brunel aus London sind die prägenden Figuren jener Zeit: Der kleine Mann mit Zylinder und Zigarre baut 130 Brücken, acht Häfen, drei Ozeandampfer - und 25 Eisenbahnlinien durch Britannien, Irland, Italien, Indien, Australien. Im Herbst 1857 arbeitet Brunel mit 2000 Mann in den Londoner Docks. Sein neues Schiff, die «Great Eastern», ist ein Dampfer für 4000 PassagierInnen, der den Globus umrunden soll, ohne ein einziges Mal Kohle nachzuladen. Doch nun rollt aus den USA eine Katastrophe heran, vor der selbst Ingenieure wie Brunel erzittern.

In Echtzeit um den Globus

Die Voraussetzungen für eine globale Wirtschaftskrise sind schnell aufgezählt: erstens internationale Handelsverflechtungen, zweitens ein Auslöser - etwa der Bankrott der Ohio Life - und drittens ein modernes Verbreitungsmedium wie der Telegraf.

Mit Hilfe des Telegrafs lassen sich die Börsenkurse bereits 1857 nahezu in Echtzeit um den Globus jagen. 150 Jahre später werden HistorikerInnen den Telegraf als viktorianisches Internet bezeichnen.

Ende August 1857 spitzt sich die Situation zu. Britische Banken und Kaufleute ziehen ihr Geld aus den USA ab. Geldinstitute in ganz Nordamerika erhöhen die Zinsen für Schuldscheine, immer mehr WertpapierbesitzerInnen verramschen ihre Aktien, etablierte Anleihen verlieren innerhalb weniger Stunden ihren Wert. In den Häfen Nord-amerikas lagern Millionen Tonnen Importware. Mangels Kaufkraft können sie nicht abgestossen werden. Bis Mitte September verringern sich die Goldreserven der US-Banken drastisch.

Anfang September sticht die «SS Central America» in Panama in See. Der neunzig Meter lange Schaufelraddampfer hat eine riesige Goldladung - rund drei Tonnen im Wert von damals geschätzten 150 Millionen US-Dollar - an Bord. Das Gold soll als Sicherheitsreserve an die Ostküste gebracht werden - eine Notfallmassnahme der New Yorker Banken. Doch am 12. September 1857 wird das Dampfschiff von einem Hurrikan erfasst, gut 300 Kilometer vor der Küste von South Carolina sinkt es. 425 Menschen sterben, der Goldschatz liegt 2500 Meter unter dem Meeresspiegel, bis zu seiner spektakulären Bergung im Jahre 1987. Die Nachricht von der Schiffskatastrophe löst in New York eine weitere Schockwelle aus: Finanzins-titute können kein Gold mehr auszahlen, die Aktienkurse brechen noch mehr ein, die Hälfte aller New Yorker Broker-Innen wird arbeitslos.

Im Oktober schliesslich erreicht die Hysterie ihren Höhepunkt, nachdem auch Banken in Philadelphia und anderen Grossstädten Nordamerikas kein Gold mehr herausrücken. Wenige Tage nach dem Bankensturm von New York schreibt Karl Marx, der London-Korres-pondent der «New York Tribune», in einem Brief an Friedrich Engels: «Die amerikanische Krise - von uns in der Novemberrevue 1850 vorhergesagt - ist beautiful. Der Rückschlag auf die französische Industrie war immediate, da die Seidenwaren jetzt wohlfeiler in New York verklopft als in Lyon produziert werden.» Und: «Die Glasgower haben viel auf Consignation verschickt.» Auf Pump.

Die Krise schwappt über

In der Tat hat die Krise längst auch Europa ergriffen: Mitte Oktober gehen mehrere Traditionsbanken in Glasgow in Konkurs. Es kommt zu Tumulten, der Bürgermeister lässt mit Bajonetten für Ruhe sorgen. Die Bank of England springt ein und überweist Gelder nach Schottland. Auch in Manchester und weiteren Grossstädten stürzen die Preise. UnternehmerInnen überlegen, ihre Fabriken zu schliessen.

Doch so sehr der Telegraf den Daten- und Kapitalverkehr beschleunigt hat: Das Netzwerk bleibt anfangs auf einige Auserwählte beschränkt. Die neue Technologie übermittelt die Informationen ausschliesslich an Banken und Börsenhäuser. Erst die Erfindung des Börsentickers wird die aktuellen Aktienkurse einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. 1867 - zehn Jahre nach der ers-ten Weltwirtschaftkrise - geht in New York der erste Ticker ans Netz.

Auf einem schmalen Band druckt er die aktuellen Börsenkurse während der gesamten Handelszeit mit Hilfe zweier Walzen automatisch aus. Reiche Spekulanten schaffen sich bald eigene Em-pfangsgeräte an. Ende des 19. Jahrhunderts werden bereits mehr als die Hälfte aller telegrafisch übermittelten Botschaften aus dem Bereich der Börse stammen. Manche SpekulantInnen glauben, allein aufgrund des Tickergeräuschs die Situation auf dem Markt einschätzen zu können.

Als am 9. November 1857 schliesslich die Western Bank of Scotland - die grösste Bank des Landes mit 98 Filialen - ihre Zahlungen einstellen muss, werden auch in Britannien die Geldinstitute gestürmt. Die Leute wollen sich ihre Ersparnisse in Gold ausbezahlen lassen. Zahlreiche britische Handelshäuser und Banken gehen Pleite.

Friedrich Engels wartet in Manchester auf einen politischen Umsturz. «Vorderhand ist noch nicht viel Revolutionäres zu merken», schreibt er an Karl Marx: «Die Arbeitslosen in den Strassen betteln und bummeln bis jetzt noch.»

Unterdessen hat die Krise Norddeutschland erreicht: In Hamburg schlägt sie wie eine Bombe ein. Bereits während des Krimkriegs (1853 - 1856) haben die Hamburger Banken skandinavischen Handelsunternehmen, die Waren nach Russland schmuggelten, grosszügige Kredite gewährt. Die Schweden wiederum spekulieren mit dem Geld in Industrie und Bergbau. Jetzt platzen die Spekulationsblasen. Schweden, Norwegen und Dänemark werden zahlungsunfähig.

Auch die Politik kann die Krise nicht stoppen. Anfang Dezember gehen reihenweise weitere Unternehmen in Konkurs. Zehn der zwölf mit Skandinavien in Kontakt stehenden Handelsgesellschaften sind bankrott. In den Lagerhäusern des Hamburger Hafens liegen Waren im Wert von rund 500 Millionen Mark - auf Rechnung der zahlungsunfähigen Kaufleute.

Niemand hilft

Die Regierung fleht Grosskapitalisten wie Rothschild, Baring, Hambros und Fould um Hilfe an. Keiner ist bereit, das Risiko auf sich zu nehmen. «So komplett und klassisch», schreibt Engels am 7. Dezember 1857 an Marx, »ist noch nie eine Panic gewesen wie jetzt in Hamburg». Der Zeitpunkt für einen politischen Umsturz scheint günstig: Mittlerweile sind fast alle Banken der Hansestadt von Konkurs bedroht. Im Hafen werden Handelsschiffe schon gar nicht mehr ausgeladen. Denn es ist kein Geld da, um Waren und Arbeit zu bezahlen.

Im Winter 1957 sind auch Holland, Frankreich, Belgien, die Schweiz, Öster-reich, Russland und Polen von der Krise betroffen. Die Weltwirtschaft gerät ins Wanken. Auch Südamerika wird schliesslich vom Teufelskreis erfasst: Mehrere grosse Exportfirmen in Valparaiso (Chile) müssen ihre Zahlungen einstellen, innerhalb weniger Wochen auch zahlreiche Importeure. Im Dezember 1857 sind die Preise für viele Kolo-nialprodukte in den Erzeugerländern um über fünfzig Prozent gefallen. Es kommt zu Kreditschwierigkeiten und Bargeldmangel. Auch an zahlreichen anderen südamerikanischen Handelsplätzen gehen immer mehr Unternehmen bank-rott: Montevideo, Buenos Aires, Rio, Bahia, Guayaquil. Sogar aus Haiti, Java und Indien treffen inzwischen Schreckensmeldungen in New York ein. «Die Krisis», kommentierte der Frankfurter «Aktionär» am 18. Oktober 1857, «ist eine Weltfrage geworden. Der Welthandel wird von den Wechselwirkungen regiert; wenn die Elemente ihrer Ausgleichung fehlen, dann tritt eine Stockung ein, die sich von Land zu Land, von Weltteil zu Weltteil verpflanzt und den ganzen Organismus des Verkehrs erfasst. In dieser Situation befinden wir uns jetzt.»

Allein in Nordamerika gehen 5000 Unternehmen in Konkurs. Doch entgegen den Erwartungen von Marx und Engels führt die Weltwirtschaftskrise von 1857 weder in den USA, noch in Europa oder Südamerika zu einer Revolution: Mitte Dezember 1857, nach einer Pause von nur 59 Tagen, öffnen die meis-ten New Yorker Banken wieder ihre Schalter - als sei nichts geschehen. Das kindliche Vertrauen der Menschen in Fortschritt und Kapitalismus ist nicht nur in den USA bald wiederhergestellt. Es hält bis 1873. Bis zum nächsten grossen Crash.