Baumwollernte in Usbekistan: «Unser Brot, unser Gold, Ehre und Pflicht»

Nr. 45 –

Bei der Baumwollernte in Usbekistan werden jedes Jahr Millionen Menschen zur Arbeit gezwungen. Früher waren es Schulkinder, jetzt sind es Lehrerinnen, Ärzte und Krankenschwestern.

In Usbekistan ist es gefährlich, über Baumwolle zu sprechen. Vor allem, wenn man wie Umida Tschirikowa* der Meinung ist, dass die ErntehelferInnen zur Arbeit gezwungen werden. Sie redet nicht mehr öffentlich darüber, weil sie Angst hat. Der Geheimdienst ist hinter ihr her.

Buchara, eine Oasenstadt in der Wüste Kisilkum an der alten Seidenstrasse. Die Nachmittagssonne lässt die Backsteine der jahrhundertealten Kuppeln und Minarette golden schimmern. Es duftet nach Sommer, Gewürzen und frisch gebackenem Brot. Umida Tschirikowa sitzt mit gekreuzten Beinen im Schatten eines Maulbeerbaums auf dem Hauptplatz Labi-Hauz. Sie trägt ein T-Shirt mit einer englischen Aufschrift: «Ich habe es satt, von Luft zu leben.» Vor dem Gespräch hat sie die SIM-Karte aus ihrem Handy genommen, ihr Telefon wird abgehört, sagt sie.

Noch im vergangenen Jahr ist die Bürgerrechtlerin und Journalistin Tschirikowa auf die usbekischen Baumwollfelder gegangen. Sie hat fotografiert und darüber geschrieben. Der Regierung in Taschkent gefiel das nicht. «Ich wurde verhaftet, verhört, geschlagen.» Jetzt wird wieder Baumwolle geerntet in Usbekistan. Doch Umida Tschirikowa hat genug vom Adrenalin, das sie früher so liebte. Sie arbeitet nun an etwa drei Abenden in der Woche als Ansagerin bei Hochzeitsfeiern. «Ich darf die Braut vorstellen, den Bräutigam, das Kind, den Hund.» Sie lacht zaghaft über den versuchten Witz. Als Tschirikowa kurz danach aufsteht und geht, folgen ihr zwei Männer in dunklen Lederjacken. Zwei andere folgen uns. Die Schatten bleiben einige Tage lang, bevor sie offenbar die Spur verlieren. Wenn UsbekInnen mit BesucherInnen über Baumwolle reden, dann machen sie sich den Staat zum Feind.

Zwei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion ist Usbekistan ein staubiges, in Furcht erstarrtes Land. Präsident Islam Karimow regiert seit 21 Jahren mit harter Hand. Der Aralsee vertrocknet, die grössten Geldscheine sind nur noch ein paar Rappen wert, und selbst in der Hauptstadt Taschkent fällt beinahe täglich der Strom aus. Es gibt zwei Dinge, die dieses siechende Land am Leben halten. Eines findet sich unter der Erde – Erdgas. Das andere wächst, wo immer die Leitungen zur künstlichen Bewässerung hinreichen – Baumwolle. Zwei Drittel der landwirtschaftlichen Fläche werden zu deren Anbau genutzt. Usbekistans Wappen umkränzt rechts ein Getreidebündel, links Baumwolle.

Usbekistan gehört neben den USA und Indien zu den Top drei der Baumwollexportstaaten weltweit. Für diesen Spitzenplatz zwang der Staat viele Jahre lang Schulkinder auf die Felder. Bis zu zwei Millionen Kinder ab neun Jahren wurden jeden Herbst statt in die Klassenzimmer auf die Felder geschickt. In diesem Jahr ist erstmals alles anders. Oppositionelle Journalisten und Bürgerrechtlerinnen wundern sich, aber sie sind sich einig: Es gibt in diesem Jahr – von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen – keine Kinderarbeit auf usbekischen Baumwollfeldern. Mitte Oktober zog Präsident Karimow ein vorzeitiges Fazit der diesjährigen Ernte, seine Rede war von Pathos getränkt. 3,35 Millionen Tonnen Rohbaumwolle sind bereits von den Feldern. Ein «Sieg der Arbeit», eine «Übererfüllung des Fünfjahresplans». Aber wer hat die Millionen Tonnen gepflückt, wenn es nicht Kinder waren?

Ein Baumwollfeld in der Nähe der Provinzhauptstadt Dschizak, etwa 200 Kilometer südwestlich von Taschkent. Die braune Landschaft hat alle anderen Farben verschluckt, am Horizont falten sich die Hügelketten des Nurota-Gebirges. Die Baumwolle hängt an hüfthohen Sträuchern, in Fetzen, durchsichtig, als könne sie der warme Steppenwind jeden Moment fortwehen. Auf diesem Feld schuftet die Hälfte des Kollektivs der 8. Sekundarschule von Dschizak.

Da ist zum Beispiel Oyser, ein Sportlehrer und ein Held auf dem Feld, seit er Anfang des Herbsts einmal hundert Kilogramm Baumwolle an einem Tag sammelte. Die Norm liegt bei fünfzig. Da ist Buchron, der Lehrer für Arbeitskunde. Normalerweise erklärt er den SchülerInnen, wie Pflugscharen funktionieren und wie ein Haus gebaut wird. Jetzt zeigt er, wie man den Leinensack, in dem die Baumwolle gesammelt wird, tief um die Hüfte schlingt, damit am Ende des Tages der Rücken nicht allzu sehr schmerzt. Und da ist Gulasal, die Horterzieherin. Sie bringt den Frauen ihrer Arbeitsgruppe Melonenstücke zur Erfrischung. Gulasal singt gern russische Kinderlieder, und ihr strahlendes rundes Gesicht lässt keinen Platz für Zweifel, als sie sagt: «Jeder von uns ist freiwillig hier. Die Ernte ist Ehre und Pflicht.»

Am Rande des Feldes geht ein Mann im Trainingsanzug auf und ab. Es ist der Schuldirektor. Erst später am Tag erzählen ein paar der ErntehelferInnen, dass es in der Nacht zuvor noch eine Versammlung gegeben hat. Die Kreisverwaltung ist unzufrieden, also ist jetzt auch der Direktor unzufrieden. Das Kollektiv erfüllt die Norm nicht. Wer nicht härter arbeitet, hat er gedroht, wird entlassen.

Ein Wort erklärt alles

So wie in Dschizak ist es in diesem Herbst überall in Usbekistan. Wer auch immer im Staatsdienst arbeitet, kann zum Dienst auf dem Feld herangezogen werden: Lehrer, Ärztinnen, Krankenschwestern, Postboten, Arbeiterinnen des Wasserwerks. Sie arbeiten in Schichten von zehn oder fünfzehn Tagen und gehören zeitweise einer Berufsgruppe an, die schon das sowjetische Fernsehen zu Erntezeiten allabendlich mit einem Lied hochleben liess: «Tausendmal lebt hoch,ihr Baumwollpflücker, lebt hoch, ihr Arbeiter des Goldes.» Unterdessen sind die Schulen unterbesetzt und die Krankenhäuser geschlossen.

In Dschizak herrscht im Herbst Ausnahmezustand. Die weiterführenden Schulen stehen leer. Eltern, die mit ihrem kranken Kind die Kinderklinik aufsuchen, werden an das allgemeine Krankenhaus verwiesen. Die Spezialistinnen sind auf dem Feld. Chirurgen organisieren postoperative Behandlungen am Telefon. An manchen geschlossenen Polikliniken der Umgebung klebt ein Zettel an den Fensterscheiben, auf dem nur ein Wort steht: «Baumwolle». Die örtlichen Basare öffnen erst ab 17 Uhr, dann kehren die ersten Obst- und GemüsehändlerInnen vom Feld zurück.

In Dschizak blockiert die Polizei tagsüber die Hauptverkehrswege, indem sie alte Ladas quer auf die Strassen stellt. Niemand soll sich in der Stadt frei bewegen können, solange noch ein Fetzen «weisses Gold» auf den Feldern ist. «Manchmal fängt die Polizei einfach Leute auf der Strasse ab, bringt sie aufs Feld und zwingt sie, zehn Kilogramm zu pflücken», berichtet ein örtlicher Aktivist.

Ende September sorgte die Taschkenter Bürgerrechtlerin Jelena Urlajewa für Schlagzeilen, als sie dafür eintrat, dass ihr Sohn Mohammed, ein Grundschüler, wieder unterrichtet wird. Urlajewa hatte ihren Sohn an der Schule unbeaufsichtigt angetroffen, niemand wusste, ob an diesem Tag noch Unterricht stattfinden würde, die Klassenlehrerin war im Ernteeinsatz. Urlajewa drohte, mit einer Gruppe von Eltern zum Präsidentenpalast zu marschieren. Am nächsten Morgen stand die Lehrerin wieder vor ihrer Klasse.

In Dschizak gibt es niemanden, der sich mit so viel Verve für die LehrerInnen einsetzt. Die treffen sich jeden Morgen gegen halb sechs am pädagogischen Institut der Stadt, dunkle Gestalten in der Morgendämmerung. Schwärme von Krähen künden die nahende kalte Jahreszeit an. Nur die Scheinwerfer Dutzender Kleinbusse durchstreifen die Szene. Mit ihnen werden die LehrerInnen zur Arbeit gefahren. An den Windschutzscheiben klebt wieder dieser Zettel, der alles erklären soll: «Baumwolle 2012».

Mit beiden Füssen trampelt Buchron auf seinen Sammelbeutel ein, er schafft Platz für noch mehr Baumwolle. Der Arbeitskundelehrer ist ein magerer Mann mit einer Reihe Goldzähnen, die blitzen, wenn er lächelt. Und er lächelt oft. Manchmal sieht es so aus, als stütze der volle Beutel den kleinen Mann anstatt umgekehrt. Was Buchron an diesem Tag sammelt, ist nur noch Baumwolle der dritten oder vierten Sorte, minderwertige Qualität. Zwei Tage zuvor hat es geregnet, zum ersten Mal seit April. Der Baumwolle hat das nicht gutgetan. Und trotzdem bückt sich Buchron ohne Pause. Bückt sich, steht auf, bückt sich, steht wieder auf. Jedes Mal die Hand voller weisser Flocken. 200 Sum, umgerechnet knapp zehn Rappen, erhält er pro Kilogramm. Er muss das Mittagessen bezahlen und seine Fahrt im Bus, der die Truppe aufs Feld gefahren hat. Am Ende des Tages hat er etwa 3.60 Franken verdient.

Viele seiner KollegInnen schlingen sich Tücher um Kopf und Gesicht und tragen dicke Wollhandschuhe. Sie schützen sich so vor der Sonne, die grell vom Himmel brennt, vor den spitzen Zweigen der Sträucher, die piksen und kratzen, und vor den Herbiziden, mit denen das Feld aus der Luft besprüht wurde, damit die Blätter von den Pflanzen fallen. Buchron braucht keinen Schutz. Natürlich sei die Chemikalie gefährlich, sagt er. «Aber das hier ist Baumwolle, unser Brot, unser Gold.» Und dann lacht er wieder.

Das Lachen ist ihnen zur Gewohnheit geworden. «Wer unterrichtet die Kinder in Ihrer Schule, während Sie, die LehrerInnen, auf dem Feld sind?», fragen wir Buchron, Oyser und Gulasal. «Die Alten machen das», sagt Buchron. «Die Kranken», ruft Oyser herüber. «Es ist unsere Pflicht.» Das war die fröhliche Stimme von Gulasal. Sie ist nicht zu sehen, die trockenen Sträucher verdecken ihren Körper, als sie sich wieder nach der Baumwolle bückt.

Geheime Geschäfte

Die Internationale Baumwollmesse in Taschkent gibt es seit acht Jahren, Präsident Karimow hat sie ins Leben gerufen. Eine normale Messe ist das allerdings nicht. Dutzende Polizisten verwandeln Mitte Oktober das Hotel Intercontinental und das Expo-Center, in denen die Messe stattfindet, in ein Hochsicherheitsgebiet. Zwei Taschen- und Passkontrollen sind notwendig, nur um zur Rezeption des Hotels vorzudringen. BesucherInnen der benachbarten Nationalbank werden von Polizisten bis zum Bankschalter und wieder zurück begleitet. Informationen zur Veranstaltung tröpfeln einzig über die staatliche Nachrichtenagentur nach aussen.

Diese vermeldet kurz nach Abschluss der Messe eine Rekordteilnahme, über tausend BesucherInnen aus 38 Ländern. Verträge zum Verkauf von 670 000 Tonnen Baumwollfasern seien geschlossen worden. Weitere Informationen? Fehlanzeige. Die Messeorganisatoren geben weder Auskunft darüber, welche Firmen gekauft haben, noch verraten sie, wer an der Messe teilgenommen hat und wie viel US-Dollar die usbekische Regierung für ein Kilogramm Baumwolle verlangt.

Der Staat ist in Usbekistan der übermächtige Akteur im Baumwollgeschäft. Auch wenn die sowjetischen Kolchosen inzwischen in Privatbetriebe umgewandelt wurden, so bleibt die Kontrolle über Boden und Produktion doch bei der Zentralregierung. Die BäuerInnen dürfen weder darüber bestimmen, was sie anbauen, noch an wen sie verkaufen. Die gesamte Baumwollernte wird zu einem willkürlich niedrig festgesetzten Preis vom Staat aufgekauft. Der schreibt den Gebietsverwaltungen Quoten vor, die diese dann mithilfe der öffentlich Angestellten zu erfüllen versuchen. KeineR dieser unfreien BäuerInnen kann es sich leisten, die zwangsbestellten Felder von ordentlichen Angestellten abernten zu lassen. Das wäre viel zu teuer. In Usbekistan gibt es nach internationalen Schätzungen 3,3 Millionen Arbeitslose. Aber bei der Ernte müssen Lehrerinnen, Ärzte und Krankenschwestern helfen. Sie bekommen ein paar Rappen pro Kilogramm Rohbaumwolle. Der Weltmarktpreis für Baumwollfasern liegt derzeit bei 1.92 Franken.

Drei Handelsunternehmen, die direkt dem usbekischen Aussenministerium unterstellt sind, bringen die Baumwolle auf den Weltmarkt. Über die Einnahmen aus dem Export – auch die Höhe dieser Summe wird geheim gehalten – verfügt der Präsident. Cotton Campaign, eine Vereinigung internationaler NGOs (darunter Human Rights Watch), die sich gegen die Zwangsarbeit in Usbekistan engagiert, vermutet, dass ein Teil des Geldes direkt auf das Konto Karimows und seiner höchsten Beamten fliesst.

Die Kamera in der Saftpackung

Um der Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern zu entgehen, gibt es nur eine Möglichkeit: Geld. Vor allem BewohnerInnen der Hauptstadt nutzen die Möglichkeit, sich freizukaufen. Eine Lehrerin, Mutter von zwei kleinen Kindern, bezahlte etwa 120 Franken an ihren Schuldirektor, um der Zehntagesschicht zu entgehen. Der Direktor kauft dafür bei der Dorfbevölkerung die entsprechende Menge Baumwolle. Ähnlich machen es jene auf dem Feld, die mit der ungewohnten Arbeit nicht zurechtkommen. Was ihnen an Gewicht zur Erfüllung der Norm fehlt, kaufen sie den DorfbewohnerInnen ab, die oft mehr als das festgesetzte Pensum schaffen. Sie leben von diesem Schattenhandel mit der Baumwolle.

Dmitrij Kossjakow vergleicht Usbekistan gern mit dem alten Griechenland. Nicht wegen der Demokratie, den Philosophen oder der Architektur. «Ein Sklavenhandel wie im antiken Griechenland ist das hier», sagt er. Und wie immer überschlägt sich seine laute Stimme, wenn er sich empört. Kossjakow ist Bürgerrechtler in Taschkent. Er gehört zu jener Gruppe, die Informationen über die Zustände auf den usbekischen Feldern ausser Landes schaffen. Es sind EinzelkämpferInnen, oft zerrieben unter dem ständigen Druck der Sicherheitsbehörden. Kossjakow lacht höhnisch, als er erzählt, dass er zuletzt zu rund 1500 Franken Geldstrafe verurteilt wurde, weil er eine Demonstration vom Strassenrand aus verfolgt hatte. Dann wieder senkt er die Stimme im eigenen Wohnzimmer aus Furcht vor Richtmikrofonen. Dmitrij Kossjakow sitzt nicht gern, und wenn er steht, dann steht er nie still.

Eigentlich ist Kossjakow (52) Flugzeugingenieur. Vor sieben Jahren wurde ihm gekündigt, weil er sich bei der Stadtverwaltung über seinen korrupten Chef beschwerte. Seither repariert er ab und zu Autos. Einen richtigen Job findet er nicht mehr. Er sagt, jedes Mal, wenn eine Firma ihn nehmen wolle, funke der Geheimdienst dazwischen und untersage die Anstellung. «Sie machen einen nicht immer mit physischer Gewalt und Gefängnis fertig. Sie sorgen dafür, dass du keine Arbeit und kein Geld hast, und drücken dich so zu Boden.»

Kossjakow setzt seine Fähigkeiten nun anders ein. Er hat eine Saftpackung so umgebastelt, dass er darin eine Videokamera verstecken und damit unauffällig Filme aufnehmen kann. Im Beiwagen des Motorrads seines Freunds Sergej fährt er los und filmt, was ihm auf den Baumwollfeldern vor die Linse kommt. Die Festplatte seines Computers ist voll von verwackelten Videos und unscharfen Bildern. Aber es sind diese Bilder, die weltweit von NGOs veröffentlicht werden. Dmitrij Kossjakows Stimme klingt zum ersten Mal ruhig, als er sagt: «Vielleicht war es tatsächlich mit unser Verdienst, dass es in diesem Jahr keine Kinder mehr auf den Baumwollfeldern gibt.»

«Aber», und schon überschlägt sich Kossjakows Stimme wieder, «unser Kampf wird weitergehen, solange es die Zwangsarbeit auf den Feldern gibt.» Dann zeigt Dmitrij Kossjakow auf den jungen Mann, der im Sessel in seinem Wohnzimmer Platz genommen hat. «Solche Geschichten wie die von Abdulkosim wollen wir verhindern.»

Abdulkosim Latipow ist schon seit einigen Wochen wieder zu Hause in Taschkent. Doch die Baumwollernte ist noch immer allgegenwärtig. Latipows Hände sind rau und aufgeplatzt vom Kontakt mit den Herbiziden, die Haut will nicht heilen. Er ist vor wenigen Tagen aus dem Krankenhaus entlassen worden. Dort wurde er wegen einer hartnäckigen Bronchitis behandelt. Den Husten hat sich der Physiotherapeut Latipow geholt, als er zwei Wochen lang in einem geräumten Kindergarten irgendwo in der usbekischen Provinz auf dem kalten Fussboden übernachten musste. Es war sein erster Einsatz bei der Ernte überhaupt, die am 2. September begann, einen Tag nach den Feierlichkeiten zur usbekischen Unabhängigkeit.

Vor ein paar Monaten hat Latipow, er ist Anfang zwanzig, seinen Abschluss an der Hochschule gemacht. Als die Direktion des Krankenhauses, in dem er arbeitet, die Order bekam, zehn Prozent der Belegschaft für die Ernte abzustellen, war es nie eine Frage, dass Latipow gehen würde. Der Chefarzt sagte, wenn er nicht fahre, schmeisse er ihn raus. Latipow ist jung, jünger als die anderen Physiotherapeuten in seiner Abteilung. Er dachte, er würde es schaffen.

«Warst du im Konzentrationslager?»

Er schaffte es nicht. Zum Frühstück gab es heisses Wasser und einen Kanten Brot. Das erzählt Latipow drei Mal. Dank seiner medizinischen Kenntnisse weiss er sehr gut, wie wichtig ein gutes Frühstück für jene ist, die hart arbeiten sollen. Auch Wasser zum Waschen gab es nicht. Zunächst befand sich der Arbeitsplatz noch neben dem Kindergarten, später musste die Truppe um 4 Uhr morgens aufstehen und zehn Kilometer zum nächsten Baumwollfeld laufen. Sie pflückten bei vierzig Grad in der Sonne. Sie ekelten sich vor dem schmutzigen Brunnenwasser, das in Tanks am Feldrand stand. Irgendwann war es ihnen dann egal, und sie tranken das Wasser. Abdulkosim Latipow schaffte einmal 37 Kilogramm Baumwolle am Tag. Als der Husten anfing, waren es nur noch 15 Kilo. Keiner aus Latipows Gruppe wurde bezahlt, sagt er. Und als er endlich nach Taschkent zurückkehrte, schlug seine Mutter die Hände vor dem Gesicht zusammen und sagte: «Wo warst du denn? Im Konzentrationslager?»

Wenn man Abdulkosim Latipow von den LehrerInnen in Dschizak erzählt, die von «Pflicht und Ehre» in der Baumwollernte sprechen, dann lächelt er schüchtern. «Das sind vielleicht Patrioten, aber ich glaube nicht, dass auch nur ein Einziger diese Arbeit gern macht.» Latipow zuckt mit den Schultern. Mehr fällt ihm dazu nicht mehr ein. Wie die LehrerInnen in Dschizak weiss auch er schon ganz genau, was er im nächsten Herbst tun wird. Baumwolle ernten.

* Aus Sicherheitsgründen wurden alle Namen – bis auf 
den der Bürgerrechtlerin Jelena Urlajewa – geändert.

Der Weg der Baumwolle : Auch eine Schweizer Firma ist involviert

Die Baumwolle, die in Usbekistan unter Zwangsarbeit geerntet wird, gelangt auf zwei Wegen nach Europa: Sie nimmt den Umweg über Textilfirmen in Ostasien, oder sie wird direkt von europäischen BaumwollhändlerInnen eingekauft.

Zu den grössten AbnehmerInnen usbekischer Baumwolle gehören Bangladesch, China, Russland, Südkorea und Indien. In diesen Ländern betreiben viele europäische und US-amerikanische Textilfirmen ihre Nähereien. Zwar wächst seit Jahren die Zahl der Firmen, die Baumwolle aus Usbekistan offiziell boykottieren. Zu den über achtzig UnterzeichnerInnen des Boykottaufrufs gehören unter anderem Tesco, H & M, Adidas, C & A, Walmart, Levi Strauss, Marks & Spencers und Gucci. Doch praktische Konsequenzen ergeben sich daraus kaum. Denn schon die Zulieferfirmen der Textilunternehmen haben Zulieferer. Die Baumwollfasern gehen von der Spinnerei in die Weberei und dann in die Näherei. Bis an den Anfang dieser Kette reicht der Einfluss der internationalen Firmen nicht.

Zudem gelangt usbekische Baumwolle auch direkt nach Europa. Für diesen Handel gelten die Ausnahmezollsätze der Welthandelsorganisation, mit denen die wirtschaftliche Entwicklung in ökonomisch unterentwickelten Ländern gefördert werden soll. Die Initiative Cotton Campaign listet als aktivste HandelspartnerInnen neben der Daewoo International Corporation in Südkorea auch die Paul Reinhart AG (Schweiz) und die Otto Stadtlander GmbH (Deutschland) auf. Der staatliche usbekische Baumwollexporteur Uzprommashimpeks nennt auf seiner Website die Reinhart AG mit Sitz in Winterthur als festen Handelspartner.

Ende 2010 hat das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Deutschland, Frankreich, Britannien und der Schweiz bei den nationalen Kontaktstellen der Organisation für Ökonomische Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) insgesamt sieben Beschwerden gegen die Textilfirmen eingelegt. Ihnen wurde vorgeworfen, aus Zwangs- und Kinderarbeit in Usbekistan Profit zu schlagen. Die AdressatInnen in der Schweiz waren die Paul Reinhart AG und die Genfer Niederlassung der Louis Dreyfus Commodities. Die von der OECD eingesetzten Mediationsverhandlungen wurden im Frühjahr dieses Jahres abgeschlossen. Laut Abschlussbericht haben die Unternehmen zugesagt, Schritte zur Verbesserung der Situation zu unternehmen. Wie das konkret aussehen soll, ist nicht vermerkt.

Laut Angaben der Paul Reinhart AG nimmt das Handelsvolumen des Unternehmens mit Usbekistan ab und bewegt sich derzeit, gemessen am Gesamtumsatz, im «tiefen einstelligen Prozentbereich». Geschäftsführer Jürg Reinhart sagte auf Anfrage: «Unserer Meinung nach ist für weitere Veränderungen wichtig, dass den Baumwollpflückern vom Staat ein in der Region üblicher Lohn bezahlt wird. Dieses Anliegen diskutieren wir, wann immer sich eine Chance ergibt, auch in Usbekistan mit den staatlichen Stellen selbst.»

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